Über die vielfach unterschätzte Notwendigkeit von Bibliotheken im 21. Jahrhundert.Die Benutzer strömen in Scharen in die Lesesäle und Gruppenarbeitsräume der wissenschaftlichen Bibliotheken. Dabei scheint ihre Aufgabe in Zeiten des Internets immer unklarer zu werden: Ist nicht das Wichtigste schon im Netz verfügbar? Welche Funktion hat die Bibliothek dann noch - ist sie ein Learning Center? Ein Logistikzentrum der Information? Ein sozialer Ort? Macht Teilen und Tauschen das Wesen der Bibliothek aus? Dieses Buch handelt davon, dass wissenschaftliche Bibliotheken eine Hauptaufgabe haben, und zwar seit den ältesten Tagen von Ninive und Alexandria: Die Verantwortung für die Verfügbarkeit des Wissens. Ihr Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten Stand der Erkenntnis. Die Realisierung dieser Idee wird für die einzelne Bibliothek zur Quadratur des Kreises. Bibliotheken müssen viel enger zusammenwirken als früher. Die Idee der Bibliothek funktioniert nur noch im System der Bibliotheken. Doch in Deutschland sitzen die Bibliotheken mit ihren unerledigten Gemeinschaftsaufgaben in der Föderalismusfalle. Damit die Idee der Bibliothek zur Geltung kommen kann, braucht es eine beherzte Bibliothekspolitik.Der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek blickt auf Geschichte und Gegenwart der Bibliotheken und fragt nach ihrer Bedeutung für die Zukunft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2018Am dritten Ort laden die Texte zum Gespräch
Anregend und fast schon hoffnungsvoll: Michael Knoche über die Zukunft der Bibliothek
Die gute Nachricht ist: Die Bibliothek bleibt. Mögen gedruckte Bücher vielleicht auch dem Untergang geweiht sein, ihr öffentlicher Raum ist es nicht. Dieser Ansicht ist zumindest Michael Knoche, der von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek war. In einem schmalen Band erörtert er Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Bibliotheken, ihrer Orte ebenso wie ihrer gesellschaftlichen Funktion, und trägt pointiert zusammen, vor welchen Herausforderungen Bibliothekare, Leser und Politik stehen.
Dazu gehört an erster Stelle, wie kann es anders sein, die Digitalisierung. Das Internet versetzt jeden, der es zu nutzen weiß, in die komfortable Lage, scheinbar alles in Erfahrung zu bringen, was er wissen will. Die Bibliothek, so Knoche, habe damit unzweifelhaft ihr Informationsmonopol verloren. Jeder, der das Internet nutzt, weiß aber auch (oder könnte zumindest wissen), dass nicht jede Information, die er dort findet, brauchbar ist, die Quellen oftmals intransparent und falsche Angaben keine Seltenheit sind. Das Internet ersetzt keine Bücher - und schon gar nicht eine aufwendig systematisierte Bibliothek. Und doch: Reichen die, wie Knoche sie nennt, "riesigen weißen Flächen" des Internets aus, um ihr den Vorzug zu geben?
Etwa neuntausend öffentliche und siebenhundert wissenschaftliche Bibliotheken gibt es in Deutschland laut Bibliotheksstatistik, rund 220 Millionen Besucher zählten sie im Jahr 2015, fast die Hälfte davon, obwohl ihre Anzahl an Standorten viel geringer ist, in wissenschaftlichen Bibliotheken, auf die sich Knoche ausschließlich konzentriert. Die stetig wachsende Zahl an Studenten ist offenbar nicht ohne Folgen geblieben, was umso interessanter ist, als ihnen häufig attestiert wird, immer weniger zu lesen: Um fast fünfzig Prozent seien die Besucherzahlen der Hochschulbibliotheken in den vergangenen Jahren gestiegen.
Ist es also ganz anders, als man denkt, und die Leselust steigt in den jüngeren Generationen? Diese Annahme erweist sich als Kurzschluss, wenn man bedenkt, wie sehr Zweck und Ausstattung der Bibliotheksräume sich verändert haben. Da gibt es, wie Knoche bemerkt, "unterschiedliche Aktivitätszonen" - darunter "Lounges", Cafés, Veranstaltungsräume - und Bibliothekare, die sichtlich bemüht seien, "das Image von bloßen Bücherausleihern" abzustreifen. Laptops statt Bücher, WLAN statt Zettelkataloge, Digitalisate statt handschriftlicher Exzerpte - die sich selbst beschleunigende moderne Technologie hat die Bibliotheken erobert.
