Eines Tages tauchen Hunde in der Stadt auf. Sie bedrohen die Frau des Färbers Wu auf dem Heimweg, erwürgen die Schafe und beißen ein Kind tot. Ihre vom Mondlicht vergrößerten, unheimlichen Schatten huschen des Nachts durch die Straßen, als hätten Dämonen die Stadt besetzt. Im Tempelgarten und auf dem Seidenmarkt kämpfen die Menschen mit den Hunden, doch sie sind wehrlos - die Ordnung ihrer Welt zerfällt. Da hört jemand von den Hundejägern von Loyang, man versucht, sie ausfindig zu machen. Alle Hoffnung, alles Warten richtet sich auf sie, doch niemand verirrt sich in die verwahrloste Stadt.
Die Katastrophen und Wunder, die sich in Darvasis imaginärem China ereignen, irritieren durch ihre seltsame Vertrautheit - nicht nur, weil die Hundejäger Verwandte der Tränengaukler sind, die in Mitteleuropa über Glück und Unglück wachen. Seine Geschichten von Bücherverbrennungen und gigantomanischer Bautätigkeit, von verbannten Blumen und mongolischen Totenwürmern, von Kaisern und Traumhütern sind in jene Vergangenheit entrückt, als der Bau der Chinesischen Mauer noch unvollet war.
Doch nicht in der gleichnishaften Wiederholung des Bekannten, sondern in dessen Verfremdung und Verrätselung entfalten diese Märchen über die Zeiten totalitärer Herrschaft ihren unwiderstehlichen Zauber. Je häufiger man sie liest, desto tiefer gerät man in ein Labyrinth aus Bildern und Gedanken, und in den kürzesten Texten von oft nur wenigen Zeilen entfaltet sich der unverwechselbare Darvasi-Sound am schönsten.
Die Katastrophen und Wunder, die sich in Darvasis imaginärem China ereignen, irritieren durch ihre seltsame Vertrautheit - nicht nur, weil die Hundejäger Verwandte der Tränengaukler sind, die in Mitteleuropa über Glück und Unglück wachen. Seine Geschichten von Bücherverbrennungen und gigantomanischer Bautätigkeit, von verbannten Blumen und mongolischen Totenwürmern, von Kaisern und Traumhütern sind in jene Vergangenheit entrückt, als der Bau der Chinesischen Mauer noch unvollet war.
Doch nicht in der gleichnishaften Wiederholung des Bekannten, sondern in dessen Verfremdung und Verrätselung entfalten diese Märchen über die Zeiten totalitärer Herrschaft ihren unwiderstehlichen Zauber. Je häufiger man sie liest, desto tiefer gerät man in ein Labyrinth aus Bildern und Gedanken, und in den kürzesten Texten von oft nur wenigen Zeilen entfaltet sich der unverwechselbare Darvasi-Sound am schönsten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2003Begleitmusik
zur Maßlosigkeit
László Darvasis Erzählungsband
„Die Hundejäger von Loyang”
Wo die Wünsche des Kaisers in den Himmel wachsen, gelten Körper als lästiger irdischer Ballast. Der Dichter, dessen Verse auf Wunsch des Kaisers die Kunst des Drachentötens rühmen, wird nach den Regeln dieser Kunst ermordet. Die Statthalter, die im Hirschen, dem Geschenk des Eunuchen für den Kaiser, nicht wie gewünscht ein Pferdchen sehen, bezahlen dafür mit dem Leben. Und wer dem kaiserlichen Affen keinen Respekt zollt, den hängt man nackt an einen blühenden Pfirsichbaum und bestreicht ihn mit einem Bienenbalsam, der die fleißigen Insekten völlig verrückt macht. Die reichlich rollenden Köpfe in László Darvasis faszinierendem Erzählungsband „Die Hundejäger von Loyang” liefern die knöcherne Begleitmusik zur Maßlosigkeit der Wünsche.
In den „Chinesischen Geschichten” spielt die Kunst eine große Rolle – doch sie ist Büttel und der Künstler ein willfähriger, letztendlich verzichtbarer Helfershelfer. Größer könnte der Unterschied zu Marguerite Yourcenars „Wie Wang-Fu errettet wurde” in den „Orientalischen Erzählungen” (1963) nicht sein. In der Parabel rettet sich der Maler Wang-Fu aus den Fängen des Kaisers, indem er das Fluchtboot malt. Die Kunst behauptet sich als autonome Sphäre gegenüber der Macht, freilich um den Preis, die Wirklichkeit zu mortifizieren.
