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In der Bundesrepublik Deutschland hatte bis heute keine andere Intellektuellengruppe einen ähnlich großen Einfluß wie die sogenannte "Frankfurter Schule", zu der gewöhnlich Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und der um eine Generation jüngere Jürgen Habermas gezählt werden. Die Frankfurter Schule vermochte mit der Protestjugend von 1968 eine ganze Generation und über sie die politische Kultur der Bundesrepublik zu prägen. Die späte, ganz unerwartete Breitenwirkung einer in der Weimarer Republik entstandenen und 1933 zur Emigration gezwungenen Gruppe marxistischer Philosophen,…mehr

Produktbeschreibung
In der Bundesrepublik Deutschland hatte bis heute keine andere Intellektuellengruppe einen ähnlich großen Einfluß wie die sogenannte "Frankfurter Schule", zu der gewöhnlich Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und der um eine Generation jüngere Jürgen Habermas gezählt werden. Die Frankfurter Schule vermochte mit der Protestjugend von 1968 eine ganze Generation und über sie die politische Kultur der Bundesrepublik zu prägen. Die späte, ganz unerwartete Breitenwirkung einer in der Weimarer Republik entstandenen und 1933 zur Emigration gezwungenen Gruppe marxistischer Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschaftler läßt sich allein mit den bekannten Studien zur Ideengeschichte der Kritischen Theorie und Institutsgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung nicht erklären. Der Band schließt zwar an diese Studien an, verfolgt aber weitergehende Fragen wie die nach dem Einfluß auf die intellektuelle Bewältigung des Nationalsozialismus. Damit werfen d ie Autoren ein neues Licht auf die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Dialektik
Dass die Deutschen wieder die Kraft haben, Beethoven zu hören, verdanken sie Adorno: Zur Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule / Von Lorenz Jäger

Der Anlass für das Buch von Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann und ihren Mitarbeitern war eine Irritation. Als sich Golo Mann 1989 in einem Fernsehinterview über Horkheimer und Adorno in Kraftworten aussprach, die an seiner Erbitterung keinen Zweifel ließen, fragte man sich verwundert, woher die Verärgerung stammte: Golo Mann selbst hatte keinen weiteren Kommentar geben wollen. Leidenschaftlich wurde damals in den Leserbriefen dieser Zeitung um diesen Angriff auf die Lichtgestalten des humanen Denkens gestritten. Aus den Berichten von Zeitzeugen wie dem Ökonomen Fritz Neumark und dem Soziologen Friedrich H. Tenbruck ging hervor, dass die Attacke nicht grundlos geführt worden war. Horkheimer hatte Golo Manns Aussichten auf einen Frankfurter Lehrstuhl für Politikwissenschaft hintertrieben, indem er ihn beim hessischen Kultusministerium als "heimlichen Antisemiten" anschwärzte. Der Vorwurf ist ebenso schwer zu begründen wie zu widerlegen, Takt- und Tonfragen spielen hinein. Tatsächlich hatte sich Golo Mann in einem Vortrag in der Kategorie vergriffen, indem er nicht nur die Frage nach dem Realitätsgehalt antisemitischer Klischees gestellt, sondern zudem von einer "Schuld" der Opfer gesprochen hatte. Am ehesten ließe sich wohl bei ihm, einem Enkel assimilierter Juden, von Ambivalenz sprechen.

Eine Irritation aber, mögen ihre Anlässe noch so fragwürdig und schief sein und sie mag kommen woher auch immer, ist für die Entwicklung wissenschaftlicher Fragen immer ein Glück. Und in diesem Fall führt sie zum Kern der Sache: Jeder Streit um die Kritische Theorie tendiert dazu, ein Streit um die Juden in Deutschland zu werden, um die "Aufarbeitung der Vergangenheit" und die "Erziehung nach Auschwitz". Wer von der Irritation ausgeht, hat eine Chance, die Nervenpunkte des heutigen Deutschland zu treffen.

