Die Insel des Doktor Moreau ist ein Science-Fiction-Roman des englischen Autors H. G. Wells (1866-1946) aus dem Jahr 1896 - hier in neu übersetzter Ausgabe. Der Text des Romans ist die Erzählung von Edward Prendick, der ein schiffbrüchiger Mann ist, der von einem vorbeifahrenden Boot gerettet wird. Er wird auf der Insel zurückgelassen, auf der Doktor Moreau lebt, ein verrückter Wissenschaftler, der aus Tieren durch Vivisektion menschenähnliche Mischwesen erschafft. Der Roman behandelt eine Reihe von philosophischen Themen, darunter Schmerz und Grausamkeit, moralische Verantwortung, menschliche Identität und menschliche Eingriffe in die Natur. Wells beschrieb ihn als "eine Übung in jugendlicher Blasphemie".Die Insel des Doktor Moreau ist ein klassisches Werk der frühen Science-Fiction und bleibt eines von Wells' bekanntesten Büchern. Der Roman ist die früheste Darstellung eines Science-Fiction-Motivs, bei dem eine höher entwickelte Rasse in die Evolution einer Tierart eingreift, um diese auf eine höhere Intelligenzstufe zu bringen. Das Werk wurde mehrfach verfilmt und in anderen Medien adaptiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Wer nennt sich Mensch und will dem Tiger in die Streifen greifen?
Der mit Wissenschaft getränkte Gruselroman "Die Insel des Doktor Moreau" von H. G. Wells ist ein Klassiker der Zivilisationskritik. Eine vom Künstler Bill Sienkiewicz bebilderte Neuausgabe entdeckt ihn wieder und beweist, dass seine stofflichen und formalen Vorzüge hochaktuell sind.
Von Dietmar Dath
Wir sind reicher als Herbert George Wells am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war, aber ärmer sind wir auch. Er hatte mehr Phantasie, wir haben mehr Mittel, die Plastizität des Lebendigen unseren Zweckbestimmungen zu unterwerfen. Er hatte Gesellschaft, die andere nicht sehen konnten, als er sein Buch "Die Insel des Doktor Moreau" (1896) schrieb; Albträume vom Absehbaren umgaben ihn: "Die beiden furchtbarsten Tiermenschen waren mein Leopardenmensch und ein Geschöpf, das aus einer Hyäne und einem Schwein gemacht war. Größer als diese waren die drei Stiermenschen, die das Boot ruderten." Nicht leicht, die Übersicht zu behalten: "Ferner gab es noch drei Schweinemänner und eine Schweinefrau, ein Rhinozerosstutengeschöpf und mehrere andere Weibchen, deren Herkunft ich nicht feststellen konnte." Dem Schöpfer dieser Originale stand Wells in seiner Innenschau ebenfalls gegenüber; der sah nicht originell aus: "Ich schaute ihn an und sah nur einen Mann mit weißem Gesicht und weißem Haar und ruhigen Augen". Seine Ansichten sind weniger ruhig: "Das Studium der Natur macht den Menschen schließlich so gewissenlos wie die Natur selbst", sagt Doktor Moreau in der angemessen wuchtig-kalten Übersetzung von Felix Paul Greve. Die große, blutige Ausrede klingt hier, als hätte sie tatsächlich ein Deutscher entdeckt oder sonst ein schlecht erzogener Wilder.
