Dass Philosophie keine Angelegenheit von Spezialisten und Fachleuten sein muss, sondern auch eine praktische Bedeutung hat, zeigte Pierre Hadot schon in seinem Werk Philosophie als Lebensform mit einer überraschenden Neudeutung antiker Texte. Mit seinem Buch über Marc Aurel entwirft der Autor nun ein neues Bild vom Philosophen-Kaiser, der sich in einer der stürmischsten Zeiten des Römischen Reiches, geprägt von Kriegen und Naturkatastrophen, nach einer sorglosen Jugend zu einer radikalen Umkehr entschließt, zu einem philosophischen Leben. Die Ermahnungen an sich selbst, oft als Trost- und Erbauungslektüre missverstanden, werden von Hadot als strenge geistige Übungen interpretiert, deren Ziel es nicht ist, der Welt ihren Schrecken zu nehmen, sondern sich auf reale Bedrohungen vorzubereiten. Dazu dienen die Techniken des Selbst, die meditative Versenkung, die innere Vorbereitung auf den Tod, die Praktiken der Gewissenserforschung und Selbstbeherrschung, und vor allem die rasc he Abrufbarkeit philosophischer Grundregeln und ihre Anwendung. All dies ermöglicht dem Philosophen einen neuen Standort in und gegenüber der Welt, eine innere Freiheit, um dem Leben klar und hellsichtig gegenüberzutreten. Mit dieser großangelegten Studie über Marc Aurel weist Pierre Hadot nicht nur dem Fachpublikum neue Wege zum Verständnis dessen, was Philosophie sein könnte, sondern auch denjenigen, die an einer praktischen, aber nicht verkürzten Bedeutung von Philosophie interessiert sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Der schlaflose Kaiser
Pierre Hadot öffnet Marc Aurels philosophisches Medizinschränkchen / Von Wilfried Nippel
Im ersten Band seiner "History of the Decline and Fall of the Roman Empire" hat Edward Gibbon überlegt, ob die Zeit zwischen dem Tod des römischen Kaisers Domitian (im Jahre 96) und dem Regierungsantritt des Kaisers Commodus (im Jahre 180) als glücklichste Epoche der Menschheit bezeichnet werden könnte. Er schränkte das Urteil jedoch sogleich ein, indem er darlegte, daß der von den Kaisern dieser Zeit praktizierte maßvolle Regierungsstil auf einer höchst prekären Basis beruhte. Kaiser Marc Aurel, der von 161 bis 180 regierte, habe zwar mit seinem Leben den "edelsten Kommentar" zu den Lehren Zenons, des Begründers der Stoa, abgegeben. Aber unter Aufgabe des Prinzips des Adoptivkaisertums habe er mit seinem Sohn Commodus einen Nachfolger bestimmt, dessen monströse Lasterhaftigkeit einen Schatten auf die Tugenden des Vaters geworfen habe.
Marc Aurel ist in der Moderne oft als Vorbild des tugendhaften Herrschers angesehen worden. Friedrich der Große hat 1777 an Voltaire geschrieben, Marc Aurel wäre der ideale Verfasser für eine Schrift über die sittlich gebundene Herrschaft gewesen, der dann sein eigener "Antimachiavell" nicht hätte gleichwertig sein können. Des Preußenkönigs Selbstbezeichnung als "erster Diener seines Staates" geht zurück auf das Wort eines Bewunderers Zenons, des Makedonenkönigs Antigonos Gonatas, der das Königtum als "ehrenvolle Knechtschaft" charakterisiert hatte. Wenn der Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich als "leitender Angestellter der Bundesrepublik Deutschland" verstand, über die philosophische Basis seines Politikverständnisses Auskunft geben sollte, berief er sich nicht nur auf Kant und Popper, sondern auch auf Marc Aurel. Des Herrschers Nachruhm als "Philosoph auf dem Kaiserthron" beruht auf seinen Reflexionen, die auf deutsch zumeist unter den Titeln "Selbstbetrachtungen" oder "Wege zu sich selbst" erscheinen. Pierre Hadot, Professor am Collège de France, sucht heutigen Lesern die Eigenarten dieses Textes zu vermitteln.
Marcus Annius Verus, geboren 121 in Rom, wurde nach dem frühen Tode seines Vaters im Haus seines Urgroßvaters erzogen. Als Kaiser Hadrian kurz vor seinem Tode im Jahre 138 den Onkel des Marcus, Aurelius Antoninus (Antoninus Pius), zum Nachfolger bestimmte, verfügte er zugleich, daß dieser seinen Neffen adoptieren sollte, der damit den Namen Marcus Aurelius Verus annahm. Der Kronprinz erhielt eine umfassende, sowohl rhetorische als auch philosophische Ausbildung. Seine dezidierte Hinwendung zur Philosophie erfolgte etwa zwischen 144 und 147, nachdem er mit den Lehren des stoischen Philosophen Epiktet vertraut gemacht worden war.