Das China des 1962 geborenen László Darvasi ist nicht weniger fiktiv, jedoch sehr viel unübersichtlicher. Seine „Chinesischen Geschichten” erzählen vom Streben nach totaler Herrschaft über Zeit und Raum: Der Kaiser wünscht sich ein Elixier des ewigen Lebens, die Kaiserin befiehlt, dass mitten im klirrenden Winter für einen Tag der Frühling einkehrt, ein Fürst will nicht glauben, dass sich ein „Versteckkünstler” in seinem Lieblingspark unauffindbar verbergen kann. Sie alle scheitern, weil in der vertrauten Wirklichkeit unerwartet das Imaginäre sein Haupt erhebt. Es ist unverfügbar und entfremdet den Fürsten im Nu seinem Park, als der Versteckkünstler in ihm spurlos verschwunden bleibt.
Auf nur wenigen Seiten und mit Lust am Suspense erzählt Darvasi von allerlei Schiffbrüchen eines einfachen Wirklichkeitsbegriffs. Jede Figur ist typisiert, die Szenerie bündig umrissen, das psychologische Motiv fehlt. Die Worte fallen knapp wie Tuschestriche. Der Archaisierung treten phantastische Elemente zur Seite: Ein Diener ernährt den hungernden Kaiser mit Fleisch aus seiner Wade; ein geflügelter Himmelshund hat das Fliegen verlernt und muss an Luftballons gebunden werden, die mit Träumen gefüllt sind; der Blick des besten Liebhabers vermag, Pfützen zu erwärmen. Solche Details beleben die Geschichten und lockern ihr stets spürbares Konzept.
Die Straße, die es nicht gibt
Die phantastische Archaisierung hat der Ungar zuvor in seiner Heimat erprobt. „Das traurigste Orchester der Welt” (1995), Darvasis erster ins Deutsche übersetzte Erzählungsband, erzählt von einem postsozialistischen Ungarn voller Armut, Trostlosigkeit und Vergeblichkeit, in dem wie in alten Zeiten Wegelagerer junge Mädchen als Tribut aus dem Überlandbus tragen und der Steinbruch in regelmäßigen Abständen Menschenopfer fordert. Der dann folgende grandiose Roman „Die Legende von den Tränengauklern” (2001) über das von Türken und Söldnern verwüstete Ungarn des 16. und 17. Jahrhunderts, wo sich aus dem allfälligen Wehgeschrei „Eiszapfen bilden”, ist ein Panorama des gewöhnlichen und des phantastischen Schreckens. Möglicherweise unter dem Eindruck der Jugoslawienkriege breitet Darvasi mit überbordender Phantasie eine Anthologie seltsamer Todesarten mitsamt diskreter Henker aus, deren Opfer „erst nach Tagen bemerken, dass sie nicht mehr leben”.
„Die Tsin-Akademie” heißt der zweite Teil des Erzählungsbandes. Er präsentiert in kürzeren, zuweilen an Denkstücke der Zwanziger Jahre erinnernden Erzählungen ein modern abgeklärtes Verhältnis zum Imaginären: Es erscheint nicht mehr unerwartet in einer Realität, sondern wird diskursiv eingehegt. Die Tsin-Akademie erforscht das Phänomen einer weißen Schotterstraße, die es zwar nicht gibt, von der jedoch manche glaubwürdig behaupten, sie hätten sie beschritten. Sie wissen weiße Steinchen vorzuzeigen und unterhalten sich mit jenen, die die Straße ebenfalls entlanggegangen sind, in einer unbekannten Sprache. Die Beschäftigung mit dem seltsamen Phänomen führt in das Archiv und die Bibliothek, und Darvasi zeigt in Anekdoten, Zeugenaussagen, Beamtenvermerken und Kommentaren ein postmodernes Vergnügen an Fragen der Metaphysik, der Verrätselung, der Subjektivität und der Archivierung.