Heute schnippeln Menschen an den Genen von Affen, bis ihre schimärischen Nachkommen das Laborfutter mit grünlichen Fingern anfassen, oder sie setzen ihren Verwandten Schweinenieren ein, mit denen sie Testreihen bis zu zwei Jahre lang aushalten, bevor sie sterben. Wir zwingen Schafen Erbkrankheiten auf, die uns vormals exklusiv vorbehalten waren. Wir verwandeln Ziegen in Fabriken für Antikörper gegen Seuchen, die uns bedrohen. Zwar lässt sich die volkswirtschaftliche Effizienz vieler Lebewesen in unserem Haus- oder Nutztierjoch einstweilen durch die neuesten, Wells und Moreau noch unbekannten Verfahren der Mikrobiologie nicht nennenswert erhöhen - in den USA ergab eine Erhebung im vergangenen August, dass von sieben Millionen Milchkühen dort lediglich 530 der Klonproduktion entstammen. An der Proof-of-Concept-Front aber, wo man sich nicht für Massenproduktion interessiert, sondern für die peu-à-peu Verschiebung der Grenze zwischen dem Denk- und dem Machbaren, verringern wir systematisch und geduldig die Begriffsdifferenz zwischen Ding und Lebewesen. An der University of California zu San Diego hat man jüngst gewisse Einzeller in weiche und langlebige Werkstoffe integriert, die leuchten, wenn man sie zusammendrückt, dehnt oder verdreht. Man wird Robotik und Medizin damit verbessern und dabei anders denken als Wells und Moreau, weniger literarisch, philosophisch und politisch, viel schmaler, weil funktionaler.
Man kann Moreaus Konzept, sofern man diesem Irren etwas Milde widerfahren lassen möchte, "bionische Entwicklungshilfe" nennen: Aus Tieren will er Menschen machen, sie "emporzüchten", denn der Mensch steht höher als sie, weil er auf so was kommt. In der Praxis werden die Armen dann Moreaus Auffassung nach leider etwas weniger als Menschen, sagen wir: Menschen zweiter Klasse. Die koloniale Deutung dieser Perspektive liegt in Anbetracht des Entstehungszeitraums der Romandichtung von Wells sehr nahe, die antikapitalistische in Anbetracht ihres Verfassers auch (Wells war überzeugter Fabier). Aber das Buch ist nicht "historisch" im Sinne von "inhaltlich abgelegt". Es hat weit über die Aktualitätsschnittstellen im Stofflichen seine Richtigkeit, dass hier eine Neuausgabe anzuzeigen ist und dass Bill Sienkiewicz sie illustriert hat. Denn der aktuellste Erkenntniswert des Werks ist die Einsicht in den Funktionswandel der Tätigkeitsfelder Wissenschaft und Forschung in einer von Monopolen dominierten Infowirtschaft und einer von imperialistischer Wut verwüsteten Geopolitik. Schon Moreau forscht nicht, um etwas herauszufinden, sondern er tut dies, um eine Behauptung zu beweisen, nämlich die, dass seine Wesensbestimmung des Menschen, die da lautet: "Ein Mensch ist einer wie ich", den definierten Gegenstand bereits erschöpft.
Zu ermessen, was das heißt, verlangt beim Lesen Abstraktionsvermögen, und Sienkiewicz' Bilder tun das beim Betrachten auch. Die Annahme, ein Bild sei ein sinnlich Gegebenes, bei dem man sich nichts weiter denken müsse, weil man alles eh sehen könne, ist diesem Künstler fremd; selbst Haushaltsgeräte zerlegt sein Blick in Mikrotrümmer und setzt sie als wilde Tiere wieder zusammen, wie man im 1988 erschienenen Comic "Stray Toasters" studieren kann.
Sienkiewicz' "Doktor Moreau"-Farbtafeln und Zeichnungen sind daher keine blinden, stummen Schilder, auf denen sich irgendwas zeigt, das klar ist, sondern Fragen: Woraus sind diese Wesen gemacht? Ein Tiger erscheint als Gewebe: Striche sind Blut, Kraft, Muskeln und Geist, man glaubt, in die starken Fasern fassen zu können, aber man traut sich nicht. Warnbilder und Rätselbilder also, zu einem Warn- und Rätseltext, der fragt: Was passiert mit dir, Mensch, wenn du nicht mehr der Neugier folgst auf deinem Weg durch Natur- und Zivilisationsgeschichte, sondern anderen Sorten von Gier, gedankenarmen - Profitgier etwa oder Machtgier?