Alex Demirovic geht auf diesen Zwischenfall aus der Nachgeschichte der Kritischen Theorie nicht ein. Aber sein Buch lässt sich als genauer Gegenentwurf zu der Historisierung lesen, um die es Clemens Albrecht und seinen Mitarbeitern geht. Demirovics Habilitationsschrift, geschrieben aus der Innenperspektive eines Mitglieds des Frankfurter "Instituts für Sozialforschung", verfolgt das Ziel, den Nachkriegsaktivitäten Horkheimers und Adornos einen normativen Kern abzugewinnen: den des "nonkonformistischen Intellektuellen" und der "Wahrheitspolitik". Was ihm vorschwebt, ist eine verbindliche Rechtfertigung der intellektuellen Praxis der Institutsgründer.

Seit dem Tod von Horkheimer und Adorno hat jedes Jahrzehnt eine eigene Geschichte ihrer Theorie gesehen: Zunächst kam Martin Jay, der noch aus dem gerade noch lebendigen kulturrevolutionären Impuls schöpfte, als er mit viel Sympathie für den in Amerika verbliebenen, revolutionsrhetorisch schärferen Herbert Marcuse seine Geschichte unter dem Titel "Dialektische Phantasie" schrieb. In den achtziger Jahren, als die Linke zerfallen war, warf Rolf Wiggershaus einen enttäuschten Blick auf die Anpassungsprozesse, die er auf die vorsichtige Institutspolitik Horkheimers in den fünfziger Jahren zurückdatierte.

Inzwischen hat sich die Lage noch einmal verändert. Die Edition von Horkheimers Briefen macht erstmals das weite Korrespondentennetz überschaubar, mit dem er in das akademische und publizistische Leben der jungen Bundesrepublik zu wirken verstand. Er wurde bewundert, hofiert, er war ein strategisch kluger Leiter des Instituts mit besten Kontakten zu amerikanischen Institutionen, er verwickelte sich in akademische Intrigen auch gegen die eigenen Schüler - und wurde schließlich mit seiner konservativen Spätphilosophie zum ersten Renegaten einer Theorie, die er begründet hatte.

Zur neuen Editionslage trat ein zweiter Aspekt: Während man in den früheren Jahrzehnten die mangelnde Praxis beklagt, und die Situation als intellektuelle Minderheit teils melancholisch, teils kokettierend ausgespielt hatte, wurde mit dem Abstand der Jahre immer deutlicher, dass die Wirkung längst stattgefunden hatte. Sie war zuvor gleichsam zu groß gewesen, um sichtbar zu sein. Erst als die Schüler der Kritischen Theorie ins Emeritierungalter kamen und die unmittelbare Faszination erschöpft war, bemerkte man, dass sich die deutsche Geistesrepublik nachhaltig verändert hatte.

Im zeitlichen Abstand wurde die prägende Kraft der Theorie deutlich, die mehrere Generationen von Geisteswissenschaftlern, Kritikern und Journalisten in ihren Bann geschlagen hatte. So wanderte die Erforschung der Kritischen Theorie aus der reinen Texthermeneutik und Philosophiegeschichte in die Zeitgeschichte ab und erzeugte neue Interessen: Im letzten Jahr wurden erstmals die Memoranden publiziert, die Herbert Marcuse während seiner Tätigkeit für den amerikanischen Geheimdienst OSS im Zweiten Weltkrieg verfasst hatte; auch Otto Kirchheimer und Franz Neumann, Staatstheoretiker des emigrierten Frankfurter Instituts, waren beteiligt. Ähnlich steht es mit den noch nicht wieder aufgelegten Arbeiten Siegfried Kracauers, des ersten Mentors von Adorno: In der Ära des Kalten Kriegs untersuchte er in enger Zusammenarbeit mit Leo Löwenthal die Wirkung der "Voice of America" in den Randländern des Ostblocks. Das war "applied social research", aber auch eine Politisierung der Theorie. Es gehört zu den Ironien der Rezeption in der Neuen Linken, dass ein reflektierender Text zur qualitativen Sozialforschung, den Kracauer damals nach seinen Interviews mit Ostblockflüchtlingen schrieb, in den siebziger Jahren völlig kontextfrei als Beitrag zur kritischen Soziologie gewertet wurde.