Philosoph im Sinne der stoischen Tradition zu sein erforderte eine asketische Lebensweise, die Marc Aurel seitdem in der Öffentlichkeit vorführte und zeit seines Lebens auch dann beibehielt, wenn dies auf seinen häufigen Feldzügen zu Erschöpfungszuständen führte. Philosophie zu treiben bedeutete damals, daß man sich in den über die Jahrhunderte tradierten Doktrinen der Schule übte. Entsprechend wurde es von einem Philosophen auch nicht erwartet, daß er Schriften verfasse. Die Sentenzen, die Marc Aurel - zum Teil auf seinen Feldzügen - niedergeschrieben hat, gehören zum Genre der hypomnemata, der "von einem Tag zum anderen verfaßten persönlichen Notizen". Hier handelt es sich um geistige Übungen, die der Vertiefung in die Lehrsätze des Stoizismus dienen. Die Niederschriften waren nur für den Autor selbst bestimmt. Sie sind auf griechisch verfaßt: Die stoische Philosophie hatte ein höchst differenziertes Vokabular entwickelt, das sich nur bedingt im Lateinischen wiedergeben ließ. Hadot zeichnet eindrücklich nach, wie der Kaiser das ganze Spektrum der stoischen Philosophie - Logik, Ethik, Physik - wiedergibt, obgleich es kein erkennbares inhaltliches Ordnungsprinzip gibt, das die Sammlung durchzieht. Der Stoiker lebt dank seines von Leidenschaften freien Denkens in einer "inneren Burg", in der die "Dinge die Seele nicht berühren" können, wie Marc Aurel wiederholt formuliert. Er weiß, daß den Menschen nicht die Dinge, sondern nur die Urteile über die Dinge beunruhigen können. Nicht der Tod ist etwas Furchtbares, sondern nur die Bewertung, daß er furchtbar sei (so Epiktet).
Die Gestalt der schriftlichen Geistesübungen Marc Aurels läßt sich nicht von seinem Amtsverständnis und seinen Erfahrungen als Herrscher ablösen, der viele Kriege zur Verteidigung der Reichsgrenzen führen mußte und in dessen Zeit die Katastrophe der "Pest"-Epidemie fiel, die wahrscheinlich von den aus dem Partherkrieg zurückkehrenden Truppen im Jahre 166 eingeschleppt worden war. Hadot erwähnt diese Bezüge, doch er wendet sich gegen diverse Interpretationsversuche, die aus dem Werk auf die Psychologie des Kaisers schließen, ihm tiefsitzenden Pessimismus und eine gequälte Seele zuschreiben wollen, oder auf dem Weg der Ferndiagnose Beziehungen zwischen den Texten und den vermuteten Magengeschwüren des Herrschers oder gar einer angeblichen Opiumsucht herstellen. Mit philologischer Liebe zum Detail erläutert Hadot die Wirkung der - auch geringe Anteile Mohnsaft enthaltenden - Mixturen, die dem Kaiser auf Feldzügen zur Bekämpfung seiner nächtlichen Schlaflosigkeit und der Ermüdungserscheinungen während des Tages verabreicht wurden.
Schon in der späteren antiken Tradition ist die Frage kontrovers beurteilt worden, ob Marc Aurel seinem Anspruch, "sich durch den kaiserlichen Purpur nicht verfärben zu lassen", gerecht geworden sei. Sein ausführliches Porträt seines Vorgängers Antoninus Pius, aber auch seine Würdigung jener dem Stoizismus verpflichteten Senatoren, die ein Jahrhundert zuvor von einer Rückkehr zu republikanischen Prinzipien geträumt hatten und unter Nero und Vespasian wegen angeblicher Verschwörungspläne dafür mit dem Leben bezahlen mußten, lassen seine politischen Wertvorstellungen erkennen. Er fühlte sich einem Staatswesen verpflichtet, in dem, wie er selbst formulierte, "gleiches Recht für alle herrscht und das auf der Grundlage der Gleichheit und der Redefreiheit verwaltet wird und von einem Herrschertum, das die Freiheit der Untertanen über alles achtet".