Die Bibliothek der Akademie besitzt ein Buch, das noch niemand gelesen hat, obwohl es weder verboten noch versteckt ist: Man findet es einfach nicht. Was mag darin stehen, überlegen zwei Beamte in einander antwortenden schriftlichen Anmerkungen. In der letzten heißt es: „Es handelt von dem, der es sucht, und auch von dem, der niemals daran denkt.” Das imaginäre Buch handelt also von uns allen und von allem. Nicht anders als das Buch von László Darvasi, welches jedoch einen unbestreitbaren Vorteil hat: Es liegt vor. JÖRG PLATH
László Darvasi: Die Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 Seiten, 22,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
zur Maßlosigkeit
László Darvasis Erzählungsband
„Die Hundejäger von Loyang”
Wo die Wünsche des Kaisers in den Himmel wachsen, gelten Körper als lästiger irdischer Ballast. Der Dichter, dessen Verse auf Wunsch des Kaisers die Kunst des Drachentötens rühmen, wird nach den Regeln dieser Kunst ermordet. Die Statthalter, die im Hirschen, dem Geschenk des Eunuchen für den Kaiser, nicht wie gewünscht ein Pferdchen sehen, bezahlen dafür mit dem Leben. Und wer dem kaiserlichen Affen keinen Respekt zollt, den hängt man nackt an einen blühenden Pfirsichbaum und bestreicht ihn mit einem Bienenbalsam, der die fleißigen Insekten völlig verrückt macht. Die reichlich rollenden Köpfe in László Darvasis faszinierendem Erzählungsband „Die Hundejäger von Loyang” liefern die knöcherne Begleitmusik zur Maßlosigkeit der Wünsche.
In den „Chinesischen Geschichten” spielt die Kunst eine große Rolle – doch sie ist Büttel und der Künstler ein willfähriger, letztendlich verzichtbarer Helfershelfer. Größer könnte der Unterschied zu Marguerite Yourcenars „Wie Wang-Fu errettet wurde” in den „Orientalischen Erzählungen” (1963) nicht sein. In der Parabel rettet sich der Maler Wang-Fu aus den Fängen des Kaisers, indem er das Fluchtboot malt. Die Kunst behauptet sich als autonome Sphäre gegenüber der Macht, freilich um den Preis, die Wirklichkeit zu mortifizieren.
Das China des 1962 geborenen László Darvasi ist nicht weniger fiktiv, jedoch sehr viel unübersichtlicher. Seine „Chinesischen Geschichten” erzählen vom Streben nach totaler Herrschaft über Zeit und Raum: Der Kaiser wünscht sich ein Elixier des ewigen Lebens, die Kaiserin befiehlt, dass mitten im klirrenden Winter für einen Tag der Frühling einkehrt, ein Fürst will nicht glauben, dass sich ein „Versteckkünstler” in seinem Lieblingspark unauffindbar verbergen kann. Sie alle scheitern, weil in der vertrauten Wirklichkeit unerwartet das Imaginäre sein Haupt erhebt. Es ist unverfügbar und entfremdet den Fürsten im Nu seinem Park, als der Versteckkünstler in ihm spurlos verschwunden bleibt.
Auf nur wenigen Seiten und mit Lust am Suspense erzählt Darvasi von allerlei Schiffbrüchen eines einfachen Wirklichkeitsbegriffs. Jede Figur ist typisiert, die Szenerie bündig umrissen, das psychologische Motiv fehlt. Die Worte fallen knapp wie Tuschestriche. Der Archaisierung treten phantastische Elemente zur Seite: Ein Diener ernährt den hungernden Kaiser mit Fleisch aus seiner Wade; ein geflügelter Himmelshund hat das Fliegen verlernt und muss an Luftballons gebunden werden, die mit Träumen gefüllt sind; der Blick des besten Liebhabers vermag, Pfützen zu erwärmen. Solche Details beleben die Geschichten und lockern ihr stets spürbares Konzept.
Die Straße, die es nicht gibt
Die phantastische Archaisierung hat der Ungar zuvor in seiner Heimat erprobt. „Das traurigste Orchester der Welt” (1995), Darvasis erster ins Deutsche übersetzte Erzählungsband, erzählt von einem postsozialistischen Ungarn voller Armut, Trostlosigkeit und Vergeblichkeit, in dem wie in alten Zeiten Wegelagerer junge Mädchen als Tribut aus dem Überlandbus tragen und der Steinbruch in regelmäßigen Abständen Menschenopfer fordert. Der dann folgende grandiose Roman „Die Legende von den Tränengauklern” (2001) über das von Türken und Söldnern verwüstete Ungarn des 16. und 17. Jahrhunderts, wo sich aus dem allfälligen Wehgeschrei „Eiszapfen bilden”, ist ein Panorama des gewöhnlichen und des phantastischen Schreckens. Möglicherweise unter dem Eindruck der Jugoslawienkriege breitet Darvasi mit überbordender Phantasie eine Anthologie seltsamer Todesarten mitsamt diskreter Henker aus, deren Opfer „erst nach Tagen bemerken, dass sie nicht mehr leben”.
