Lange Zeit galten Neurobiologie und Psychoanalyse als unvereinbar. Während die Neurowissenschaft versuchte, physiologischen Gesetzen auf die Spur zu kommen, und sich daher eher auf empirisch verifizierbare biologische Prozesse konzentrierte, untersuchte die Psychoanalyse psychische Prozesse und insbesondere den Einfluß von Wahrnehmungen, Ereignissen und frühkindheitlichen Einflüssen auf die Psyche. In jüngster Zeit hat jedoch ein überraschend fruchtbarer Dialog eingesetzt, der in der jeweils anderen Wissenschaft theoretische Modelle entdeckt, die auch der eigenen Forschung neue Impulse geben können. Im Zentrum dieses Dialogs steht dabei das Konzept der Plastizität des Gehirns, das in der heutigen neurobiologischen Forschung von zentraler Relevanz ist. Die neuronale Entwicklung ist, so zeigen die aktuellen Forschungen, keineswegs nach einigen Jahren abgeschlossen, sondern das Gehirn erweist sich als ein erstaunlich veränderbares Organ, das jederzeit offen für neue Eindrücke und Erfahrungen ist.
Der Psychoanalytiker François Ansermet und der Neurowissenschaftler Pierre Magistretti zeigen in konziser und zugleich anschaulicher Form die aktuelle Forschungslage auf und öffnen die theoretischen Räume, die für die Begegnung dieser für das moderne Selbstverständnis grundlegenden Disziplinen erforderlich sind. Sie verbinden damit zugleich wieder die Stränge, die in der Frühzeit der Psychoanalyse, wie der Weg Sigmund Freuds zeigt, noch miteinander verbunden waren.
Der Psychoanalytiker François Ansermet und der Neurowissenschaftler Pierre Magistretti zeigen in konziser und zugleich anschaulicher Form die aktuelle Forschungslage auf und öffnen die theoretischen Räume, die für die Begegnung dieser für das moderne Selbstverständnis grundlegenden Disziplinen erforderlich sind. Sie verbinden damit zugleich wieder die Stränge, die in der Frühzeit der Psychoanalyse, wie der Weg Sigmund Freuds zeigt, noch miteinander verbunden waren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Kühnste Phantasien, vortrefflich verschaltet
Profitable Arbeitsteilung: Die Hirnforschung darf bestätigen, was die Psychoanalyse schon weiß / Von Thomas Thiel
Der große Graben, der Hirnforschung und Psychoanalyse lange Zeit kategorisch voneinander trennte, war vor allem in der neurowissenschaftlichen Tendenz begründet, sich das Gehirn als einen genetisch streng determinierten Regelkreislauf nach Art des Computers vorzustellen, der Reize aus der äußeren Wirklichkeit mechanisch verarbeitet. Die unbewußte Parallelwirklichkeit der Psychoanalyse mußte aus dieser Sicht obskurantistisch erscheinen, als ein diffuser Raum des Deutbaren, für den die neurowissenschaftliche Erklärungsökonomie keinen Bedarf hat.
Daß die Kluft zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie angesichts neuer Erkenntnisse aus der Hirnforschung überbrückt werden kann, ist die forsche These des ambitionierten und faktenreichen Buches "Die Individualität des Gehirns", in dem der Genfer Neurowissenschaftler Pierre Magistretti und der Lausanner Kinderpsychiater François Ansermet ihr Interesse am jeweils anderen zu einer überzeugenden Synthese vereinigen. Magistretti und Ansermet gehen davon aus, daß das Gehirn kein genetisch streng determinierter Organismus ist, sondern sich im Maße seines Erfahrungszuwachses verändert, also flexibel, lernfähig und individuell genannt werden darf. Das sogenannte Prinzip der Plastizität, eine aus den neueren Befunden der experimentellen Biologie ableitbare Tatsache, beweise, daß die Reizaufnahme aus der äußeren Wirklichkeit eine Spur im Nervensystem hinterläßt und die Informationsübertragung auf der synaptischen Ebene ständig verändert. Es begründe daher eine neue Sichtweise des Gehirns, nach der es nicht mehr statisch und determiniert im Sinne der Präformationslehre, sondern dynamisch nach der Theorie der Epigenese erscheint.