"Content" und "Access" identifiziert Knoche als Schlagwörter der Stunde: Der Inhalt benötige demnach das Buch als Form nicht mehr, der freie, kostenlose Zugang zu sämtlichen Texten gilt als Maß aller Dinge, nennt sich "Open-Access-Strategie" und öffnet das Tor für die Unabhängigkeit von Zeit und Raum (und, so meinen Kritiker, für die Zerstörung des Urheberrechts). Wo das Wissen in jedem digitalen Gerät verfügbar ist, ist der Gang in die Bibliothek nicht mehr zwingend.
Und doch hält Knoche die Idee der Bibliothek noch immer für stark und notwendig. Sein Plädoyer, die Bibliotheken als "dritten Ort" im Sinne Ray Oldenburgs zu begreifen, gehört zu den schönsten Passagen des Buchs. Die Wohnung ist nach dieser Vorstellung der erste Ort, der Arbeitsplatz der zweite, Räume der Kommunikation sind der dritte Ort. Weder weltanschaulich gebunden noch kommerziell, erfülle die Bibliothek die Funktion eines dritten oder realen Ortes, der auch den kognitiven und sozialen Komponenten des Wissens gerecht werde: "Selbst wenn alle Texte maschinenlesbar gemacht sind, werden die Leser nicht wie Maschinen funktionieren." Die Bibliothek bleibe bedeutungsvoll als "öffentlicher Ort des Denkens", als Beziehungsstifter "zwischen Menschen und Publikationen, zwischen Publikationen und Publikationen und zwischen Menschen und Menschen". Jeder, der schon einmal in einem Lesesaal gearbeitet hat, kann die "eigenartige Erfahrung" teilen, die Knoche so anrührend beschreibt: "Man befindet sich in einem öffentlichen Raum und doch in einer intimen Situation. Es ist ein Ort, an dem ein vielstimmiges stummes Gespräch stattfindet, ein Denkraum."
Wie aber können Bibliotheken in einer digitalisierten Gesellschaft ihrem Sammlungsauftrag und ihrer Verantwortung nachkommen, Veröffentlichungen verfügbar zu machen, Bestände zu bewahren, Speicher funktionsfähig zu halten? Knoche glaubt nicht, dass der Computer das Buch eines Tages ganz ersetzen wird, schon gar nicht in den Kultur- und Geisteswissenschaften, die ein hohes Gut an alten Schriften umfassen (welche wegen mangelnder Haltbarkeit gleichwohl retrodigitalisiert werden sollten). Vielmehr müssten "Hybridbibliotheken" entwickelt werden, die sowohl analoge als auch digitale Bestände umfassen.
Die entscheidende Frage ist allerdings, wie elektronische Dateien langfristig gesichert werden können. Kann das überhaupt funktionieren, so schnell, wie Technologien, Hard- und Software veralten? Nach Einschätzung von Knoche lässt sich Papier einfacher restaurieren "als bits and bytes haltbar machen". Antworten auf diese offenen Fragen können aus seiner Sicht nur gefunden werden, wenn die Bibliotheken in einem Gesamtsystem agieren, also viel stärker miteinander kooperieren, arbeitsteilig vorgehen, sich abstimmen. Um das zu verwirklichen, bräuchte es etwas, das Knoche am schmerzlichsten vermisst: eine nationale Bibliothekspolitik, die ein solches Zusammenwirken forciert.
Und so bleiben nach der Lektüre dieses anregenden Büchleins Hoffnung und Sorge zugleich: Die Bibliothek, so lässt sich aus Knoches Erkenntnissen schließen, muss nicht gerettet werden, weil sie nicht gefährdet ist. (Ob eine so optimistische Perspektive auch für die öffentlichen Stadtbibliotheken gilt, die wegen nachlassender Attraktivität für die Bürger zunehmend in die Krise geraten, müsste allerdings noch diskutiert werden.) Um das Gespenst der Digitalisierung nachhaltig zu bannen, bedarf es gleichwohl weitaus mehr Anstrengungen, als Aktivitätszonen in den Bibliotheken einzurichten. Bibliotheken verkörpern in einer digitalen Welt der Flüchtigkeit in den Worten Knoches "Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration". Darin liegt ihre vielleicht größte Chance.
HANNAH BETHKE
Michael Knoche: "Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft".