„Die Tsin-Akademie” heißt der zweite Teil des Erzählungsbandes. Er präsentiert in kürzeren, zuweilen an Denkstücke der Zwanziger Jahre erinnernden Erzählungen ein modern abgeklärtes Verhältnis zum Imaginären: Es erscheint nicht mehr unerwartet in einer Realität, sondern wird diskursiv eingehegt. Die Tsin-Akademie erforscht das Phänomen einer weißen Schotterstraße, die es zwar nicht gibt, von der jedoch manche glaubwürdig behaupten, sie hätten sie beschritten. Sie wissen weiße Steinchen vorzuzeigen und unterhalten sich mit jenen, die die Straße ebenfalls entlanggegangen sind, in einer unbekannten Sprache. Die Beschäftigung mit dem seltsamen Phänomen führt in das Archiv und die Bibliothek, und Darvasi zeigt in Anekdoten, Zeugenaussagen, Beamtenvermerken und Kommentaren ein postmodernes Vergnügen an Fragen der Metaphysik, der Verrätselung, der Subjektivität und der Archivierung.
Die Bibliothek der Akademie besitzt ein Buch, das noch niemand gelesen hat, obwohl es weder verboten noch versteckt ist: Man findet es einfach nicht. Was mag darin stehen, überlegen zwei Beamte in einander antwortenden schriftlichen Anmerkungen. In der letzten heißt es: „Es handelt von dem, der es sucht, und auch von dem, der niemals daran denkt.” Das imaginäre Buch handelt also von uns allen und von allem. Nicht anders als das Buch von László Darvasi, welches jedoch einen unbestreitbaren Vorteil hat: Es liegt vor. JÖRG PLATH
László Darvasi: Die Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 Seiten, 22,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2004Wer schlau ist, stellt sich dumm und schweigt
Wenn Grausamkeit sich mit Erfindungsreichtum paart, sind wir dem Wesen der Kunst nahe: László Darvasis Geschichten vom Krieg
Paris besorgte sich bei den Spartanern eine Frau, Helena. Cherchez la femme: So beginnen Kriege. Auch die makabren, schrecklich schönen "Kriegsgeschichten" des ungarischen Schriftstellers László Darvasi beginnen oft damit, daß Männer, vom Krieg entwurzelt, verkrüppelt und verroht, sich eine Frau - und es dann ihr - besorgen wollen. Es sind herumstreifende Marodeure und Bauern, Totengräber und Leichenfledderer, Schmuggler und Waffenhändler, blutrünstige Muttersöhnchen und verwirrte Romantiker, die ihre Bewegungen und Gedanken beobachten wie bei einem Feind und deren Credo sich in dem Satz "Ich scheiße auf jeden, der lebt und sich rührt" erschöpft.
Die Frauen, die den sechzehn Erzählungen die Titel geben, tragen so seltsame Namen wie Baba Franciska, Rosalia Fugger-Schmidt oder Vera Domitum. Es sind Kriegshuren, Marketenderinnen, Prothesenhändlerinnen, Nonnen und Hinrichtungsspezialistinnen; sie werden mit Deutschmark gekauft oder entführt, versklavt und vergewaltigt. Sie sind häßlich, verrückt und krank, von Narben und Zahnlücken entstellt. Aber es sind Engel, die, wie einst bei dem Kriegsgeschichtenerzähler Kleist, ihre Peiniger zu Tränen rühren - und ihre Minneritter damit vollends in Teufel verwandeln. Vom Krieg geschändet, der Soldateska schutzlos ausgeliefert, behalten sie, stumm, schlafend oder aufreizend demütig, in Schmutz und Erniedrigung eine unantastbare Schönheit, Souveränität und Unschuld. So wissen die Räuber am Ende selber nicht mehr, was sie ihren Kriegsbräuten antun sollen: lieben oder opfern, anbeten oder töten, den Hunden zum Fraß vorwerfen oder sich selber in ihr Fleisch verbeißen.
Es macht keinen Unterschied. Es gibt in diesem Krieg keine klaren Fronten zwischen Gut und Böse, Täter und Opfer, Liebe und Haß, nicht einmal zwischen Leben und Tod: Erde, Luft und Tiere beginnen zu sprechen, Vögel fallen tot vom Himmel, Steinfiguren werden lebendig, Tote stehen wieder auf. Für die Greuel des Krieges gibt es keine Rechtfertigung und keinen metaphysischen Trost: "Gott ist schwer krank, und diese Krankheit strahlt auch auf die von ihm erschaffene Welt aus." Ihren Verfall zu schildern übersteigt die Vernunft und jede Erzähllogik, und deshalb verstehen nicht einmal die Erzähler ihre Abenteuer der Liebe in Zeiten des Krieges. Sie schildern sie so lakonisch ungerührt und behaglich hermetisch, als säßen sie am Lagerfeuer, unter gleichgesinnten Träumern, die keinen Anstoß an ihren bizarren Exzessen, unlösbaren Rätseln und nekrophilen Monstrositäten nehmen.
