Die Europäische Union wird größer. Doch was gehört dazu und wo liegen die Grenzen? Zeigt sich am Fall der Türkei, was nicht dazugehören kann, wenn das, was zusammenwächst, auch zusammengehören soll? Hinter solchen Fragen steht jene nach der Identität Europas und die, ob die Europäische Union überhaupt eine Identität braucht, um zu leisten, was ihre Bürger von ihr erwarten. Was aber wäre es, das die Kulturen der Länder Europas heute miteinander verbindet? Gehört Religion dazu? Könnte ein Euro-Islam Teil der europäischen Identität sein?
Anhand historischer und aktueller Problemanalysen untersucht Thomas Meyer, ob aus einem politischen Verband ohne gemeinsame Identität ein demokratisches Gemeinwesen werden kann, mit dem sich die Bürger identifizieren, und geht dabei ein auf den Vertragsentwurf für eine europäische Verfassung, den der Konvent im Sommer 2003 vorlegt.
Anhand historischer und aktueller Problemanalysen untersucht Thomas Meyer, ob aus einem politischen Verband ohne gemeinsame Identität ein demokratisches Gemeinwesen werden kann, mit dem sich die Bürger identifizieren, und geht dabei ein auf den Vertragsentwurf für eine europäische Verfassung, den der Konvent im Sommer 2003 vorlegt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2004Jenseits des Nationalstaats
Die schwierige Suche nach politischer Identität in der Europäischen Union
Thomas Meyer: Die Identität Europas. Die EU eine Seele? Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2004. 239 Seiten, 10,- [Euro].
Meyers Studie erscheint in einer Phase, da die beiden großen Herausforderungen der EU - Erweiterung und institutionelle Reformen - unweigerlich auch die Frage nach der Identität Europas aufwerfen. Mit der Aufnahme zehn neuer Mitglieder steigt die wirtschaftliche, geographische, historische und kulturelle Diversität. Zum selben Zeitpunkt soll der neue Vertrag über eine Verfassung den Kontinent im Geiste der europäischen Friedensidee, die eng mit der europäischen Identität verschränkt ist, vereinigen, nachdem die schrecklichen Ereignisse des kurzen 20. Jahrhunderts (1914 bis 1989) aus ebendiesem Europa hervorgegangen sind. Die Erfahrung dieser Geschichte hebt die konventionelle Ideengeschichte auf, indem sie die spezifischen Dimensionen des 20. Jahrhunderts sichtbar macht.
An diesem ambivalenten Punkt setzt Meyers anregender Essay an, wenn er von dem möglichen produktiven Gebrauch und dem erfahrbaren Mißbrauch des Begriffs Identität in politischer Absicht spricht. Er konstatiert das verheerende "Destruktionspotential" moderner Politik einerseits, verweist aber auf die notwendige Integrationskraft von Identität für alle politischen Gemeinwesen andererseits. Die zentrale Frage bezogen auf die EU lautet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit in der EU jene Art und jenes Maß an politischer Identität entstehen kann, ohne die die Union als Gemeinwesen in ihrer demokratischen Handlungsfähigkeit beschränkt und in ihrem Legitimitätsanspruch in Frage gestellt, ja grundlegend gefährdet bliebe?
Bereits der im ersten Teil unternommene Versuch einer begrifflichen Einordnung von Identität im Sinne der zahlreichen möglichen soziologischen und psychologischen Varianten macht rasch deutlich, daß man nach Meyer im Falle der EU von einem uniformen Gesellschaftsmodell nicht sprechen kann. Das hauptsächliche Charakteristikum der EU ist vielmehr ihre Diversität und Heterogenität, die sich mit 25 Mitgliedern entsprechend vergrößert. Auch negativ im Sinne einer Abgrenzung von anderen läßt sich europäische Identität nicht definieren, weil die religiöse und kulturelle Herkunftsidentität, die den europäischen Nationen vorausliegt und in den europäischen Einigungsprozeß als Voraussetzung eingegangen ist, so betrachtet auch den Amerikanern gehört und weil die mit dieser Identität verbundenen Werte auch von aller Welt geteilt werden (sollen). Das Christentum manifestiert sich in den Vereinigten Staaten sogar lebendiger als in den säkularisierten Ländern Europas. Die europäische Aufklärung ist nicht etwa die Aufklärung, "die nur von Europäern vollbracht werden und in ihrer vollen Konsequenz dann auch vollzogen werden kann". Sie ist ein Ereignis, das - nicht ohne äußere Anstöße - zuerst in Europa geschah, "aber im kleinen auch überall sonst geprobt wird und im großen überall möglich ist".