Die Mechanismen der Plastizität setzen an den Synapsen an, den Kontakten zwischen den Neuronen, an denen der Informationsaustausch stattfindet. Anders als man lange Zeit annahm, sind die rund eine Billiarde Synapsen des menschlichen Gehirns nicht nach dem starren und binären Prinzip des Computers verschaltet. Sie übertragen die Informationen von einer Zelle zur anderen vielmehr in sehr modulierter Form, wobei unterschiedliche Mengen von Neurotransmittern, die bei der Reizübertragung freigesetzt werden, Regulationsmöglichkeiten auf drei Stufen zulassen. Die Änderungen der synaptischen Struktur prägen sich teils als dauerhafte Modifikationen ins Gehirn ein und sind neben der Neurogenese das zweite Element des zerebralen Strukturwandels. Denn anders als man bis vor wenigen Jahren noch meinte, kann auch das erwachsene Gehirn noch neue Neuronen bilden. Auf neuronaler und synaptischer Ebene kann die Erfahrung daher Spuren im Gehirn hinterlassen, die ihrerseits Objekt vielfacher Rekombinationen sind und auf diesem Wege teils bis ins Unbewußte hineinreichen. Womit wir bei der Psychoanalyse wären.
Wenn Freud einst dekretierte, daß im psychischen Leben nichts verloren geht, so ist die Neurowissenschaft heute in der Lage, dieser Vermutung ein physiologisches Prinzip (das der mechanischen Plastizität) und materielle Korrelate (synaptische Spuren und Neurogenese) beiseite zu stellen. Nicht anders als das Prinzip der Plastizität fußte Freuds Theorie auf der Annahme, daß die Erfahrung durch Prozesse der Assoziation, Verschmelzung und Verzerrung im Nervensystem mehrmals umgeschrieben wird, bis sie schließlich die Form unbewußter Phantasievorstellungen annimmt, die nicht mehr auf ihre ursprünglichen Sinnesreize zurückgeführt werden können.
Die Freudschen Wahrnehmungszeichen, die nach zahlreichen Rekombinationen ins Unbewußte führen, entsprechen nach Meinung der Autoren perfekt den von der Neurobiologie aufgewiesenen synaptischen Änderungen. Beide, Wahrnehmungszeichen wie synaptische Spuren, gehen Assoziationen untereinander ein. Beide können zum Aufbau einer unbewussten inneren Wirklichkeit führen, die losgelöst vom Faktischen gelegentlich auf bewußte Handlungen übergreift. Freud selbst mußte dies leidvoll erfahren, als ihn auf einer Reise nach Rom plötzlich ein unerklärbarer innerer Widerstand ergriff, der ihm entgegen jeglicher rationaler Absicht die Umkehr nach Wien befahl.
Freud fügte sich, kehrte um und hätte doch bleiben können, wäre er damals schon im Besitz seines späteren theoretischen Wissens und eines begabten Psychoanalytikers gewesen. Der Psychoanalytiker hätte versucht, jene synaptische Spur "einzufangen", die nach ihrer Assoziation mit anderen Spuren einen ursprünglichen Sinnesreiz in eine unbewußte innere Wirklichkeit abgedrängt und ihn dort zu jener Phantasievorstellung transformiert hatte, die Freud später an stringentem Handeln hinderte. Wäre es Freud gelungen, diese Phantasievorstellung wieder auf ihren ursprünglichen Sinnesreiz zurückzuführen, hätte diese später nicht in sein zielgerichtetes Handeln intervenieren und ihn nicht von seiner Weiterreise nach Rom abhalten können.
Auch das Unbewußte erzeugt also seine eigenen, handlungsbestimmenden Reize. Und auch das Übergreifen der unbewußten Phantasievorstellungen auf das rationale Handeln kann die Hirnforschung in Ansätzen deuten. Sie weist der Amygdala die zentrale Rolle bei der Integration der verdrängten Phantasievorstellungen ins rationale Handeln zu. Da die unbewußten Spuren der Erfahrung mit somatischen Zuständen gekoppelt seien, werden durch eine Änderung des somatischen Zustandes auch unbewußte Phantasievorstellungen wachgerufen, gelangen über die Amygdala in den präfrontalen Kortex und tragen dort zur Handlungsfindung bei.