Ein weiterer zeitgeschichtlicher Aspekt erschloss sich aus Horkheimers Briefen: Hatte man früher die Rolle der jüdischen Intellektuellen bewundernd, aber eher distanziert und abstrakt oder theologisch debattiert, so konnte man nun erkennen, dass es in der Tat vor allem jüdische Institutionen waren, die Horkheimer bei seiner Rückkehr nach Deutschland zur Seite gestanden hatten. Die Beziehung zum "American Jewish Congress" war für Horkheimer die, auf die er rechnen konnte, auch wenn andere Partner ausfielen. So kam es zu einer neuen, politisch konturierten Lesart der Frankfurter Schule genau in dem Moment, als ihre unmittelbaren politischen Möglichkeiten erschöpft schienen und dafür die Archive geöffnet wurden.

Vor allem aber, so behaupten Clemens Albrecht und seine Mitstreiter, sei für die Legitimität einer Nation die Deutung ihrer Vergangenheit entscheidend. In besonderem Maße galt und gilt dies für die Bundesrepublik. Das österreichische Modell einer "Externalisierung" der Schuld war versperrt, auch eine schlichte Berufung auf die antifaschistischen Traditionen der linken Arbeiterbewegung wie in der DDR war nicht möglich. So eröffnete sich der Weg zur "Internalisierung", den die Kritische Theorie vorschlug, "indem die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu einer staatlichen, gesellschaftlichen und pädagogischen Daueraufgabe wurde, an die jede Generation neu herangeführt wird".

Und genau hier lassen sich Unterschiede im Ton feststellen, die auf solche in der Sache deuten. Für den verstorbenen Tenbruck, der in den fünfziger Jahren Horkheimers Assistent war und die Studien von Albrecht & Co. inspirierte, ist der Frankfurter Beitrag zur Geschichtspolitik kaum mehr als ein nachträgliches Spiel intellektueller Moralisten, dem er erkennbar nicht viel abgewinnen kann. Albrecht dagegen neigt, bei allen sarkastischen Wendungen, an denen das Buch reich ist, dazu, den Frankfurter Weg zum Erfolgsmodell zu erklären. Der "Gewissenskampf ohne Absolutionsmöglichkeit" sei zum Fundament einer neuen Nationsbildung geworden: "Gerade das Lossagen von den eigenen Eltern war in der Protestgeneration ein Akt nationaler Solidarität, indem man sich für die Taten der Eltern oder auch nur der Landsleute verantwortlich zu fühlen begann." Ganz ähnlich hatte übrigens schon Adorno selbst in "Schuld und Abwehr" argumentiert.

Zudem brachten die remigrierten "Frankfurter" nicht nur die Verwestlichung nach Deutschland. Adorno und Horkheimer waren in einem heute kaum noch vorstellbaren Maß an die deutsche Hochkultur des neunzehnten Jahrhunderts gebunden, nicht zuletzt an die deutsche Sprache. Bei aller Liebe zu den Werten der Freiheit: Amerikanische Intellektuelle konnten sie nicht werden, Resonanz nur in Deutschland finden. Man muss Adornos Fragment gebliebenes Werk über Beethoven lesen, aus dem die geradezu verzweifelte Liebe spricht: Er erkennt bei Beethoven den Charakter ungezügelter, gewalttätig-autoritärer Wut und geht mit ihm ins Gericht, aber er sieht ihn verschwistert mit den zartesten und höchsten Regungen. Seine Auseinandersetzung mit Beethoven spricht von Liebe zu und Leiden an Deutschland, man wird es nicht für zufällig halten, dass gerade dieses Werk nicht abgeschlossen wurde, das in seiner begrifflichen Verfassung alles wiederholt, was der Soziologe über die gegensätzlichen Pole von autoritärem und voruteilsfreiem Charakter ermittelt hatte. Albrecht Wellmer hat diese Wirkung auf den Begriff gebracht: "Mit Adorno wurde es in Deutschland wieder möglich, intellektuell, moralisch und ästhetisch gegenwärtig zu sein und doch Kant, Hegel, Bach, Beethoven, Goethe oder Hölderlin nicht zu hassen." Auch das, was Horkheimer gelegentlich über Bruckner oder die Gedichte seines schwäbischen Landsmannes Justinus Kerner verlauten ließ, kann man nicht anders als mit Rührung lesen.