Europäische Identität ist somit zunächst eine Einladung zur Identifikation an alle, die sie teilen wollen. Gibt es somit gar keine spezifische europäische Identität? Für Meyer liegt sie vor allem in der beispielhaften Kooperation jenseits des Nationalstaats. Zur modernen europäischen Identität gehört nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Kultur, sondern eine bestimmte Art des Umgangs mit Religion, Religiosität und Kultur im öffentlichen Leben. Die Trennung von Kirche und Staat, die Toleranz der Religionen und Konfessionen füreinander, der Schutz von Menschenrechten und die Gewährung von Bürgerrechten unabhängig von religiöser Zugehörigkeit sind Kennzeichen des europäischen Gedanken. Europäische Identität ist daher in erster Linie eine politische Kultur des Umgangs mit Kulturen und nicht der Glaube an den besonderen Wert von einzelnen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Europa braucht daher nach Meyer keine kulturelle Identität, sondern eine politische, die gerade in der Überzeugung begründet liegt, daß der Sinn des Integrationsprozeß eben in der Akzeptanz kultureller Differenz besteht.
Die Beweggründe für den Integrationsprozeß liegen in der Ungewißheit der Zukunft unter dem Druck globaler Abhängigkeiten. Die Zustimmung zur europäischen Einigung setzt das Interesse seiner Bürger voraus. Anders gewandt: Die ökonomische, monetäre, kulturelle und politische Identität hängt vom Gelingen des Ganzen, des "eigenen Weges" ab. Europa braucht demnach eine politische Identifikation für diesen Weg, die wiederum nur durch ein demokratisch legitimiertes System ermittelt und vermittelt werden kann. In diesem Sinne bedeutete eine politische europäische Identität den Anspruch, daß sie aus den Präferenzen und Handlungen der Bürger als verantwortlichen und von Entscheidung betroffenen Unionsbürger geschöpft wird. Genau dies ist nach Meyer die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit und Regierbarkeit in der EU.
STEFAN FRÖHLICH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die schwierige Suche nach politischer Identität in der Europäischen Union
Thomas Meyer: Die Identität Europas. Die EU eine Seele? Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2004. 239 Seiten, 10,- [Euro].
Meyers Studie erscheint in einer Phase, da die beiden großen Herausforderungen der EU - Erweiterung und institutionelle Reformen - unweigerlich auch die Frage nach der Identität Europas aufwerfen. Mit der Aufnahme zehn neuer Mitglieder steigt die wirtschaftliche, geographische, historische und kulturelle Diversität. Zum selben Zeitpunkt soll der neue Vertrag über eine Verfassung den Kontinent im Geiste der europäischen Friedensidee, die eng mit der europäischen Identität verschränkt ist, vereinigen, nachdem die schrecklichen Ereignisse des kurzen 20. Jahrhunderts (1914 bis 1989) aus ebendiesem Europa hervorgegangen sind. Die Erfahrung dieser Geschichte hebt die konventionelle Ideengeschichte auf, indem sie die spezifischen Dimensionen des 20. Jahrhunderts sichtbar macht.
An diesem ambivalenten Punkt setzt Meyers anregender Essay an, wenn er von dem möglichen produktiven Gebrauch und dem erfahrbaren Mißbrauch des Begriffs Identität in politischer Absicht spricht. Er konstatiert das verheerende "Destruktionspotential" moderner Politik einerseits, verweist aber auf die notwendige Integrationskraft von Identität für alle politischen Gemeinwesen andererseits. Die zentrale Frage bezogen auf die EU lautet: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit in der EU jene Art und jenes Maß an politischer Identität entstehen kann, ohne die die Union als Gemeinwesen in ihrer demokratischen Handlungsfähigkeit beschränkt und in ihrem Legitimitätsanspruch in Frage gestellt, ja grundlegend gefährdet bliebe?