Darvasi hat schon in seiner "Legende von den Tränengauklern" die Schauder der Schönheit im Angesicht des Todes beschworen: Wenn die Tränengaukler alte Legenden von Feen, Zwergen und Geistern nachspielten, wurde die Kriegserinnerung zur Volksbelustigung, die Schaubühne zum Blutgerüst; wer ihre grausamen Märchen nicht hören wollte, mußte fühlen und sterben. Damals benutzte Darvasi die Türkenkriege als historische Folie, um die Massaker in Bosnien und im Kosovo in unerhört poetische Bilder zu bannen. Jetzt hat er seine surrealen Parabeln in die "gegenwärtige Nachkriegszeit" heran- und zugleich in jene zeitlose Ferne entrückt, als der Mensch noch des Menschen Wolf war.
Seine Erzählungen spielen unzweifelhaft hier und heute, im Hinterland des ehemaligen Jugoslawien. Es ist zwar eine archaische, dunkle Welt, in der noch die Gesetze der Blutrache und feudal-patriarchalische Lehensverhältnisse herrschen und eine Frau weniger wert ist als eine Waffe oder ein Kühlschrank. Aber das Totenreich wird von den Scheinwerfern der Weltöffentlichkeit bereits unbarmherzig ausgeleuchtet. Wie die Tränengaukler nehmen auch die Frauenbesorger das "War theatre" beim Wort: Laienschauspieler und Marionetten im Theater der Grausamkeit, spielen sie Grand Guignol für zivilisierte Mitteleuropäer, ohne die Regeln zu kennen. Die Hollywood-Regisseurin Elena Schnee will am Originalschauplatz einen Kriegsfilm drehen: Während die Statisten noch ihre Demütigung und ihren Untergang nachstellen, fallen Bomben, die alle inszenierte Wirklichkeit zugleich zerstören, beglaubigen und überholen.
Klassische Parabeln wie "Elena Schnee" sind freilich die Ausnahme in Darvasis Buch. Die meisten Geschichten verweigern sich jeder Interpretation oder gar Moral zugunsten sinnverwirrender Paradoxien, Mysterien und einer verstörenden Traumlogik: Leichenfelder werden von einem beinamputierten englischen Major ausgegraben; Frauen fallen in den Tiefschlaf oder geben sich apathisch-verzückt singenden Kriegsherren und Folterknechten hin. Wer schlau ist, stellt sich dumm und schweigt; die Sprache ist längst vom Virus des Mißtrauens infiziert und mit Blut besudelt.
"Die Liebe Gottes ist blind, denn sie ist allgemein. Aber sein Quälen sieht, denn es ist immer konkret." Die Wahrheit ist bei Darvasi phantastisch, entsetzlich, tödlich, aber immer konkret. Seine Figuren haben keine Ideologie, keine Religion, keine berechenbaren Motive; sie werden in Massengräbern verscharrt und vergessen. Aber alle, selbst die Gespenster und Toten, haben eine Geschichte, Namen ("Selbst ein schlechter, mißratener Name ist besser als die Namenlosigkeit"), Leidenschaften und die verworrene Sehnsucht nach Liebe. In einer Art Vorwort erläutert Darvasi "Schreibers Meinung über den Krieg": "Der Mensch ist aus dichtem, dunklem und klitschigem Stoff, so ein kleines saftiges Gulasch, das im Himmel erfunden, aber in Ermangelung eines Besseren aus dem Dreck der Erde gekocht worden ist. Blindheit, blinde Leidenschaft, ein Herz schlägt, es schlägt nicht, gestern hat es noch gelebt, heute verwest es unter der Erde. In dem Augenblick, wo einer denkt, sei er nun Schriftsteller, Dichter, Musiker oder Schauspieler, dem Krieg Attribute, einen gesteigerten Sinn zuschreibt, verliert er den Menschen aus den Augen . . . Ich bin Schriftsteller, und deshalb will ich in meinen Sätzen Menschen sehen." Auch wenn der Krieg ihnen "Bluthäutchen zwischen den Fingern" und Herzen aus Stein wachsen ließ.