H. G. Wells: "Die Insel des Doktor Moreau".
Mit Illustrationen von Bill Sienkiewicz. Aus dem Englischen von Felix Paul Greve.
Liebeskind Verlag, München 2023. 172 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der mit Wissenschaft getränkte Gruselroman "Die Insel des Doktor Moreau" von H. G. Wells ist ein Klassiker der Zivilisationskritik. Eine vom Künstler Bill Sienkiewicz bebilderte Neuausgabe entdeckt ihn wieder und beweist, dass seine stofflichen und formalen Vorzüge hochaktuell sind.
Von Dietmar Dath
Wir sind reicher als Herbert George Wells am Ende des neunzehnten Jahrhunderts war, aber ärmer sind wir auch. Er hatte mehr Phantasie, wir haben mehr Mittel, die Plastizität des Lebendigen unseren Zweckbestimmungen zu unterwerfen. Er hatte Gesellschaft, die andere nicht sehen konnten, als er sein Buch "Die Insel des Doktor Moreau" (1896) schrieb; Albträume vom Absehbaren umgaben ihn: "Die beiden furchtbarsten Tiermenschen waren mein Leopardenmensch und ein Geschöpf, das aus einer Hyäne und einem Schwein gemacht war. Größer als diese waren die drei Stiermenschen, die das Boot ruderten." Nicht leicht, die Übersicht zu behalten: "Ferner gab es noch drei Schweinemänner und eine Schweinefrau, ein Rhinozerosstutengeschöpf und mehrere andere Weibchen, deren Herkunft ich nicht feststellen konnte." Dem Schöpfer dieser Originale stand Wells in seiner Innenschau ebenfalls gegenüber; der sah nicht originell aus: "Ich schaute ihn an und sah nur einen Mann mit weißem Gesicht und weißem Haar und ruhigen Augen". Seine Ansichten sind weniger ruhig: "Das Studium der Natur macht den Menschen schließlich so gewissenlos wie die Natur selbst", sagt Doktor Moreau in der angemessen wuchtig-kalten Übersetzung von Felix Paul Greve. Die große, blutige Ausrede klingt hier, als hätte sie tatsächlich ein Deutscher entdeckt oder sonst ein schlecht erzogener Wilder.
Heute schnippeln Menschen an den Genen von Affen, bis ihre schimärischen Nachkommen das Laborfutter mit grünlichen Fingern anfassen, oder sie setzen ihren Verwandten Schweinenieren ein, mit denen sie Testreihen bis zu zwei Jahre lang aushalten, bevor sie sterben. Wir zwingen Schafen Erbkrankheiten auf, die uns vormals exklusiv vorbehalten waren. Wir verwandeln Ziegen in Fabriken für Antikörper gegen Seuchen, die uns bedrohen. Zwar lässt sich die volkswirtschaftliche Effizienz vieler Lebewesen in unserem Haus- oder Nutztierjoch einstweilen durch die neuesten, Wells und Moreau noch unbekannten Verfahren der Mikrobiologie nicht nennenswert erhöhen - in den USA ergab eine Erhebung im vergangenen August, dass von sieben Millionen Milchkühen dort lediglich 530 der Klonproduktion entstammen. An der Proof-of-Concept-Front aber, wo man sich nicht für Massenproduktion interessiert, sondern für die peu-à-peu Verschiebung der Grenze zwischen dem Denk- und dem Machbaren, verringern wir systematisch und geduldig die Begriffsdifferenz zwischen Ding und Lebewesen. An der University of California zu San Diego hat man jüngst gewisse Einzeller in weiche und langlebige Werkstoffe integriert, die leuchten, wenn man sie zusammendrückt, dehnt oder verdreht. Man wird Robotik und Medizin damit verbessern und dabei anders denken als Wells und Moreau, weniger literarisch, philosophisch und politisch, viel schmaler, weil funktionaler.