Bereits der im ersten Teil unternommene Versuch einer begrifflichen Einordnung von Identität im Sinne der zahlreichen möglichen soziologischen und psychologischen Varianten macht rasch deutlich, daß man nach Meyer im Falle der EU von einem uniformen Gesellschaftsmodell nicht sprechen kann. Das hauptsächliche Charakteristikum der EU ist vielmehr ihre Diversität und Heterogenität, die sich mit 25 Mitgliedern entsprechend vergrößert. Auch negativ im Sinne einer Abgrenzung von anderen läßt sich europäische Identität nicht definieren, weil die religiöse und kulturelle Herkunftsidentität, die den europäischen Nationen vorausliegt und in den europäischen Einigungsprozeß als Voraussetzung eingegangen ist, so betrachtet auch den Amerikanern gehört und weil die mit dieser Identität verbundenen Werte auch von aller Welt geteilt werden (sollen). Das Christentum manifestiert sich in den Vereinigten Staaten sogar lebendiger als in den säkularisierten Ländern Europas. Die europäische Aufklärung ist nicht etwa die Aufklärung, "die nur von Europäern vollbracht werden und in ihrer vollen Konsequenz dann auch vollzogen werden kann". Sie ist ein Ereignis, das - nicht ohne äußere Anstöße - zuerst in Europa geschah, "aber im kleinen auch überall sonst geprobt wird und im großen überall möglich ist".
Europäische Identität ist somit zunächst eine Einladung zur Identifikation an alle, die sie teilen wollen. Gibt es somit gar keine spezifische europäische Identität? Für Meyer liegt sie vor allem in der beispielhaften Kooperation jenseits des Nationalstaats. Zur modernen europäischen Identität gehört nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie, Religion oder Kultur, sondern eine bestimmte Art des Umgangs mit Religion, Religiosität und Kultur im öffentlichen Leben. Die Trennung von Kirche und Staat, die Toleranz der Religionen und Konfessionen füreinander, der Schutz von Menschenrechten und die Gewährung von Bürgerrechten unabhängig von religiöser Zugehörigkeit sind Kennzeichen des europäischen Gedanken. Europäische Identität ist daher in erster Linie eine politische Kultur des Umgangs mit Kulturen und nicht der Glaube an den besonderen Wert von einzelnen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Europa braucht daher nach Meyer keine kulturelle Identität, sondern eine politische, die gerade in der Überzeugung begründet liegt, daß der Sinn des Integrationsprozeß eben in der Akzeptanz kultureller Differenz besteht.
Die Beweggründe für den Integrationsprozeß liegen in der Ungewißheit der Zukunft unter dem Druck globaler Abhängigkeiten. Die Zustimmung zur europäischen Einigung setzt das Interesse seiner Bürger voraus. Anders gewandt: Die ökonomische, monetäre, kulturelle und politische Identität hängt vom Gelingen des Ganzen, des "eigenen Weges" ab. Europa braucht demnach eine politische Identifikation für diesen Weg, die wiederum nur durch ein demokratisch legitimiertes System ermittelt und vermittelt werden kann. In diesem Sinne bedeutete eine politische europäische Identität den Anspruch, daß sie aus den Präferenzen und Handlungen der Bürger als verantwortlichen und von Entscheidung betroffenen Unionsbürger geschöpft wird. Genau dies ist nach Meyer die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit und Regierbarkeit in der EU.
STEFAN FRÖHLICH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der mit Ck zeichnende Rezensent findet zwar, dass die Ausführungen zur Identität Europas von Thomas Meyer "nicht leicht zu lesen" sind. Doch liegt das seiner Ansicht nach in dem "hochkomplexen Thema begründet, wie er betont. Der Autor begreift Identität als eine "Art menschliches Lebensmittel", referiert der Rezensent, der von den überzeugenden Thesen und den "überraschend schlüssigen Metaphern", die Meyer in seinen Ausführungen entwickelt, sehr angetan ist. Er schließt sich der Überzeugung des Autors, dass nur eine "gemeinsame Identität" in Europa auch die gewünschte "Stabilität" schafft, gerne an und findet auch den Standpunkt des Autors, dass eine gemeinsame politische Identität die "Suche nach einer gemeinsamen kulturellen Identität" in Europa obligat werden lasse, durchaus überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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