Die Intellektuellen sind Versteckkünstler, professionelle Witzeerzähler und Schmierenschauspieler, die, und sei es nur durch Wegsehen, mitschuldig geworden sind. Schon in "Die Hundejäger von Loyang" beschrieb Darvasi in verfremdeten chinesischen Fabeln über die Vergänglichkeit von Ruhm, Macht und Schönheit den Verrat der Intellektuellen. China ist bei ihm, wie bei Brecht, ein Hort konfuzianischer Weisheit und sanfter Geduld; aber das Land wird regiert von launischen, grausamen Kaisern, die ihre "Traumhüter", Wissenschaftler und Hofnarren lächelnd an ihre Unzulänglichkeit erinnern. Vor unlösbare Aufgaben gestellt - den Tod betrügen, den Himmel auf Papier und Leinwand herunterholen, gigantische Bauwerke jenseits von Gut und Böse errichten, Drachen töten, Höllenhunde zähmen, Blumen auf kaiserlichen Befehl blühen lassen -, unterwerfen sich die Überlebenskünstler feige, korrupt und zerstritten dem Größenwahn philosophierender Tyrannen und müssen für ihr Scheitern büßen.
Die Speichellecker der Macht, die Märtyrer der Selbstaufopferung und Hofschranzen ihrer Eitelkeit werden von den Affen und Eunuchen des Kaisers terrorisiert, gefoltert oder, noch schlimmer, übersehen - und, wenn sie nicht Wahnsinn, Flucht oder Selbstmord vorziehen, nach allen Regeln der Kunst hingerichtet. "Die Ordnung der Welt zerfiel, und sie hatten nicht die geringste Ahnung, wo und wann sie Fehler begangen, mit welchen Taten sie den Zorn des Himmels auf sich gezogen hatten." László Darvasis Chinoiserien sind Kriminalgeschichten, Gleichnisse, metaphysische Vexierbilder im Geiste von Borges und Kafka: Es gibt in diesem China keine Realität mehr, nur noch Phantome und Dämonen, Bilder und Rätsel, die sich jeder rationalen Auflösung entziehen.
"Wenn Grausamkeit sich mit Erfindungsreichtum paart, sind wir dem Wesen der Kunst nahe": László Darvasi, Schriftsteller einer Generation, die vom Regen postkommunistischer Tristesse in die Traufe eines Kriegs geriet und dabei ihre letzten humanistischen Illusionen verlor, ist diesem Ziel ziemlich nahe gekommen.
László Darvasi: "Die Hundejäger von Loyang". Chinesische Geschichten. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 S., geb., 22,90 [Euro].
Ders.: "Eine Frau besorgen". Kriegsgeschichten. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer, Terézia Mora und Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 184 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn Grausamkeit sich mit Erfindungsreichtum paart, sind wir dem Wesen der Kunst nahe: László Darvasis Geschichten vom Krieg
Paris besorgte sich bei den Spartanern eine Frau, Helena. Cherchez la femme: So beginnen Kriege. Auch die makabren, schrecklich schönen "Kriegsgeschichten" des ungarischen Schriftstellers László Darvasi beginnen oft damit, daß Männer, vom Krieg entwurzelt, verkrüppelt und verroht, sich eine Frau - und es dann ihr - besorgen wollen. Es sind herumstreifende Marodeure und Bauern, Totengräber und Leichenfledderer, Schmuggler und Waffenhändler, blutrünstige Muttersöhnchen und verwirrte Romantiker, die ihre Bewegungen und Gedanken beobachten wie bei einem Feind und deren Credo sich in dem Satz "Ich scheiße auf jeden, der lebt und sich rührt" erschöpft.
Die Frauen, die den sechzehn Erzählungen die Titel geben, tragen so seltsame Namen wie Baba Franciska, Rosalia Fugger-Schmidt oder Vera Domitum. Es sind Kriegshuren, Marketenderinnen, Prothesenhändlerinnen, Nonnen und Hinrichtungsspezialistinnen; sie werden mit Deutschmark gekauft oder entführt, versklavt und vergewaltigt. Sie sind häßlich, verrückt und krank, von Narben und Zahnlücken entstellt. Aber es sind Engel, die, wie einst bei dem Kriegsgeschichtenerzähler Kleist, ihre Peiniger zu Tränen rühren - und ihre Minneritter damit vollends in Teufel verwandeln. Vom Krieg geschändet, der Soldateska schutzlos ausgeliefert, behalten sie, stumm, schlafend oder aufreizend demütig, in Schmutz und Erniedrigung eine unantastbare Schönheit, Souveränität und Unschuld. So wissen die Räuber am Ende selber nicht mehr, was sie ihren Kriegsbräuten antun sollen: lieben oder opfern, anbeten oder töten, den Hunden zum Fraß vorwerfen oder sich selber in ihr Fleisch verbeißen.