Es ist letztlich ein beidseitig profitables joint venture, zu dem Neurowissenschaften und Psychoanalyse in diesem Buch zusammenfinden. Die Hirnforschung darf sich in der Rolle des nacheilenden Verifikators introspektiv gewonnener Theorien gefallen. In dieser Rolle bringt sie Ergebnosse an den Tag, die im Grunde schon vorher und unabhängig von ihr gewonnen wurden, nun aber noch einmal in gesetzmäßiger Form formuliert werden. Entsprechend darf sich die Psychoanalyse mit dem Adelsdiplom naturwissenschaftlicher Legitimität schmücken, ohne ihre inneren Bestände gefährdet und ihre Methode angetastet zu sehen. Denn wenn die Neurobiologie auch die primären Annahmen der Psychoanalyse bestätigen darf, so bleibt die Hirnforschung faktisch doch auf diese sekundäre Funktion beschränkt. Um das "innere Afrika" (Freud) in uns zu entdecken, wird nach Ansicht der Autoren weiterhin die Finesse des Psychoanalytikers nötig sein. Daß er dabei nicht im Trüben fischt, soll er künftig mit naturwissenschaftlichem Stolz behaupten dürfen.
François Ansermet, Pierre Magistretti: "Die Individualität des Gehirns". Neurobiologie und Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 282 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Profitable Arbeitsteilung: Die Hirnforschung darf bestätigen, was die Psychoanalyse schon weiß / Von Thomas Thiel
Der große Graben, der Hirnforschung und Psychoanalyse lange Zeit kategorisch voneinander trennte, war vor allem in der neurowissenschaftlichen Tendenz begründet, sich das Gehirn als einen genetisch streng determinierten Regelkreislauf nach Art des Computers vorzustellen, der Reize aus der äußeren Wirklichkeit mechanisch verarbeitet. Die unbewußte Parallelwirklichkeit der Psychoanalyse mußte aus dieser Sicht obskurantistisch erscheinen, als ein diffuser Raum des Deutbaren, für den die neurowissenschaftliche Erklärungsökonomie keinen Bedarf hat.
Daß die Kluft zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie angesichts neuer Erkenntnisse aus der Hirnforschung überbrückt werden kann, ist die forsche These des ambitionierten und faktenreichen Buches "Die Individualität des Gehirns", in dem der Genfer Neurowissenschaftler Pierre Magistretti und der Lausanner Kinderpsychiater François Ansermet ihr Interesse am jeweils anderen zu einer überzeugenden Synthese vereinigen. Magistretti und Ansermet gehen davon aus, daß das Gehirn kein genetisch streng determinierter Organismus ist, sondern sich im Maße seines Erfahrungszuwachses verändert, also flexibel, lernfähig und individuell genannt werden darf. Das sogenannte Prinzip der Plastizität, eine aus den neueren Befunden der experimentellen Biologie ableitbare Tatsache, beweise, daß die Reizaufnahme aus der äußeren Wirklichkeit eine Spur im Nervensystem hinterläßt und die Informationsübertragung auf der synaptischen Ebene ständig verändert. Es begründe daher eine neue Sichtweise des Gehirns, nach der es nicht mehr statisch und determiniert im Sinne der Präformationslehre, sondern dynamisch nach der Theorie der Epigenese erscheint.
