Harald Haarmann beschreibt anschaulich, was wir über die Ursprache der Indoeuropäer und ihre Urheimat in der südrussischen Steppe wissen, und erklärt, wie die berittenen Steppennomaden ab dem 4. Jahrtausend v.Chr. nach Westen und Osten gewandert sind. Allmählich vermischten sie sich mit anderen Kulturen und wurden schließlich in Persien, Indien, Westeuropa und andernorts sesshaft. Nicht nur die Sprachen der Indoeuropäer legen Zeugnis von dieser Entwicklung ab, sondern auch ihre Mythen sowie archäologische Funde.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.02.2011Ein Festmahl aus
170 Buchstaben
Harald Haarmann erzählt die
Geschichte der Indoeuropäer
„Indoeuropäer“? Der Titel von Harald Haarmanns kurzer Monografie macht stutzig. „Indogermanisch“ – dieser mittlerweile ideologisch überfrachtete Terminus ist seit Friedrich Schlegel geläufig, doch wird er mittlerweile in Anlehnung nicht nur ans Englische immer öfter durch das genauere „indoeuropäisch“ ersetzt. Aber wer sind die Indoeuropäer? Alle Menschen, sagt Haarmann, die zu der weit über Asien und Europa verbreiteten indoeuropäischen Sprachfamilie gehören, Menschen, die Griechisch, Indisch oder Englisch sprechen, Baltisch, Spanisch oder Iranisch.
Der durch eine Vielzahl auch populärer Publikationen bekannt gewordene Sprachforscher Haarmann geht bei seiner Suche nach den Indoeuropäern weit in die Geschichte zurück. Nach der letzten Eiszeit habe es in Osteuropa eine Gemeinschaft gegeben, die vor 9000 Jahren in die (Proto-)Uralier und die nach Süden abwandernden (Ur-)Indoeuropäer zerfiel. Die Gründe für diese Spaltung sind in klimatischen Veränderungen nach der Eiszeit zu suchen, erst Wasserreichtum, dann die Austrocknung.
Die Indoeuropäer zogen, so Haarmann, als Viehnomaden und mit den für ihre Kultur zentralen Pferden durch das Gebiet nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer. Typisch für diese Indoeuropäer seien die Kurgane, das sind zu Erdhügeln aufgeschüttete Gräber. Damit folgt Haarmann einer berühmten und unter Sprachwissenschaftlern populären These Marija Gimbutas, die in den 70er Jahren die Kurgan-Leute mit den Indoeuropäern gleichsetzte – eine immer noch umstrittene, weil bloß wahrscheinliche, aber eben nicht bewiesene These.
Die konkurrierende Hypothese von Colin Renfrew, der Anatolien als Urheimat der Indoeuropäer annimmt, lehnt Haarmann vor allem aus sprachwissenschaftlichen Gründen ab. Ob diese triftig sind, kann ein Laienleser allerdings kaum beurteilen. Zumal die von Haarmann skizzierten Entwicklungen durch den Umstand beunruhigen, dass es sich um eine kühne Kombination von Hypothesen handelt, denen etwas Spekulatives anhaftet. Was bei solcherlei Interpolationen aus Gentechnik, Sprachwissenschaft und Archäologie unvermeidlich ist. Doch so spekulativ dieser Abriss auch klingen mag: Haarmann gelingt eine knappe, detailreiche und schlüssige Darstellung des Indoeuropäertums.
Hypothetisch ist auch die Rekonstruktion des Ur-Indoeuropäischen. Zu dessen Eigenheiten gehört ein befremdliches Lautsystem mit nur vier Vokalen, dem 30 Konsonanteneinheiten gegenüberstehen – Zusammenrottungen von bis zu drei Krächzlauten sind nichts Ungewöhnliches. Ansonsten gibt sich das Ur-Indoeuropäische stark flektierend und tendiert zum Synthetischen. Der spektakulärste Beleg dafür findet sich bei Aristophanes, der ein Gericht durch die Aneinanderreihung seiner Bestandteile beschreibt: Mit 170 Buchstaben ist es das längste Wort der Literaturgeschichte.
Vor 6500 Jahren wanderten erste Indoeuropäer aus ihrem Stammgebiet ab, zwei weitere Wanderungen folgten. Die dritte Migration vor 5000 Jahren brachte Kurgan-Leute Richtung Westen, es kam zu Kontakten mit den dort ansässigen Ackerbauern. Was man sich aber nicht als Völkerwanderung im wörtlichen Sinn vorstellen darf. Vermutlich waren nur kleine aggressive Clans unterwegs, die in den neu erwanderten Gebieten die Herrschaft an sich rissen. Worauf ein wechselseitiger Prozess der Akkulturation einsetzte, bei dem sich das Ur-Indoeuropäische mit der alteuropäischen Sprache vermischte.