1951 wurde in Frankfurt das "Institut für Sozialforschung" wieder gegründet. Für die Heutigen war es also immer schon eine feste Größe, ein Teil der bundesrepublikanischen Moderne. Allerdings mit entscheidenden Verschiebungen in seinem Charakter, seinem Selbstverständnis und seiner öffentlichen Stellung. Die Gründung bedeutete zunächst einen Abschied vom Programm des interdisziplinären Marxismus, das Horkheimer urprünglich vertreten hatte, wie auch vom schwarzen Panorama der "Dialektik der Aufklärung". Es wurde mit der Aufgabenbeschreibung "Empirische Sozialforschung" gegründet, und man traute ihm zu, mit den Methoden des amerikanischen "social research" in einer geistig orientierungslosen deutschen Soziologie aufbauend zu wirken. Unter den ersten Aufsätzen Adornos nach der Rückkehr sind zwei der empirischen Sozialforschung gewidmet. Es ging, etwa in der "Darmstädter Gemeindestudie", um nahe liegende und praktische Fragen der Stadtsoziologie, um Flüchtlings-Integration und Wiederaufbau. Zugleich aber kam mit dem "Aufstieg der Soziologie zu einer öffentlichen Deutungsmacht erster Ordnung" (Albrecht) ein Prestigezuwachs für das Institut, den Horkheimer geschickt zu nutzen verstand. Schon die Institutsstudie zu "Schuld und Abwehr" hatte die Stellung zur jüngsten Vergangenheit zum Thema. Selbst das "Amt Blank", das die Gründung der Bundeswehr vorbereitete, trat mit Wünschen zur Politikberatung an das Institut heran.

Die eigentliche Zäsur kam 1959, als mit Hakenkreuzschmierereien in westdeutschen Städten das Institut plötzlich zum politisch gefragten Spezialisten für sozialpsychologische Fragen der "Vergangenheitsbewältigung" wurde. Horkheimer, immer leicht geneigt, an Verschwörungen und "rackets" zu glauben, sah übrigens in den Schändungen die lange Hand Nassers am Werk. Nun entstanden Adornos politisch-pädagogische Interventionen zur "Erziehung nach Auschwitz", die in den sechziger Jahren kanonisch wurden.

Adorno, so stellt Clemens Albrecht überzeugend dar, war es, der nach dem Rücktritt Horkheimers von der Institutsleitung die "eigentliche marxistische Verschärfung" einleitete. Er war der Theorie in anderer, intensiverer Weise verbunden als Horkheimer. Als Schüler von Hans Cornelius aus einer empirisch-kritischen Richtung der Philosophie kommend, wurde er in den zwanziger Jahren von der Psychoanalyse geprägt, von der Wiener Schule der neuen Musik, in der er ein ähnliches Gruppen-Selbstbewusstsein erfuhr, wie es später für die "Frankfurter" charakteristisch wurde, vom Hegel-Marxismus des Georg Lukàcs und schließlich vom Surrealismus. Er hatte als junger Mann für die Modernität von kulturellen Gehalten ein absolutes Gehör ausgebildet und bezog daraus das Selbstgefühl, einer Gegenelite anzugehören, oder mehr noch: sie in seiner Person zu verkörpern. Für diesen Bildungsprozess ist der Briefwechsel mit Alban Berg eine unschätzbare Quelle. Adornos oft belächelte Liebe zum alteuropäischen Adel war dazu das genaue Gegenstück auf der Ebene des empirischen Charakters. Bis zu seinen letzten Schriften bewahrte er eine Marx-Orthodoxie, die freilich in ihrer Substanz ausdünnte. Schließlich blieb kaum mehr als eine zum universellen Verblendungszusammenhang gesteigerte These vom "Fetischcharakter der Ware".