Die Mechanismen der Plastizität setzen an den Synapsen an, den Kontakten zwischen den Neuronen, an denen der Informationsaustausch stattfindet. Anders als man lange Zeit annahm, sind die rund eine Billiarde Synapsen des menschlichen Gehirns nicht nach dem starren und binären Prinzip des Computers verschaltet. Sie übertragen die Informationen von einer Zelle zur anderen vielmehr in sehr modulierter Form, wobei unterschiedliche Mengen von Neurotransmittern, die bei der Reizübertragung freigesetzt werden, Regulationsmöglichkeiten auf drei Stufen zulassen. Die Änderungen der synaptischen Struktur prägen sich teils als dauerhafte Modifikationen ins Gehirn ein und sind neben der Neurogenese das zweite Element des zerebralen Strukturwandels. Denn anders als man bis vor wenigen Jahren noch meinte, kann auch das erwachsene Gehirn noch neue Neuronen bilden. Auf neuronaler und synaptischer Ebene kann die Erfahrung daher Spuren im Gehirn hinterlassen, die ihrerseits Objekt vielfacher Rekombinationen sind und auf diesem Wege teils bis ins Unbewußte hineinreichen. Womit wir bei der Psychoanalyse wären.
Wenn Freud einst dekretierte, daß im psychischen Leben nichts verloren geht, so ist die Neurowissenschaft heute in der Lage, dieser Vermutung ein physiologisches Prinzip (das der mechanischen Plastizität) und materielle Korrelate (synaptische Spuren und Neurogenese) beiseite zu stellen. Nicht anders als das Prinzip der Plastizität fußte Freuds Theorie auf der Annahme, daß die Erfahrung durch Prozesse der Assoziation, Verschmelzung und Verzerrung im Nervensystem mehrmals umgeschrieben wird, bis sie schließlich die Form unbewußter Phantasievorstellungen annimmt, die nicht mehr auf ihre ursprünglichen Sinnesreize zurückgeführt werden können.
Die Freudschen Wahrnehmungszeichen, die nach zahlreichen Rekombinationen ins Unbewußte führen, entsprechen nach Meinung der Autoren perfekt den von der Neurobiologie aufgewiesenen synaptischen Änderungen. Beide, Wahrnehmungszeichen wie synaptische Spuren, gehen Assoziationen untereinander ein. Beide können zum Aufbau einer unbewussten inneren Wirklichkeit führen, die losgelöst vom Faktischen gelegentlich auf bewußte Handlungen übergreift. Freud selbst mußte dies leidvoll erfahren, als ihn auf einer Reise nach Rom plötzlich ein unerklärbarer innerer Widerstand ergriff, der ihm entgegen jeglicher rationaler Absicht die Umkehr nach Wien befahl.
Freud fügte sich, kehrte um und hätte doch bleiben können, wäre er damals schon im Besitz seines späteren theoretischen Wissens und eines begabten Psychoanalytikers gewesen. Der Psychoanalytiker hätte versucht, jene synaptische Spur "einzufangen", die nach ihrer Assoziation mit anderen Spuren einen ursprünglichen Sinnesreiz in eine unbewußte innere Wirklichkeit abgedrängt und ihn dort zu jener Phantasievorstellung transformiert hatte, die Freud später an stringentem Handeln hinderte. Wäre es Freud gelungen, diese Phantasievorstellung wieder auf ihren ursprünglichen Sinnesreiz zurückzuführen, hätte diese später nicht in sein zielgerichtetes Handeln intervenieren und ihn nicht von seiner Weiterreise nach Rom abhalten können.
Auch das Unbewußte erzeugt also seine eigenen, handlungsbestimmenden Reize. Und auch das Übergreifen der unbewußten Phantasievorstellungen auf das rationale Handeln kann die Hirnforschung in Ansätzen deuten. Sie weist der Amygdala die zentrale Rolle bei der Integration der verdrängten Phantasievorstellungen ins rationale Handeln zu. Da die unbewußten Spuren der Erfahrung mit somatischen Zuständen gekoppelt seien, werden durch eine Änderung des somatischen Zustandes auch unbewußte Phantasievorstellungen wachgerufen, gelangen über die Amygdala in den präfrontalen Kortex und tragen dort zur Handlungsfindung bei.