Nur wenige hundert Jahre nach dieser dritten Migration brachen Kurgan-Leute auch nach Osten auf. Nach Zentralasien, wo in der Katakombengräberkultur Vorläufer der Arier fassbar werden, deren mörderische Ideologisierung im 19. und 20. Jahrhundert Haarmann detailliert kritisch aufdröselt. Zunehmende Austrocknung zwang diese Menschen zur Auswanderung Richtung Iran und Indien, wo sie die Urbevölkerung verdrängten. Darunter die Alt-Draviden, aus deren Symbolschatz übrigens das Hakenkreuz stammt. Haarmann: „Die Arier kamen nicht als glorreiche Eroberer nach Indien, ihre Einwanderung hatte zunächst auch keine weiträumige Landnahme zur Folge, und sie brachten auch keine Hochkultur dahin.“
Nun hatte das Indoeuropäertum seine vorerst größte Ausdehnung erreicht – manche Gruppen sind vielleicht sogar bis nach Westchina vorgestoßen, das suggerieren zumindest die rätselhaften Mumien von Ürümchi. Mit der Entdeckung Amerikas griff dann das Indogermanische noch einmal weiter aus, verleibte sich einen Doppelkontinent ein. So dass Haarmann folgern kann: „Praktisch jeder der fast sieben Milliarden Menschen auf der Welt hat heute auf die eine oder andere Weise mit einer indoeuropäischen Sprache zu tun.“ Es ist dies die erstaunliche Karriere einer vor 9000 Jahren entstandenen, vor Konsonanten nur so krächzenden Ur-Sprache. Ob ihre Enkelsprachen sich im 21. Jahrhundert gegen das Chinesische behaupten werden können? REINHARD J. BREMBECK
HARALD HAARMANN: Die Indoeuropäer. Herkunft, Sprachen, Kulturen. Verlag C. H. Beck, München 2010. 128 Seiten, 8,95 Euro.
Kleine, aggressive Clans
rissen in den neuen Gebieten
die Herrschaft an sich
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170 Buchstaben
Harald Haarmann erzählt die
Geschichte der Indoeuropäer
„Indoeuropäer“? Der Titel von Harald Haarmanns kurzer Monografie macht stutzig. „Indogermanisch“ – dieser mittlerweile ideologisch überfrachtete Terminus ist seit Friedrich Schlegel geläufig, doch wird er mittlerweile in Anlehnung nicht nur ans Englische immer öfter durch das genauere „indoeuropäisch“ ersetzt. Aber wer sind die Indoeuropäer? Alle Menschen, sagt Haarmann, die zu der weit über Asien und Europa verbreiteten indoeuropäischen Sprachfamilie gehören, Menschen, die Griechisch, Indisch oder Englisch sprechen, Baltisch, Spanisch oder Iranisch.
Der durch eine Vielzahl auch populärer Publikationen bekannt gewordene Sprachforscher Haarmann geht bei seiner Suche nach den Indoeuropäern weit in die Geschichte zurück. Nach der letzten Eiszeit habe es in Osteuropa eine Gemeinschaft gegeben, die vor 9000 Jahren in die (Proto-)Uralier und die nach Süden abwandernden (Ur-)Indoeuropäer zerfiel. Die Gründe für diese Spaltung sind in klimatischen Veränderungen nach der Eiszeit zu suchen, erst Wasserreichtum, dann die Austrocknung.
Die Indoeuropäer zogen, so Haarmann, als Viehnomaden und mit den für ihre Kultur zentralen Pferden durch das Gebiet nördlich von Schwarzem und Kaspischem Meer. Typisch für diese Indoeuropäer seien die Kurgane, das sind zu Erdhügeln aufgeschüttete Gräber. Damit folgt Haarmann einer berühmten und unter Sprachwissenschaftlern populären These Marija Gimbutas, die in den 70er Jahren die Kurgan-Leute mit den Indoeuropäern gleichsetzte – eine immer noch umstrittene, weil bloß wahrscheinliche, aber eben nicht bewiesene These.
