Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2004Stumme Blicke, Kratzen an der Tür
Wie man zum Schriftsteller wird: Alistair MacLeod erzählt von Leben und Sterben auf der kanadischen Insel Cape Breton
Sechs graue Hunde sind das Schicksal einer schottischstämmigen Sippe aus Cape Breton: Im Sterben, so heißt es, sieht jedes Familienmitglied die Tiere in einer Vision. Der Ursprung dieser Überlieferung liegt vier Generationen zurück, als ein Züchter von seinem riesigen Lieblingshund freudig begrüßt und zu Boden geworfen wurde, um anschließend von den sechs Jungen des Tiers zerfleischt zu werden. Viele Jahre später sieht der Erzähler, der Ururenkel jenes Züchters, in einem Krankenhaus seinem Vater beim Sterben zu, gemeinsam mit seinen fünf Brüdern. Sie alle, um das Bett des Vaters geschart, sind grauhaarig; und während sie hilflos Witzchen über die Prophezeiung reißen, fragt sich der Erzähler, wie sein Vater in der nahen Todesstunde wohl seine Umgebung wahrnehmen wird - und ob er selbst "das Scharren der Pfoten hören" wird "und das Kratzen an der Tür".
Die sechzehn Erzählungen des Kanadiers Alistair MacLeod, die inzwischen auf deutsch vorliegen, spielen fast alle auf Cape Breton, schildern (wie MacLeods großer Roman "Land der Bäume" von 1999) den Übergang einer bäuerlich geprägten Kultur in eine städtische, berichten von der räumlichen Nähe und der Distanz der Gefühle in den Großfamilien der Insel, vom gälischen Erbe und den weltgewandten jungen Landflüchtigen, die auf dem Festland einer bessere Zukunft jenseits der kargen Böden und der Kohlenbergwerke der Insel suchen - und die doch immer wieder heimkehren in die verwitterten Gehöfte, die ihre Eltern und Großeltern aufsuchen und insgeheim wissen, daß erst ihre eigenen Kinder den Abstand zur Armut Cape Bretons finden werden.
Weil sich diese zwischen 1968 und 1999 entstandenen Geschichten thematisch oft berühren, weil sie denselben Lebenskreis schildern, bieten sie die Gelegenheit, dem Schriftsteller MacLeod beim Wachsen zuzusehen. Besonders die frühen Erzählungen tragen manchmal schwer an der Last, eine intensiv erlebte Welt zu schildern und die Beschreibung gleichzeitig zu rechtfertigen: Da wird Offensichtliches ausgesprochen, um die Bedeutung der erzählten Schicksale zu betonen, der Autor streut Adjektive, um die Farben noch etwas stärker aufzutragen, und kommentiert etwa die Rettung aus einem - allerdings großartig beschriebenen - Wintersturm mit den Worten: "Wir waren wieder einmal davongekommen."
Dann aber, je jünger die Erzählungen sind, findet sich mehr und mehr Meisterliches wie etwa "Vögel bringen die Sonne hervor", die Geschichte der grauen Hunde. Hier wie auch in "Die Suche nach Vollkommenheit" oder "Die Insel" gelingt es MacLeod, mit kluger Ökonomie (und einer Schwäche für stumme Blickwechsel) einen Bogen zwischen den Zeiten zu schlagen, Jugend und Alter einer Figur ineinanderfließen zu lassen und im Verhältnis der Generationen einer Familie das Trennende zu betonen und im selben Atemzug das Verbindende aufscheinen zu lassen.
So ist es kein Zufall, daß nicht wenige dieser Erzählungen die Perspektive eines Älteren einnehmen, der sich an einen bestimmten Abschnitt seiner Jugend erinnert, eine Zeit, die wiederum auf das Leben des Erwachsenen einen beträchtlichen, oft erst später entdeckten Einfluß ausübt. Der Erwachsene ordnet, bewertet, vermißt oder bedauert das Geschehene, er beschreibt die Arbeit der Eltern als Fischer, seltener als Bauern, oft auch die lange Abwesenheit des Vaters, der in den Kohlengruben auf dem Festland oder im Norden Cape Bretons seine Gesundheit ruiniert, in Städten, die New Waterford oder Sydney heißen, während die Mütter an der allgegenwärtigen Armut verbittern.
All dies ist eingebettet in Naturschilderungen, die mit der zunehmenden Meisterschaft des Autors deutlicher in den Dienst der Geschichte treten, die das enge Verhältnis unterstreichen, das die Figuren mit der Insel eingehen, ohne daß der Erzähler dies noch eigens benennen müßte. Was dabei in der Summe des Erzählten entsteht, ist das Bild einer Weltgegend, die sich dem Zufallsbesucher beharrlich verschließt (auch dafür gibt es Beispiele in diesem Band), die erarbeitet, ergraben, erwandert werden will. Und die durch MacLeod endgültig zu einem Ort der Literatur geworden ist.
Alistair MacLeod: "Die Insel". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 441 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man zum Schriftsteller wird: Alistair MacLeod erzählt von Leben und Sterben auf der kanadischen Insel Cape Breton
Sechs graue Hunde sind das Schicksal einer schottischstämmigen Sippe aus Cape Breton: Im Sterben, so heißt es, sieht jedes Familienmitglied die Tiere in einer Vision. Der Ursprung dieser Überlieferung liegt vier Generationen zurück, als ein Züchter von seinem riesigen Lieblingshund freudig begrüßt und zu Boden geworfen wurde, um anschließend von den sechs Jungen des Tiers zerfleischt zu werden. Viele Jahre später sieht der Erzähler, der Ururenkel jenes Züchters, in einem Krankenhaus seinem Vater beim Sterben zu, gemeinsam mit seinen fünf Brüdern. Sie alle, um das Bett des Vaters geschart, sind grauhaarig; und während sie hilflos Witzchen über die Prophezeiung reißen, fragt sich der Erzähler, wie sein Vater in der nahen Todesstunde wohl seine Umgebung wahrnehmen wird - und ob er selbst "das Scharren der Pfoten hören" wird "und das Kratzen an der Tür".