Es ist letztlich ein beidseitig profitables joint venture, zu dem Neurowissenschaften und Psychoanalyse in diesem Buch zusammenfinden. Die Hirnforschung darf sich in der Rolle des nacheilenden Verifikators introspektiv gewonnener Theorien gefallen. In dieser Rolle bringt sie Ergebnosse an den Tag, die im Grunde schon vorher und unabhängig von ihr gewonnen wurden, nun aber noch einmal in gesetzmäßiger Form formuliert werden. Entsprechend darf sich die Psychoanalyse mit dem Adelsdiplom naturwissenschaftlicher Legitimität schmücken, ohne ihre inneren Bestände gefährdet und ihre Methode angetastet zu sehen. Denn wenn die Neurobiologie auch die primären Annahmen der Psychoanalyse bestätigen darf, so bleibt die Hirnforschung faktisch doch auf diese sekundäre Funktion beschränkt. Um das "innere Afrika" (Freud) in uns zu entdecken, wird nach Ansicht der Autoren weiterhin die Finesse des Psychoanalytikers nötig sein. Daß er dabei nicht im Trüben fischt, soll er künftig mit naturwissenschaftlichem Stolz behaupten dürfen.
François Ansermet, Pierre Magistretti: "Die Individualität des Gehirns". Neurobiologie und Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 282 S., geb., 22,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.02.2006Klare Sicht
Wann kommen sie zueinander? Neurobiologie und Psychoanalyse
Ein Buch, das die Vermählung der Psychoanalyse mit der Neurobiologie ankündigt, gemeinschaftlich verfasst von Vertretern beider Fächer, darf mit neugieriger Aufnahme rechnen: Wie weit sind die beiden einander in der Zwischenzeit gekommen? Um es gleich zu sagen und um das Enttäuschende an dieser Koproduktion des Kinderpsychiaters François Ansermet mit dem Neurowissenschaftler Pierre Magistretti auf den Punkt zu bringen: noch nicht sehr weit. Gespannt war man vor allem auf die Fortschritte der Neurologie. Inzwischen ist sehr viel über die physisch-chemische Funktionsweise des Nervensystems bekannt, darüber, wie die Synapsen miteinander kommunizieren und welche dauernden Veränderungen, welche „Bahnungen” mit diesen Schaltstellen vor sich gehen.
Die beiden Wissenschaftler stellen die komplexen Vorgänge ausführlich dar, vielleicht ein bisschen trockener als unbedingt nötig. Ganz offenbar hat diese Veränderlichkeit der biologischen Substanz unter dem Eindruck spezieller Geschehnisse etwas mit der Beharrlichkeit des Gedächtnisses und auf diesem Weg mit der Individualität des Subjekts zu tun. Bloß was? Es scheint, dass die moderne Neurologie die Prozesse der Reizleitung nunmehr sehr gut versteht, dass es ihr aber schwer fällt zu begreifen, auf welche Weise das blitzhaft dynamische System der Erregungspotentiale mit dem Phänomen eines dauernden Inhalts zusammenhängt.
„Plastizität” ist das Zauberwort, auf das die beiden Verfasser sich geeinigt haben: der biologischen Plastizität der Nervenbahnen entspricht die psychologische Plastizität der Seele. Sie entwerfen kybernetische Schaubilder, bei denen die Mitwirkenden einmal „Handlung”, „Verdrängung”, „Trieb”, einmal „präfrontaler Kortex”, „Hippocampus” und „primäre sensorische Systeme” heißen. Das sei mehr als eine Analogie, behaupten sie mit Nachdruck; und wahrscheinlich haben sie recht. Wenig ist es trotzdem. Das Problem, welches die Autoren mit leichter Untertreibung ein solches der „Repräsentation” psychischer Zustände im Nervensystem nennen, ist immerhin inzwischen deutlich sichtbar, wie bei klarem Wetter das andere Ufer eines reißenden Stroms.
Vielleicht wird es in der Zukunft gelingen, dieses Problem so eng zu führen, dass es seinen eigentlichen Kern preisgibt, das metaphysische Rätsel: Wie ein objektivierbarer stofflich-energetischer Vorgang einem ganz bestimmten subjektiven Erleben zu entsprechen vermag. Die zwei müssen identisch sein, wie die Außen- und Innenseite desselben Handschuhs, und werden sich dennoch nie berühren. Um im Bilde zu bleiben: die Gesamtgestalt des Handschuhs ergibt sich allein kraft der kategorialen Trennung seines Innen und seines Außen.