Die konkurrierende Hypothese von Colin Renfrew, der Anatolien als Urheimat der Indoeuropäer annimmt, lehnt Haarmann vor allem aus sprachwissenschaftlichen Gründen ab. Ob diese triftig sind, kann ein Laienleser allerdings kaum beurteilen. Zumal die von Haarmann skizzierten Entwicklungen durch den Umstand beunruhigen, dass es sich um eine kühne Kombination von Hypothesen handelt, denen etwas Spekulatives anhaftet. Was bei solcherlei Interpolationen aus Gentechnik, Sprachwissenschaft und Archäologie unvermeidlich ist. Doch so spekulativ dieser Abriss auch klingen mag: Haarmann gelingt eine knappe, detailreiche und schlüssige Darstellung des Indoeuropäertums.
Hypothetisch ist auch die Rekonstruktion des Ur-Indoeuropäischen. Zu dessen Eigenheiten gehört ein befremdliches Lautsystem mit nur vier Vokalen, dem 30 Konsonanteneinheiten gegenüberstehen – Zusammenrottungen von bis zu drei Krächzlauten sind nichts Ungewöhnliches. Ansonsten gibt sich das Ur-Indoeuropäische stark flektierend und tendiert zum Synthetischen. Der spektakulärste Beleg dafür findet sich bei Aristophanes, der ein Gericht durch die Aneinanderreihung seiner Bestandteile beschreibt: Mit 170 Buchstaben ist es das längste Wort der Literaturgeschichte.
Vor 6500 Jahren wanderten erste Indoeuropäer aus ihrem Stammgebiet ab, zwei weitere Wanderungen folgten. Die dritte Migration vor 5000 Jahren brachte Kurgan-Leute Richtung Westen, es kam zu Kontakten mit den dort ansässigen Ackerbauern. Was man sich aber nicht als Völkerwanderung im wörtlichen Sinn vorstellen darf. Vermutlich waren nur kleine aggressive Clans unterwegs, die in den neu erwanderten Gebieten die Herrschaft an sich rissen. Worauf ein wechselseitiger Prozess der Akkulturation einsetzte, bei dem sich das Ur-Indoeuropäische mit der alteuropäischen Sprache vermischte.
Nur wenige hundert Jahre nach dieser dritten Migration brachen Kurgan-Leute auch nach Osten auf. Nach Zentralasien, wo in der Katakombengräberkultur Vorläufer der Arier fassbar werden, deren mörderische Ideologisierung im 19. und 20. Jahrhundert Haarmann detailliert kritisch aufdröselt. Zunehmende Austrocknung zwang diese Menschen zur Auswanderung Richtung Iran und Indien, wo sie die Urbevölkerung verdrängten. Darunter die Alt-Draviden, aus deren Symbolschatz übrigens das Hakenkreuz stammt. Haarmann: „Die Arier kamen nicht als glorreiche Eroberer nach Indien, ihre Einwanderung hatte zunächst auch keine weiträumige Landnahme zur Folge, und sie brachten auch keine Hochkultur dahin.“
Nun hatte das Indoeuropäertum seine vorerst größte Ausdehnung erreicht – manche Gruppen sind vielleicht sogar bis nach Westchina vorgestoßen, das suggerieren zumindest die rätselhaften Mumien von Ürümchi. Mit der Entdeckung Amerikas griff dann das Indogermanische noch einmal weiter aus, verleibte sich einen Doppelkontinent ein. So dass Haarmann folgern kann: „Praktisch jeder der fast sieben Milliarden Menschen auf der Welt hat heute auf die eine oder andere Weise mit einer indoeuropäischen Sprache zu tun.“ Es ist dies die erstaunliche Karriere einer vor 9000 Jahren entstandenen, vor Konsonanten nur so krächzenden Ur-Sprache. Ob ihre Enkelsprachen sich im 21. Jahrhundert gegen das Chinesische behaupten werden können? REINHARD J. BREMBECK
HARALD HAARMANN: Die Indoeuropäer. Herkunft, Sprachen, Kulturen. Verlag C. H. Beck, München 2010. 128 Seiten, 8,95 Euro.
Kleine, aggressive Clans
rissen in den neuen Gebieten
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Reinhard J. Brembeck schätzt diese Monografie über die Indoeuropäer, die der Sprachforscher Harald Haarmann vorgelegt hat. Er erklärt, dass der Begriff "Indogermanisch" inzwischen wegen seiner ideologischen Gehalts vermieden wird, um dann gespannt Haarmanns Ausführungen über die Geschichte der Indoeuropäer zu folgen. Dass dabei manches wie etwa die Rekonstruktion des Ur-Indoeuropäischen hypothetisch bleiben muss, wundert ihn nicht. Haarmann Darstellung jedenfalls scheint ihm bündig, detailliert und insgesamt überzeugend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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