Die sechzehn Erzählungen des Kanadiers Alistair MacLeod, die inzwischen auf deutsch vorliegen, spielen fast alle auf Cape Breton, schildern (wie MacLeods großer Roman "Land der Bäume" von 1999) den Übergang einer bäuerlich geprägten Kultur in eine städtische, berichten von der räumlichen Nähe und der Distanz der Gefühle in den Großfamilien der Insel, vom gälischen Erbe und den weltgewandten jungen Landflüchtigen, die auf dem Festland einer bessere Zukunft jenseits der kargen Böden und der Kohlenbergwerke der Insel suchen - und die doch immer wieder heimkehren in die verwitterten Gehöfte, die ihre Eltern und Großeltern aufsuchen und insgeheim wissen, daß erst ihre eigenen Kinder den Abstand zur Armut Cape Bretons finden werden.
Weil sich diese zwischen 1968 und 1999 entstandenen Geschichten thematisch oft berühren, weil sie denselben Lebenskreis schildern, bieten sie die Gelegenheit, dem Schriftsteller MacLeod beim Wachsen zuzusehen. Besonders die frühen Erzählungen tragen manchmal schwer an der Last, eine intensiv erlebte Welt zu schildern und die Beschreibung gleichzeitig zu rechtfertigen: Da wird Offensichtliches ausgesprochen, um die Bedeutung der erzählten Schicksale zu betonen, der Autor streut Adjektive, um die Farben noch etwas stärker aufzutragen, und kommentiert etwa die Rettung aus einem - allerdings großartig beschriebenen - Wintersturm mit den Worten: "Wir waren wieder einmal davongekommen."
Dann aber, je jünger die Erzählungen sind, findet sich mehr und mehr Meisterliches wie etwa "Vögel bringen die Sonne hervor", die Geschichte der grauen Hunde. Hier wie auch in "Die Suche nach Vollkommenheit" oder "Die Insel" gelingt es MacLeod, mit kluger Ökonomie (und einer Schwäche für stumme Blickwechsel) einen Bogen zwischen den Zeiten zu schlagen, Jugend und Alter einer Figur ineinanderfließen zu lassen und im Verhältnis der Generationen einer Familie das Trennende zu betonen und im selben Atemzug das Verbindende aufscheinen zu lassen.
So ist es kein Zufall, daß nicht wenige dieser Erzählungen die Perspektive eines Älteren einnehmen, der sich an einen bestimmten Abschnitt seiner Jugend erinnert, eine Zeit, die wiederum auf das Leben des Erwachsenen einen beträchtlichen, oft erst später entdeckten Einfluß ausübt. Der Erwachsene ordnet, bewertet, vermißt oder bedauert das Geschehene, er beschreibt die Arbeit der Eltern als Fischer, seltener als Bauern, oft auch die lange Abwesenheit des Vaters, der in den Kohlengruben auf dem Festland oder im Norden Cape Bretons seine Gesundheit ruiniert, in Städten, die New Waterford oder Sydney heißen, während die Mütter an der allgegenwärtigen Armut verbittern.
All dies ist eingebettet in Naturschilderungen, die mit der zunehmenden Meisterschaft des Autors deutlicher in den Dienst der Geschichte treten, die das enge Verhältnis unterstreichen, das die Figuren mit der Insel eingehen, ohne daß der Erzähler dies noch eigens benennen müßte. Was dabei in der Summe des Erzählten entsteht, ist das Bild einer Weltgegend, die sich dem Zufallsbesucher beharrlich verschließt (auch dafür gibt es Beispiele in diesem Band), die erarbeitet, ergraben, erwandert werden will. Und die durch MacLeod endgültig zu einem Ort der Literatur geworden ist.
Alistair MacLeod: "Die Insel". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 441 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Ein großer Schriftsteller", jubelt Verena Auffermann angesichts dieses Bandes mit sechzehn Erzählungen des Kanadiers Alistair MacLeod. Seine Geschichten spielen fern ab "vom Dreck der Welt", an der Mündung des St.-Lorenz-Stroms, wo es noch Natur gibt und die Menschen von Großstadtquerelen und den "Märkten der Eitelkeit" nichts ahnen, berichtet die Rezensentin. Vor diesem Hintergrund erzähle MacLeod vom Begehren, das er in der Landschaft spiegelt, in dem Bestreben, beides zur Einheit zu bringen, so Auffermann. Dass dies nicht zur "Naturromantik" und falschen Idylle gerate, sieht die Rezensentin in der "unromantischen Härte" der Einsichten des Autors ebenso begründet, wie in der Tatsache, dass er kein Kritiker der Moderne sei, der melancholisch einer besseren Vergangenheit nachtrauert. In MacLeods Buch, dass Brigitte Jakobeit "vorzüglich" ins Deutsche übertragen habe, spielt das Zeitgeschehen weder als Schreckgespenst noch überhaupt eine Rolle, "die Uhr übernimmt die Sonne, nur das Zählwerk, das den Tod bringt, gilt", schwärmt Auffermann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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