Aber wie gesagt, so weit sind wir noch gar nicht. Vorerst lässt sich noch nicht einmal genau angeben, welche Neuronen sich zusammentun und feuern, wenn wir voll Rührung an den Weihnachtsbaum unserer Kindheit denken. Erst wenn dieses neuronale Muster bis ins Einzelne dingfest gemacht wäre, könnte man angemessen darüber erstaunen, wie geringe strukturelle Ähnlichkeit es mit einem gefühlten Weihnachtsbaum hat. Die Neurobiologie zieht einstweilen frohgemut und äußerst erfolgreich weiter ihren Weg als empirische Wissenschaft.
Demgegenüber hat die Psychoanalyse gar keine andere Möglichkeit, als sich auf der Stelle zu wiegen und immer neue Figuren der Deutung Freuds zu entwickeln, dessen Leistung man darüber immer mehr zu bewundern lernt. Es war doch schon sehr kühn, was Freud unternommen hat: mit einem methodischen Bastard aus novellistischem Bericht und hydraulischer Modellbildung ins Zwielicht dieses Dschungels einzudringen! Dem hat er abschließend den Antrag auf dereinstige Selbstabschaffung zugunsten einer Naturwissenschaft hinzugefügt, die an ihr Ziel gelangt wäre. Dass es damit gute Weile haben würde, hat er wohl geahnt.
Ansermet und Magistretti gleichen da ein wenig den zwei Ameisen bei Ringelnatz, die von Hamburg nach Australien reisen wollten. „Doch zu Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh.” Ihr Buch hat den Wert, den der angestrengte Zwischenbericht in der frühen Phase eines großen Projekts eben haben kann: einen beschränkten. BURKHARD MÜLLER
FRANCOIS ANSERMET / PIERRE MAGISTRETTI: Die Individualität des Gehirns. Neurobiologie und Psychoanalyse. Aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 283 Seiten, 22,80 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wann kommen sie zueinander? Neurobiologie und Psychoanalyse
Ein Buch, das die Vermählung der Psychoanalyse mit der Neurobiologie ankündigt, gemeinschaftlich verfasst von Vertretern beider Fächer, darf mit neugieriger Aufnahme rechnen: Wie weit sind die beiden einander in der Zwischenzeit gekommen? Um es gleich zu sagen und um das Enttäuschende an dieser Koproduktion des Kinderpsychiaters François Ansermet mit dem Neurowissenschaftler Pierre Magistretti auf den Punkt zu bringen: noch nicht sehr weit. Gespannt war man vor allem auf die Fortschritte der Neurologie. Inzwischen ist sehr viel über die physisch-chemische Funktionsweise des Nervensystems bekannt, darüber, wie die Synapsen miteinander kommunizieren und welche dauernden Veränderungen, welche „Bahnungen” mit diesen Schaltstellen vor sich gehen.
Die beiden Wissenschaftler stellen die komplexen Vorgänge ausführlich dar, vielleicht ein bisschen trockener als unbedingt nötig. Ganz offenbar hat diese Veränderlichkeit der biologischen Substanz unter dem Eindruck spezieller Geschehnisse etwas mit der Beharrlichkeit des Gedächtnisses und auf diesem Weg mit der Individualität des Subjekts zu tun. Bloß was? Es scheint, dass die moderne Neurologie die Prozesse der Reizleitung nunmehr sehr gut versteht, dass es ihr aber schwer fällt zu begreifen, auf welche Weise das blitzhaft dynamische System der Erregungspotentiale mit dem Phänomen eines dauernden Inhalts zusammenhängt.