Es kommt hinzu, dass die Theorie für Adorno eine kryptotheologische Funktion erfüllte. Als junger Mann hatte er am Rande der Konversion zum Katholizismus gestanden - wie zehn Jahre später seine Frau Gretel. Der Essay zur Kulturindustrie in der "Dialektik der Aufklärung" spielt mit den Bildern, die die Apokalypse vom Antichrist zeichnet. Kulturindustrie ist die Parodie der wirklichen Erfüllung, sie ist die Allmacht in dieser Welt, eine Sendung aus der Produktionsleitung statt aus dem Bewusstsein Gottes. "Indem sie auflösen, kommen sie, um zu erfüllen", heißt es von den Filmstars - man muss die biblischen Anklänge einer Verhöhnung des Messianischen hier mithören, um den Text ganz zu verstehen. Dagegen sind alle Bestimmungen, die die "Negative Dialektik" von der Wahrheit gibt, solche des wahren Messias: Sie tritt in verletzlicher, in Knechtsgestalt auf, und die "Auferstehung des Fleisches" ist ihre letzte Sehnsucht.

Horkheimers Selbstbewusstsein war nie so ausschließlich an eine Theorie gebunden, obwohl seine Abhandlung "Traditionelle und Kritische Theorie" in den dreissiger Jahren die Kodifizierung der Schulmethode einleitete. Der Wille, im moralischen Sinne lehrend zu wirken, den schon seine ersten, in der Jünglingszeit verfassten Erzählungen und Novellen aussprechen, stammt aus einer humanitären Sensibilität, die er manchmal fast als somatische Qual empfunden haben mag. Und schon früh findet sich in der Freundschaft mit Friedrich Pollock die Urzelle des späteren Symphilosophierens. Horkheimers Theorie war immer schon in der Sensibilität der Person gebrochen, ein Zeichen dafür ist die lebenslange Verehrung für Schopenhauer. Sie ermöglichte ihm die Wendungen der Nachkriegszeit. Die alten Texte wurden sekretiert, selbst die unmittelbar vor Kriegsende erschienene "Dialektik der Aufklärung", und an ihre Stelle trat die repräsentative Stellung, zeitweise als Rektor der Frankfurter Universität. Demirovic allerdings kann zeigen, dass selbst in der Gattung der Universitätsrede etwas von den alten Impulsen mitschwang.

Horkheimer, der Gründer, Stichwortgeber und Koordinator der Kritischen Theorie konnte so zu ihrem ersten Abtrünnigen werden. Seine Notizen der sechziger und frühen siebziger Jahre bilden eine genuine theoretische Leistung, auch wenn sie bisher meist als Abstieg von der Höhe der großen Essays aus der "Zeitschrift" wahrgenommen wurden. Er allein nahm es auf sich, die eigene Person zum Instrument, zum Seismographen des Theoriezerfalls zu machen und so zum Sündenbock zu werden. Die merkwürdige Spätphilosophie, die der unermüdliche Freund Pollock als sein Eckermann in allabendlichen Gesprächsnotizen festgehalten hat, schwankt zwischen politischen Improvisationen zur Zeitlage, denen meist Artikel aus den Zeitschriften "Life" oder "Time Magazine" zugrunde liegen, und durchaus vorurteilsvollen Verlautbarungen über die asiatische Bedrohung des Westens, die "gelbe Gefahr". Aber je ungeschützter sich die gleichsam unter Schmerzen gefassten Gedanken präsentieren, umso fassbarer wird ein Mensch, der seine Endlichkeit anerkennt.