Man kann Moreaus Konzept, sofern man diesem Irren etwas Milde widerfahren lassen möchte, "bionische Entwicklungshilfe" nennen: Aus Tieren will er Menschen machen, sie "emporzüchten", denn der Mensch steht höher als sie, weil er auf so was kommt. In der Praxis werden die Armen dann Moreaus Auffassung nach leider etwas weniger als Menschen, sagen wir: Menschen zweiter Klasse. Die koloniale Deutung dieser Perspektive liegt in Anbetracht des Entstehungszeitraums der Romandichtung von Wells sehr nahe, die antikapitalistische in Anbetracht ihres Verfassers auch (Wells war überzeugter Fabier). Aber das Buch ist nicht "historisch" im Sinne von "inhaltlich abgelegt". Es hat weit über die Aktualitätsschnittstellen im Stofflichen seine Richtigkeit, dass hier eine Neuausgabe anzuzeigen ist und dass Bill Sienkiewicz sie illustriert hat. Denn der aktuellste Erkenntniswert des Werks ist die Einsicht in den Funktionswandel der Tätigkeitsfelder Wissenschaft und Forschung in einer von Monopolen dominierten Infowirtschaft und einer von imperialistischer Wut verwüsteten Geopolitik. Schon Moreau forscht nicht, um etwas herauszufinden, sondern er tut dies, um eine Behauptung zu beweisen, nämlich die, dass seine Wesensbestimmung des Menschen, die da lautet: "Ein Mensch ist einer wie ich", den definierten Gegenstand bereits erschöpft.
Zu ermessen, was das heißt, verlangt beim Lesen Abstraktionsvermögen, und Sienkiewicz' Bilder tun das beim Betrachten auch. Die Annahme, ein Bild sei ein sinnlich Gegebenes, bei dem man sich nichts weiter denken müsse, weil man alles eh sehen könne, ist diesem Künstler fremd; selbst Haushaltsgeräte zerlegt sein Blick in Mikrotrümmer und setzt sie als wilde Tiere wieder zusammen, wie man im 1988 erschienenen Comic "Stray Toasters" studieren kann.
Sienkiewicz' "Doktor Moreau"-Farbtafeln und Zeichnungen sind daher keine blinden, stummen Schilder, auf denen sich irgendwas zeigt, das klar ist, sondern Fragen: Woraus sind diese Wesen gemacht? Ein Tiger erscheint als Gewebe: Striche sind Blut, Kraft, Muskeln und Geist, man glaubt, in die starken Fasern fassen zu können, aber man traut sich nicht. Warnbilder und Rätselbilder also, zu einem Warn- und Rätseltext, der fragt: Was passiert mit dir, Mensch, wenn du nicht mehr der Neugier folgst auf deinem Weg durch Natur- und Zivilisationsgeschichte, sondern anderen Sorten von Gier, gedankenarmen - Profitgier etwa oder Machtgier?
H. G. Wells: "Die Insel des Doktor Moreau".
Mit Illustrationen von Bill Sienkiewicz. Aus dem Englischen von Felix Paul Greve.
Liebeskind Verlag, München 2023. 172 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Bionische Entwicklungshilfe", Robotik und geklonte Tiere sind mittlerweile zumindest in Ansätzen realisiert und realisierbar, hält Rezensent Dietmar Dath fest, als H.G. Wells' Grusel-Sci-Fi-Roman Ende des 19. Jahrhunderts zuerst erschienen ist, war das noch nicht so. Der Protagonist Dr. Moreau versucht, Mensch und Tier zu kreuzen, was Dath als eine Parabel auf Technologiefelder liest, die ihre Fortschritte nach bestimmten ideologischen - beispielsweise kapitalistischen oder kolonialen - Bestrebungen umsetzen. In der gelungenen Neuübersetzung und mit den zum Nachdenken anregenden Illustrationen von Bill Sienkiewicz öffnet sich auch eine Perspektive auf die Frage, was Macht- und Wissensgier mit dem Menschen machen, befindet der Kritiker abschließend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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