99 Brüder zwischen 20 und 90 (der hundertste kann nicht) haben sich in der Bibliothek ihres verstorbenen Vaters versammelt, um bei einer leichten Mahlzeit die Vergangenheit zu begraben und des Weiteren zu erörtern, wo denn wohl die verschollene Urne ihres Erzeugers abgeblieben sein könnte. Unweigerlich werden alte Streitereien und Rivalitäten wiederbelebt, es kommt zu Unfällen, Gewalt bricht sich Bahn, kein Wunder bei so vielen Männern. Der Plot ist ziemlich zweitrangig in diesem so ungewöhnlichen wie komischen Roman. Aber natürlich spricht Antrim in seinem exzentrischen Buch über sehr vieles, was für reale Familien genauso gilt.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Am besten könnte man die Romane Donald Antrims vielleicht als "hysterische Fantastik" beschreiben, findet Wieland Freund. Mit Rationalität und Realitätssinn ist ihnen jedenfalls schwerlich beizukommen, meint der Rezensent. In "Die hundert Brüder" zum Beispiel befinden sich neunundneunzig von ihnen in einer vermodernden Bibliothek, und während einer von ihnen durch die Regalreihen taumelt und wirr die Geistesgeschichte rekapituliert, raufen, saufen und spielen die anderen Krieg, wieder und wieder, feiern "Festspiele der Demütigung", deren Opfer meist der Eine ist, der sich auf einer eigenen Queste befindet, fasst Freund zusammen. Am Ende löst sich der Suchende dann einfach auf, verrät der Rezensent. Das klingt alles ein wenig verrückt, weiß Freund, aber es ist großartige und große Literatur, die auf ihre eigene Weise "die ganz großen Erzählungen" verarbeitet, erklärt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2016Märtyrer mit Wasserschaden
Vom Feinsten: Donald Antrims postmoderne Phantastik
Müssten sich Franz Kafka, Jorge Luis Borges, Samuel Beckett und Michel Houellebecq gemeinsam den Plot einer Miniserie ausdenken, käme möglicherweise so etwas heraus wie die phantastische, metaphorisch überbordende und literarisch geniale Spinnerei "The Hundred Brothers" von Donald Antrim, von der Jonathan Franzen sagt, es sei "der seltsamste Roman, der je von einem Amerikaner erschienen ist". Das ist möglich, denn dieser zwanzig Jahre nach dem Original nun erstmals ins Deutsche übersetzte Totentanz mit der Geistesgeschichte, der in einer piranesihaft unermesslichen zerfallenden Bibliothek stattfindet (allein der jüngste Wasserschaden hat "siebzig bis achtzig Prozent der Erkenntnistheorie . . . zerstört"), mutet vom dekadent apokalyptischen Überbau her geradezu kerneuropäisch an. Der Gassenhauer vom Untergang des Abendlands in Endlosschleife.
Um Haaresbreite entwischt diese Endzeiterzählung stets dem hermeneutischen Zugriff, und doch neckt sie den Leser unablässig mit interpretatorischen Ködern. Der dickste von ihnen ist die Großallegorie des letzten Abendmahls, denn Doug, der zwischen Schwermut, Aggression und grenzenloser Zuneigung schwankende Erzähler, der das Geschehen abstrakt intellektuell reflektiert, hat einen ausgewachsenen Opferfimmel. Er will sich auf dem Höhepunkt eines aus dem Ruder laufenden Familienfests in der Maske des tanzenden "Kornkönigs" jagen und rituell hinmorden lassen, damit die anderen gedeihen können: "Ich war der Heilsbringer . . . ich war ihr Jesus."
Und doch ist da eben auch das entspannt Amerikanische, die sich am Detail entzündende Erzählfreude. Mag das Setting rettungslos surreal sein - hundert Brüder (diesmal nur neunundneunzig) kommen "wieder und wieder" in der "roten Bibliothek" zusammen, um den Vater zur letzten Ruhe zu betten, finden aber "die Urne mit der Asche des alten Hurenbocks" nicht mehr -, mag die berauschte Feier des Verfalls als Rückkehr "zum uralten Rhythmus von Tod und Wiedergeburt" bedeutungsschwer nach Existentialismus schmecken, auf der narrativen Ebene stehen ganz und gar anschauliche, oft köstlich saftige Szenen im Vordergrund. Immer wieder geraten die Brüder wegen Kleinigkeiten in wüste Raufereien; einige Anwesende vergnügen sich mit alten Pornographika; der Erstgeborene, mit "Gehbock" unterwegs, verlangt Unterwerfung. Tatsächlich hat man es nicht zuletzt mit dem Psychogramm einer Familie zu tun, das die gegenseitigen Abhängigkeiten und Demütigungen treffend auf den Punkt bringt. Gänzlich abwesend sind freilich die Frauen, weshalb die Handlung ein wenig auch wie ein Nachruf auf das alte Patriarchat wirkt.