Hadot sieht diese Maximen in Marc Aurels Regierung durchschlagen, verzichtet aber darauf, seine Herrschaftsspraxis im einzelnen zu analysieren. Sein Buch ist eine "Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels" und zugleich eine luzide Darstellung der Gedankenwelt des Stoizismus am Leitfaden der von Marc Aurel traktierten Themen. Es läßt erkennen, warum die "Selbstbetrachtungen", auch wenn sie aus einer einzigartigen geistigen Welt stammen, seit ihrer Wiederentdeckung im sechzehnten Jahrhundert große Wirkung entfalten konnten, zumal bei denjenigen, die politisch handeln müssen und zugleich um die Unabsehbarkeit der Ergebnisse ihrer Entscheidungen wissen.
Pierre Hadot: "Die innere Burg". Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Aus dem Französischen von Makoto Ozaki und Beate von der Osten. Gatza bei Eichborn, Frankfurt am Main 1997. 479 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pierre Hadot öffnet Marc Aurels philosophisches Medizinschränkchen / Von Wilfried Nippel
Im ersten Band seiner "History of the Decline and Fall of the Roman Empire" hat Edward Gibbon überlegt, ob die Zeit zwischen dem Tod des römischen Kaisers Domitian (im Jahre 96) und dem Regierungsantritt des Kaisers Commodus (im Jahre 180) als glücklichste Epoche der Menschheit bezeichnet werden könnte. Er schränkte das Urteil jedoch sogleich ein, indem er darlegte, daß der von den Kaisern dieser Zeit praktizierte maßvolle Regierungsstil auf einer höchst prekären Basis beruhte. Kaiser Marc Aurel, der von 161 bis 180 regierte, habe zwar mit seinem Leben den "edelsten Kommentar" zu den Lehren Zenons, des Begründers der Stoa, abgegeben. Aber unter Aufgabe des Prinzips des Adoptivkaisertums habe er mit seinem Sohn Commodus einen Nachfolger bestimmt, dessen monströse Lasterhaftigkeit einen Schatten auf die Tugenden des Vaters geworfen habe.
Marc Aurel ist in der Moderne oft als Vorbild des tugendhaften Herrschers angesehen worden. Friedrich der Große hat 1777 an Voltaire geschrieben, Marc Aurel wäre der ideale Verfasser für eine Schrift über die sittlich gebundene Herrschaft gewesen, der dann sein eigener "Antimachiavell" nicht hätte gleichwertig sein können. Des Preußenkönigs Selbstbezeichnung als "erster Diener seines Staates" geht zurück auf das Wort eines Bewunderers Zenons, des Makedonenkönigs Antigonos Gonatas, der das Königtum als "ehrenvolle Knechtschaft" charakterisiert hatte. Wenn der Bundeskanzler Helmut Schmidt, der sich als "leitender Angestellter der Bundesrepublik Deutschland" verstand, über die philosophische Basis seines Politikverständnisses Auskunft geben sollte, berief er sich nicht nur auf Kant und Popper, sondern auch auf Marc Aurel. Des Herrschers Nachruhm als "Philosoph auf dem Kaiserthron" beruht auf seinen Reflexionen, die auf deutsch zumeist unter den Titeln "Selbstbetrachtungen" oder "Wege zu sich selbst" erscheinen. Pierre Hadot, Professor am Collège de France, sucht heutigen Lesern die Eigenarten dieses Textes zu vermitteln.
Marcus Annius Verus, geboren 121 in Rom, wurde nach dem frühen Tode seines Vaters im Haus seines Urgroßvaters erzogen. Als Kaiser Hadrian kurz vor seinem Tode im Jahre 138 den Onkel des Marcus, Aurelius Antoninus (Antoninus Pius), zum Nachfolger bestimmte, verfügte er zugleich, daß dieser seinen Neffen adoptieren sollte, der damit den Namen Marcus Aurelius Verus annahm. Der Kronprinz erhielt eine umfassende, sowohl rhetorische als auch philosophische Ausbildung. Seine dezidierte Hinwendung zur Philosophie erfolgte etwa zwischen 144 und 147, nachdem er mit den Lehren des stoischen Philosophen Epiktet vertraut gemacht worden war.