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 138 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anregend und fast schon hoffnungsvoll: Michael Knoche über die Zukunft der Bibliothek
Die gute Nachricht ist: Die Bibliothek bleibt. Mögen gedruckte Bücher vielleicht auch dem Untergang geweiht sein, ihr öffentlicher Raum ist es nicht. Dieser Ansicht ist zumindest Michael Knoche, der von 1991 bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek war. In einem schmalen Band erörtert er Gegenwart und Zukunft der wissenschaftlichen Bibliotheken, ihrer Orte ebenso wie ihrer gesellschaftlichen Funktion, und trägt pointiert zusammen, vor welchen Herausforderungen Bibliothekare, Leser und Politik stehen.
Dazu gehört an erster Stelle, wie kann es anders sein, die Digitalisierung. Das Internet versetzt jeden, der es zu nutzen weiß, in die komfortable Lage, scheinbar alles in Erfahrung zu bringen, was er wissen will. Die Bibliothek, so Knoche, habe damit unzweifelhaft ihr Informationsmonopol verloren. Jeder, der das Internet nutzt, weiß aber auch (oder könnte zumindest wissen), dass nicht jede Information, die er dort findet, brauchbar ist, die Quellen oftmals intransparent und falsche Angaben keine Seltenheit sind. Das Internet ersetzt keine Bücher - und schon gar nicht eine aufwendig systematisierte Bibliothek. Und doch: Reichen die, wie Knoche sie nennt, "riesigen weißen Flächen" des Internets aus, um ihr den Vorzug zu geben?
Etwa neuntausend öffentliche und siebenhundert wissenschaftliche Bibliotheken gibt es in Deutschland laut Bibliotheksstatistik, rund 220 Millionen Besucher zählten sie im Jahr 2015, fast die Hälfte davon, obwohl ihre Anzahl an Standorten viel geringer ist, in wissenschaftlichen Bibliotheken, auf die sich Knoche ausschließlich konzentriert. Die stetig wachsende Zahl an Studenten ist offenbar nicht ohne Folgen geblieben, was umso interessanter ist, als ihnen häufig attestiert wird, immer weniger zu lesen: Um fast fünfzig Prozent seien die Besucherzahlen der Hochschulbibliotheken in den vergangenen Jahren gestiegen.
Ist es also ganz anders, als man denkt, und die Leselust steigt in den jüngeren Generationen? Diese Annahme erweist sich als Kurzschluss, wenn man bedenkt, wie sehr Zweck und Ausstattung der Bibliotheksräume sich verändert haben. Da gibt es, wie Knoche bemerkt, "unterschiedliche Aktivitätszonen" - darunter "Lounges", Cafés, Veranstaltungsräume - und Bibliothekare, die sichtlich bemüht seien, "das Image von bloßen Bücherausleihern" abzustreifen. Laptops statt Bücher, WLAN statt Zettelkataloge, Digitalisate statt handschriftlicher Exzerpte - die sich selbst beschleunigende moderne Technologie hat die Bibliotheken erobert.
"Content" und "Access" identifiziert Knoche als Schlagwörter der Stunde: Der Inhalt benötige demnach das Buch als Form nicht mehr, der freie, kostenlose Zugang zu sämtlichen Texten gilt als Maß aller Dinge, nennt sich "Open-Access-Strategie" und öffnet das Tor für die Unabhängigkeit von Zeit und Raum (und, so meinen Kritiker, für die Zerstörung des Urheberrechts). Wo das Wissen in jedem digitalen Gerät verfügbar ist, ist der Gang in die Bibliothek nicht mehr zwingend.
Und doch hält Knoche die Idee der Bibliothek noch immer für stark und notwendig. Sein Plädoyer, die Bibliotheken als "dritten Ort" im Sinne Ray Oldenburgs zu begreifen, gehört zu den schönsten Passagen des Buchs. Die Wohnung ist nach dieser Vorstellung der erste Ort, der Arbeitsplatz der zweite, Räume der Kommunikation sind der dritte Ort. Weder weltanschaulich gebunden noch kommerziell, erfülle die Bibliothek die Funktion eines dritten oder realen Ortes, der auch den kognitiven und sozialen Komponenten des Wissens gerecht werde: "Selbst wenn alle Texte maschinenlesbar gemacht sind, werden die Leser nicht wie Maschinen funktionieren." Die Bibliothek bleibe bedeutungsvoll als "öffentlicher Ort des Denkens", als Beziehungsstifter "zwischen Menschen und Publikationen, zwischen Publikationen und Publikationen und zwischen Menschen und Menschen". Jeder, der schon einmal in einem Lesesaal gearbeitet hat, kann die "eigenartige Erfahrung" teilen, die Knoche so anrührend beschreibt: "Man befindet sich in einem öffentlichen Raum und doch in einer intimen Situation. Es ist ein Ort, an dem ein vielstimmiges stummes Gespräch stattfindet, ein Denkraum."