Spätestens als der Übervater als feuchter Fleck an der Decke auftaucht, merkt man, dass man sich Doug, diesem alkoholversessenen, romantisch rückwärtsgewandten Genealogen, nicht so bedingungslos hätte ausliefern sollen, aber da ist es zu spät: Jetzt muss man den Exzess des Wahnsinnigen aushalten, den selbstverliebten Ausflug ins Primitive und Animalische, den Trip des Mythomanen auf den Trümmern unserer Buchkultur. Und das tut man gerne, denn stilistisch ist das Buch meisterlich, und das entschieden auch in Gottfried Röckeleins vortrefflicher Übersetzung.
OLIVER JUNGEN
Donald Antrim: "Die hundert Brüder". Roman.
Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 220 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Feinsten: Donald Antrims postmoderne Phantastik
Müssten sich Franz Kafka, Jorge Luis Borges, Samuel Beckett und Michel Houellebecq gemeinsam den Plot einer Miniserie ausdenken, käme möglicherweise so etwas heraus wie die phantastische, metaphorisch überbordende und literarisch geniale Spinnerei "The Hundred Brothers" von Donald Antrim, von der Jonathan Franzen sagt, es sei "der seltsamste Roman, der je von einem Amerikaner erschienen ist". Das ist möglich, denn dieser zwanzig Jahre nach dem Original nun erstmals ins Deutsche übersetzte Totentanz mit der Geistesgeschichte, der in einer piranesihaft unermesslichen zerfallenden Bibliothek stattfindet (allein der jüngste Wasserschaden hat "siebzig bis achtzig Prozent der Erkenntnistheorie . . . zerstört"), mutet vom dekadent apokalyptischen Überbau her geradezu kerneuropäisch an. Der Gassenhauer vom Untergang des Abendlands in Endlosschleife.
Um Haaresbreite entwischt diese Endzeiterzählung stets dem hermeneutischen Zugriff, und doch neckt sie den Leser unablässig mit interpretatorischen Ködern. Der dickste von ihnen ist die Großallegorie des letzten Abendmahls, denn Doug, der zwischen Schwermut, Aggression und grenzenloser Zuneigung schwankende Erzähler, der das Geschehen abstrakt intellektuell reflektiert, hat einen ausgewachsenen Opferfimmel. Er will sich auf dem Höhepunkt eines aus dem Ruder laufenden Familienfests in der Maske des tanzenden "Kornkönigs" jagen und rituell hinmorden lassen, damit die anderen gedeihen können: "Ich war der Heilsbringer . . . ich war ihr Jesus."
Und doch ist da eben auch das entspannt Amerikanische, die sich am Detail entzündende Erzählfreude. Mag das Setting rettungslos surreal sein - hundert Brüder (diesmal nur neunundneunzig) kommen "wieder und wieder" in der "roten Bibliothek" zusammen, um den Vater zur letzten Ruhe zu betten, finden aber "die Urne mit der Asche des alten Hurenbocks" nicht mehr -, mag die berauschte Feier des Verfalls als Rückkehr "zum uralten Rhythmus von Tod und Wiedergeburt" bedeutungsschwer nach Existentialismus schmecken, auf der narrativen Ebene stehen ganz und gar anschauliche, oft köstlich saftige Szenen im Vordergrund. Immer wieder geraten die Brüder wegen Kleinigkeiten in wüste Raufereien; einige Anwesende vergnügen sich mit alten Pornographika; der Erstgeborene, mit "Gehbock" unterwegs, verlangt Unterwerfung. Tatsächlich hat man es nicht zuletzt mit dem Psychogramm einer Familie zu tun, das die gegenseitigen Abhängigkeiten und Demütigungen treffend auf den Punkt bringt. Gänzlich abwesend sind freilich die Frauen, weshalb die Handlung ein wenig auch wie ein Nachruf auf das alte Patriarchat wirkt.
Spätestens als der Übervater als feuchter Fleck an der Decke auftaucht, merkt man, dass man sich Doug, diesem alkoholversessenen, romantisch rückwärtsgewandten Genealogen, nicht so bedingungslos hätte ausliefern sollen, aber da ist es zu spät: Jetzt muss man den Exzess des Wahnsinnigen aushalten, den selbstverliebten Ausflug ins Primitive und Animalische, den Trip des Mythomanen auf den Trümmern unserer Buchkultur. Und das tut man gerne, denn stilistisch ist das Buch meisterlich, und das entschieden auch in Gottfried Röckeleins vortrefflicher Übersetzung.
OLIVER JUNGEN
Donald Antrim: "Die hundert Brüder". Roman.
Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 220 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Möglicherweise der seltsamste jemals erschienene Roman eines Amerikaners. Und doch paradoxerweise auch ein höchst repräsentativer Roman. Wie keiner von uns spricht er für uns alle. Jonathan Franzen