Philosoph im Sinne der stoischen Tradition zu sein erforderte eine asketische Lebensweise, die Marc Aurel seitdem in der Öffentlichkeit vorführte und zeit seines Lebens auch dann beibehielt, wenn dies auf seinen häufigen Feldzügen zu Erschöpfungszuständen führte. Philosophie zu treiben bedeutete damals, daß man sich in den über die Jahrhunderte tradierten Doktrinen der Schule übte. Entsprechend wurde es von einem Philosophen auch nicht erwartet, daß er Schriften verfasse. Die Sentenzen, die Marc Aurel - zum Teil auf seinen Feldzügen - niedergeschrieben hat, gehören zum Genre der hypomnemata, der "von einem Tag zum anderen verfaßten persönlichen Notizen". Hier handelt es sich um geistige Übungen, die der Vertiefung in die Lehrsätze des Stoizismus dienen. Die Niederschriften waren nur für den Autor selbst bestimmt. Sie sind auf griechisch verfaßt: Die stoische Philosophie hatte ein höchst differenziertes Vokabular entwickelt, das sich nur bedingt im Lateinischen wiedergeben ließ. Hadot zeichnet eindrücklich nach, wie der Kaiser das ganze Spektrum der stoischen Philosophie - Logik, Ethik, Physik - wiedergibt, obgleich es kein erkennbares inhaltliches Ordnungsprinzip gibt, das die Sammlung durchzieht. Der Stoiker lebt dank seines von Leidenschaften freien Denkens in einer "inneren Burg", in der die "Dinge die Seele nicht berühren" können, wie Marc Aurel wiederholt formuliert. Er weiß, daß den Menschen nicht die Dinge, sondern nur die Urteile über die Dinge beunruhigen können. Nicht der Tod ist etwas Furchtbares, sondern nur die Bewertung, daß er furchtbar sei (so Epiktet).
Die Gestalt der schriftlichen Geistesübungen Marc Aurels läßt sich nicht von seinem Amtsverständnis und seinen Erfahrungen als Herrscher ablösen, der viele Kriege zur Verteidigung der Reichsgrenzen führen mußte und in dessen Zeit die Katastrophe der "Pest"-Epidemie fiel, die wahrscheinlich von den aus dem Partherkrieg zurückkehrenden Truppen im Jahre 166 eingeschleppt worden war. Hadot erwähnt diese Bezüge, doch er wendet sich gegen diverse Interpretationsversuche, die aus dem Werk auf die Psychologie des Kaisers schließen, ihm tiefsitzenden Pessimismus und eine gequälte Seele zuschreiben wollen, oder auf dem Weg der Ferndiagnose Beziehungen zwischen den Texten und den vermuteten Magengeschwüren des Herrschers oder gar einer angeblichen Opiumsucht herstellen. Mit philologischer Liebe zum Detail erläutert Hadot die Wirkung der - auch geringe Anteile Mohnsaft enthaltenden - Mixturen, die dem Kaiser auf Feldzügen zur Bekämpfung seiner nächtlichen Schlaflosigkeit und der Ermüdungserscheinungen während des Tages verabreicht wurden.
Schon in der späteren antiken Tradition ist die Frage kontrovers beurteilt worden, ob Marc Aurel seinem Anspruch, "sich durch den kaiserlichen Purpur nicht verfärben zu lassen", gerecht geworden sei. Sein ausführliches Porträt seines Vorgängers Antoninus Pius, aber auch seine Würdigung jener dem Stoizismus verpflichteten Senatoren, die ein Jahrhundert zuvor von einer Rückkehr zu republikanischen Prinzipien geträumt hatten und unter Nero und Vespasian wegen angeblicher Verschwörungspläne dafür mit dem Leben bezahlen mußten, lassen seine politischen Wertvorstellungen erkennen. Er fühlte sich einem Staatswesen verpflichtet, in dem, wie er selbst formulierte, "gleiches Recht für alle herrscht und das auf der Grundlage der Gleichheit und der Redefreiheit verwaltet wird und von einem Herrschertum, das die Freiheit der Untertanen über alles achtet".
Hadot sieht diese Maximen in Marc Aurels Regierung durchschlagen, verzichtet aber darauf, seine Herrschaftsspraxis im einzelnen zu analysieren. Sein Buch ist eine "Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels" und zugleich eine luzide Darstellung der Gedankenwelt des Stoizismus am Leitfaden der von Marc Aurel traktierten Themen. Es läßt erkennen, warum die "Selbstbetrachtungen", auch wenn sie aus einer einzigartigen geistigen Welt stammen, seit ihrer Wiederentdeckung im sechzehnten Jahrhundert große Wirkung entfalten konnten, zumal bei denjenigen, die politisch handeln müssen und zugleich um die Unabsehbarkeit der Ergebnisse ihrer Entscheidungen wissen.
Pierre Hadot: "Die innere Burg". Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Aus dem Französischen von Makoto Ozaki und Beate von der Osten. Gatza bei Eichborn, Frankfurt am Main 1997. 479 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main