„Plastizität” ist das Zauberwort, auf das die beiden Verfasser sich geeinigt haben: der biologischen Plastizität der Nervenbahnen entspricht die psychologische Plastizität der Seele. Sie entwerfen kybernetische Schaubilder, bei denen die Mitwirkenden einmal „Handlung”, „Verdrängung”, „Trieb”, einmal „präfrontaler Kortex”, „Hippocampus” und „primäre sensorische Systeme” heißen. Das sei mehr als eine Analogie, behaupten sie mit Nachdruck; und wahrscheinlich haben sie recht. Wenig ist es trotzdem. Das Problem, welches die Autoren mit leichter Untertreibung ein solches der „Repräsentation” psychischer Zustände im Nervensystem nennen, ist immerhin inzwischen deutlich sichtbar, wie bei klarem Wetter das andere Ufer eines reißenden Stroms.
Vielleicht wird es in der Zukunft gelingen, dieses Problem so eng zu führen, dass es seinen eigentlichen Kern preisgibt, das metaphysische Rätsel: Wie ein objektivierbarer stofflich-energetischer Vorgang einem ganz bestimmten subjektiven Erleben zu entsprechen vermag. Die zwei müssen identisch sein, wie die Außen- und Innenseite desselben Handschuhs, und werden sich dennoch nie berühren. Um im Bilde zu bleiben: die Gesamtgestalt des Handschuhs ergibt sich allein kraft der kategorialen Trennung seines Innen und seines Außen.
Aber wie gesagt, so weit sind wir noch gar nicht. Vorerst lässt sich noch nicht einmal genau angeben, welche Neuronen sich zusammentun und feuern, wenn wir voll Rührung an den Weihnachtsbaum unserer Kindheit denken. Erst wenn dieses neuronale Muster bis ins Einzelne dingfest gemacht wäre, könnte man angemessen darüber erstaunen, wie geringe strukturelle Ähnlichkeit es mit einem gefühlten Weihnachtsbaum hat. Die Neurobiologie zieht einstweilen frohgemut und äußerst erfolgreich weiter ihren Weg als empirische Wissenschaft.
Demgegenüber hat die Psychoanalyse gar keine andere Möglichkeit, als sich auf der Stelle zu wiegen und immer neue Figuren der Deutung Freuds zu entwickeln, dessen Leistung man darüber immer mehr zu bewundern lernt. Es war doch schon sehr kühn, was Freud unternommen hat: mit einem methodischen Bastard aus novellistischem Bericht und hydraulischer Modellbildung ins Zwielicht dieses Dschungels einzudringen! Dem hat er abschließend den Antrag auf dereinstige Selbstabschaffung zugunsten einer Naturwissenschaft hinzugefügt, die an ihr Ziel gelangt wäre. Dass es damit gute Weile haben würde, hat er wohl geahnt.
Ansermet und Magistretti gleichen da ein wenig den zwei Ameisen bei Ringelnatz, die von Hamburg nach Australien reisen wollten. „Doch zu Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh.” Ihr Buch hat den Wert, den der angestrengte Zwischenbericht in der frühen Phase eines großen Projekts eben haben kann: einen beschränkten. BURKHARD MÜLLER
FRANCOIS ANSERMET / PIERRE MAGISTRETTI: Die Individualität des Gehirns. Neurobiologie und Psychoanalyse. Aus dem Französischen übersetzt von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 283 Seiten, 22,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine spannende Aufgabe haben sich der Kinderpsychiater François Ansermet und der Neurowissenschaftler Pierre Magistretti nach Ansicht von Burkhard Müller gestellt: Neurobiologie und Psychoanalyse zusammenzubringen, um das komplexe Zusammenspiel von physisch-chemischen Prozessen im Gehirn und psychologischen Vorgängen besser zu verstehen. Das Ergebnis dieser Kooperation der beiden Autoren löst bei Müller allerdings Ernüchterung aus. Weit gekommen sind Ansermet und Magistretti seines Erachtens nämlich nicht. Immerhin findet er in dem Buch eine ausführliche Darstellung der komplexen Vorgänge des Nervensystems, die so etwas wie die Individualität des Gehirns begründen. Beeindruckt zeigt er sich zudem von der Psychoanalyse, die immer neuen Figuren der Freud-Exegese entwickle. Insgesamt erscheint ihm das Buch aber ein wenig wie der "angestrengte Zwischenbericht in der frühen Phase eines großen Projekts", dessen Wert eher "beschränkt" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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