Es macht keinen Unterschied. Es gibt in diesem Krieg keine klaren Fronten zwischen Gut und Böse, Täter und Opfer, Liebe und Haß, nicht einmal zwischen Leben und Tod: Erde, Luft und Tiere beginnen zu sprechen, Vögel fallen tot vom Himmel, Steinfiguren werden lebendig, Tote stehen wieder auf. Für die Greuel des Krieges gibt es keine Rechtfertigung und keinen metaphysischen Trost: "Gott ist schwer krank, und diese Krankheit strahlt auch auf die von ihm erschaffene Welt aus." Ihren Verfall zu schildern übersteigt die Vernunft und jede Erzähllogik, und deshalb verstehen nicht einmal die Erzähler ihre Abenteuer der Liebe in Zeiten des Krieges. Sie schildern sie so lakonisch ungerührt und behaglich hermetisch, als säßen sie am Lagerfeuer, unter gleichgesinnten Träumern, die keinen Anstoß an ihren bizarren Exzessen, unlösbaren Rätseln und nekrophilen Monstrositäten nehmen.
Darvasi hat schon in seiner "Legende von den Tränengauklern" die Schauder der Schönheit im Angesicht des Todes beschworen: Wenn die Tränengaukler alte Legenden von Feen, Zwergen und Geistern nachspielten, wurde die Kriegserinnerung zur Volksbelustigung, die Schaubühne zum Blutgerüst; wer ihre grausamen Märchen nicht hören wollte, mußte fühlen und sterben. Damals benutzte Darvasi die Türkenkriege als historische Folie, um die Massaker in Bosnien und im Kosovo in unerhört poetische Bilder zu bannen. Jetzt hat er seine surrealen Parabeln in die "gegenwärtige Nachkriegszeit" heran- und zugleich in jene zeitlose Ferne entrückt, als der Mensch noch des Menschen Wolf war.
Seine Erzählungen spielen unzweifelhaft hier und heute, im Hinterland des ehemaligen Jugoslawien. Es ist zwar eine archaische, dunkle Welt, in der noch die Gesetze der Blutrache und feudal-patriarchalische Lehensverhältnisse herrschen und eine Frau weniger wert ist als eine Waffe oder ein Kühlschrank. Aber das Totenreich wird von den Scheinwerfern der Weltöffentlichkeit bereits unbarmherzig ausgeleuchtet. Wie die Tränengaukler nehmen auch die Frauenbesorger das "War theatre" beim Wort: Laienschauspieler und Marionetten im Theater der Grausamkeit, spielen sie Grand Guignol für zivilisierte Mitteleuropäer, ohne die Regeln zu kennen. Die Hollywood-Regisseurin Elena Schnee will am Originalschauplatz einen Kriegsfilm drehen: Während die Statisten noch ihre Demütigung und ihren Untergang nachstellen, fallen Bomben, die alle inszenierte Wirklichkeit zugleich zerstören, beglaubigen und überholen.
Klassische Parabeln wie "Elena Schnee" sind freilich die Ausnahme in Darvasis Buch. Die meisten Geschichten verweigern sich jeder Interpretation oder gar Moral zugunsten sinnverwirrender Paradoxien, Mysterien und einer verstörenden Traumlogik: Leichenfelder werden von einem beinamputierten englischen Major ausgegraben; Frauen fallen in den Tiefschlaf oder geben sich apathisch-verzückt singenden Kriegsherren und Folterknechten hin. Wer schlau ist, stellt sich dumm und schweigt; die Sprache ist längst vom Virus des Mißtrauens infiziert und mit Blut besudelt.
"Die Liebe Gottes ist blind, denn sie ist allgemein. Aber sein Quälen sieht, denn es ist immer konkret." Die Wahrheit ist bei Darvasi phantastisch, entsetzlich, tödlich, aber immer konkret. Seine Figuren haben keine Ideologie, keine Religion, keine berechenbaren Motive; sie werden in Massengräbern verscharrt und vergessen. Aber alle, selbst die Gespenster und Toten, haben eine Geschichte, Namen ("Selbst ein schlechter, mißratener Name ist besser als die Namenlosigkeit"), Leidenschaften und die verworrene Sehnsucht nach Liebe. In einer Art Vorwort erläutert Darvasi "Schreibers Meinung über den Krieg": "Der Mensch ist aus dichtem, dunklem und klitschigem Stoff, so ein kleines saftiges Gulasch, das im Himmel erfunden, aber in Ermangelung eines Besseren aus dem Dreck der Erde gekocht worden ist. Blindheit, blinde Leidenschaft, ein Herz schlägt, es schlägt nicht, gestern hat es noch gelebt, heute verwest es unter der Erde. In dem Augenblick, wo einer denkt, sei er nun Schriftsteller, Dichter, Musiker oder Schauspieler, dem Krieg Attribute, einen gesteigerten Sinn zuschreibt, verliert er den Menschen aus den Augen . . . Ich bin Schriftsteller, und deshalb will ich in meinen Sätzen Menschen sehen." Auch wenn der Krieg ihnen "Bluthäutchen zwischen den Fingern" und Herzen aus Stein wachsen ließ.