Wie aber können Bibliotheken in einer digitalisierten Gesellschaft ihrem Sammlungsauftrag und ihrer Verantwortung nachkommen, Veröffentlichungen verfügbar zu machen, Bestände zu bewahren, Speicher funktionsfähig zu halten? Knoche glaubt nicht, dass der Computer das Buch eines Tages ganz ersetzen wird, schon gar nicht in den Kultur- und Geisteswissenschaften, die ein hohes Gut an alten Schriften umfassen (welche wegen mangelnder Haltbarkeit gleichwohl retrodigitalisiert werden sollten). Vielmehr müssten "Hybridbibliotheken" entwickelt werden, die sowohl analoge als auch digitale Bestände umfassen.
Die entscheidende Frage ist allerdings, wie elektronische Dateien langfristig gesichert werden können. Kann das überhaupt funktionieren, so schnell, wie Technologien, Hard- und Software veralten? Nach Einschätzung von Knoche lässt sich Papier einfacher restaurieren "als bits and bytes haltbar machen". Antworten auf diese offenen Fragen können aus seiner Sicht nur gefunden werden, wenn die Bibliotheken in einem Gesamtsystem agieren, also viel stärker miteinander kooperieren, arbeitsteilig vorgehen, sich abstimmen. Um das zu verwirklichen, bräuchte es etwas, das Knoche am schmerzlichsten vermisst: eine nationale Bibliothekspolitik, die ein solches Zusammenwirken forciert.
Und so bleiben nach der Lektüre dieses anregenden Büchleins Hoffnung und Sorge zugleich: Die Bibliothek, so lässt sich aus Knoches Erkenntnissen schließen, muss nicht gerettet werden, weil sie nicht gefährdet ist. (Ob eine so optimistische Perspektive auch für die öffentlichen Stadtbibliotheken gilt, die wegen nachlassender Attraktivität für die Bürger zunehmend in die Krise geraten, müsste allerdings noch diskutiert werden.) Um das Gespenst der Digitalisierung nachhaltig zu bannen, bedarf es gleichwohl weitaus mehr Anstrengungen, als Aktivitätszonen in den Bibliotheken einzurichten. Bibliotheken verkörpern in einer digitalen Welt der Flüchtigkeit in den Worten Knoches "Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration". Darin liegt ihre vielleicht größte Chance.
HANNAH BETHKE
Michael Knoche: "Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft".
Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 138 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Anregend und fast schon hoffnungsvoll.« (Hannah Bethke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2018) »So liest sich Michael Knoches Essay für jeden inspirierend, der in sich eine Ahnung verspürt, dass er in einem Zeitalter der Weichenstellungen lebt.« (Florian Felix Weyh, Deutschlandfunk 01.02.2018) »Wer immer in der neuen Bundesregierung das Bildungsministerium übernimmt, sollte sich möglichst bald an einem freien Abend Knoches Buch vornehmen.« (Stephan Speicher, Süddeutsche Zeitung, 02.02.2018) »essayistisches Handbuch und pointiertes Programmpapier in einem« (Christian Eger, Mitteldeutsche Zeitung, 19.01.2018) »Klar, kenntnisreich und mit grossem Engagement erklärt er in diesem schmalen Band Probleme und Chancen der wissenschaftlichen Bibliotheken von heute.« (Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag, 28.01.2018) »(Ein) schmale(s), aber äußerst gehaltvolle(s) und erfahrungsgesättigte(s) Buch« (Jens Flemming, literaturkritik.de, 28.02.2018) »Jedem, dem das kulturelle und wissenschaftliche Erbe am Herzen liegt, (...) sei das klug und sorgsam recherchierte Buch sehr empfohlen.« (Heike Neuroth, Forschung & Lehre, 5.2018) »Ein wissenschaftlich fundiertes Buch für anspruchsvolle Leser, das komprimiert die wichtigsten Fragen zu den Erneuerungsaufgaben wissenschaftlicher Bibliotheken beleuchtet.« (Juliane Deinert, Evangelisches Literaturportal, 18.04.2018) »Michael Knoche hat ein schmales Buch vorgelegt, das einige Sprengkraft birgt.« (Holger Pils, Aus dem Antiquariat, Juni 2018) »ein höchst lesenswertes Buch« (Konrad Stidl, b.i.t.online, 21 (2018) Nr. 3) »eine sehr informative und erhellende Lektüre« (Tina Schraml, Bücher Magazin, Februar 2019)