Die Intellektuellen sind Versteckkünstler, professionelle Witzeerzähler und Schmierenschauspieler, die, und sei es nur durch Wegsehen, mitschuldig geworden sind. Schon in "Die Hundejäger von Loyang" beschrieb Darvasi in verfremdeten chinesischen Fabeln über die Vergänglichkeit von Ruhm, Macht und Schönheit den Verrat der Intellektuellen. China ist bei ihm, wie bei Brecht, ein Hort konfuzianischer Weisheit und sanfter Geduld; aber das Land wird regiert von launischen, grausamen Kaisern, die ihre "Traumhüter", Wissenschaftler und Hofnarren lächelnd an ihre Unzulänglichkeit erinnern. Vor unlösbare Aufgaben gestellt - den Tod betrügen, den Himmel auf Papier und Leinwand herunterholen, gigantische Bauwerke jenseits von Gut und Böse errichten, Drachen töten, Höllenhunde zähmen, Blumen auf kaiserlichen Befehl blühen lassen -, unterwerfen sich die Überlebenskünstler feige, korrupt und zerstritten dem Größenwahn philosophierender Tyrannen und müssen für ihr Scheitern büßen.
Die Speichellecker der Macht, die Märtyrer der Selbstaufopferung und Hofschranzen ihrer Eitelkeit werden von den Affen und Eunuchen des Kaisers terrorisiert, gefoltert oder, noch schlimmer, übersehen - und, wenn sie nicht Wahnsinn, Flucht oder Selbstmord vorziehen, nach allen Regeln der Kunst hingerichtet. "Die Ordnung der Welt zerfiel, und sie hatten nicht die geringste Ahnung, wo und wann sie Fehler begangen, mit welchen Taten sie den Zorn des Himmels auf sich gezogen hatten." László Darvasis Chinoiserien sind Kriminalgeschichten, Gleichnisse, metaphysische Vexierbilder im Geiste von Borges und Kafka: Es gibt in diesem China keine Realität mehr, nur noch Phantome und Dämonen, Bilder und Rätsel, die sich jeder rationalen Auflösung entziehen.
"Wenn Grausamkeit sich mit Erfindungsreichtum paart, sind wir dem Wesen der Kunst nahe": László Darvasi, Schriftsteller einer Generation, die vom Regen postkommunistischer Tristesse in die Traufe eines Kriegs geriet und dabei ihre letzten humanistischen Illusionen verlor, ist diesem Ziel ziemlich nahe gekommen.
László Darvasi: "Die Hundejäger von Loyang". Chinesische Geschichten. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 168 S., geb., 22,90 [Euro].
Ders.: "Eine Frau besorgen". Kriegsgeschichten. Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer, Terézia Mora und Agnes Relle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 184 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für Ilma Rakusa ist der ungarische Autor "einer der produktivsten und eigenwilligsten seiner Generation", und auch dieser Band mit in China spielenden Erzählungen enttäuscht sie nicht. Als für die Geschichten "konstitutiv" betont sie "Pointenlosigkeit", die Weigerung, Rätsel aufzulösen und die Neigung, die Leser durch "Verfremdungen und Anomalien zu brüskieren", was sie allerdings für einen Vorzug der Texte ansieht. Die Rezensentin findet, dass sich der Autor in diesem Buch "wie selten in seinem Element" bewege, indem er die Geschichten immer wieder "befremdlich aus dem Ruder laufen" und in "Ambivalenz" enden lasse. Dabei gerate der Leser entweder in einen verwirrten oder verzauberten Zustand oder werde vom Autor durch einen "erzählerischen Backenstreich" über seine völlige Unwissenheit unterrichtet, so Rakusa begeistert. Sie preist Darvasis "borgesianische Poesie" und Phantasie und sie ist besonders erfreut, dass die Geschichten nie in "gängige Topoi" oder gar in irgendeine "Moral" münden, sondern Fragen schlicht unbeantwortet stehen lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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