Erstmals wird von Clemens Albrecht und Alex Demirovic das Netzwerk der akademischen und publizistischen Vermittler erkennbar gemacht, mit dem die "Frankfurter" sich die Dominanz erkämpften. Dazu gehörten die Linkskatholiken der "Frankfurter Hefte" um Eugen Kogon und Walter Dirks, weiterhin Schüler, die Journalisten, Lehrer oder Theologen wurden. Vor allem die "edition suhrkamp", an der Karl Markus Michel, ein ehemaliger Institutsmitarbeiter, maßgeblichen Anteil hatte, leitete die Verbindung von "Suhrkamp-Culture" und Kritischer Theorie ein. In großen Auflagen wurde nun Adornos "Jargon der Eigentlichkeit" verbreitet, der einen schon auf dem Rückzug befindlichen Heideggerianismus der Lächerlichkeit preisgab. Es folgten die eingängigeren Texte von Herbert Marcuse, die auf die beginnende Protestkultur wirkten.

Aber auch innerhalb der Fachdisziplinen wuchs der Einfluss und vor allem die Prominenz. Wer mag, kann die Einzelheiten der akademischen Manöver unter den Soziologen und Philosophen bei Demirovic nachlesen, der das Schicksal fast jedes einzelnen DFG-Antrags ausbreitet. Abgrenzen mussten sich die Frankfurter aber vor allem in der Frühzeit des Instituts von "Turkestan" - Adornos Chiffre für den sowjetischen Machtbereich. Als im ersten Heft der Ostberliner Zeitschrift "Sinn und Form" (von Hans Mayer?) kundig zusammengestellte Auszüge aus der "Dialektik der Aufklärung erschienen, distanzierten sich die Autoren - auch hierzu nichts bei Demirovic.

Unter den ersten akademischen Vermittlern ist vor allem der Soziologe Heinz Maus zu nennen, der schon vor 1933 zu Adornos Schülern gezählt hatte. In der Zeitschrift "Umschau", die in den ersten Nachkriegsjahren in der französischen Zone unter der Leitung von Manès Sperber erschien, publizierte er Texte von Adorno und Horkheimer, die im Exil entstanden waren. Bei Albrecht, und wiederum nicht bei Demirovic, kann man nachlesen, wie es zu seinem kurzen Gastspiel an der Ostberliner Humboldt-Universität kam, wo Maus gemeinsam mit dem alten Nationalbolschewisten Ernst Niekisch Kurse abhielt: Maus war durch Kontakte zu einem kommunistischen Offizier ins Visier der französischen Abwehr geraten. Nach seiner Rückkehr in den Westen wurde er Assistent am Institut, wo er Pläne entwickelte, die den Absichten des Direktors offenbar vorausliefen. Nicht nur war ihm die ältere Kritische Theorie bekannt, die ansonsten im Institut "kommunikativ beschwiegen" wurde. Er hatte bereits ein Szenario für eine unfreundliche Übernahme der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholoigie" entwickelt, das Adorno für einen Moment begeisterte.

Die Distanz von der Schule hat Albrecht und seinen Mitarbeitern zu einem originellen Ansatz verholfen, der es überhaupt erst wieder möglich macht, sinnvoll über die Kritische Theorie nachzudenken. Leider steht es mit der Mammut-Studie von Demirovic anders. Man kann aus ihrem Scheitern eine Warntafel für künftige Historiker extrapolieren: Sorge dafür, dass das Objekt deiner wissenschaftlichen Untersuchung nicht zugleich deine normative Leitfigur wird. Die rauhe, unebene Oberfläche, die auch Intellektuellenbiographien eigen ist, wird vorschnell geglättet. Denn dies ist mit Demirovics Figur des "nonkonformistischen Intellektuellen" der Fall. Am Ende sind die Protagonisten dieselben geblieben, die sie schon am Anfang waren, nur der Leser ist um die Kenntnis von Aktenmetern bereichert. Demirovic erzählt eine allzu plane Geschichte, gewiss mit stupender Kenntnis der Details, aber die Begriffe bleiben spannungslos: Sie taugen nur zu neuer Pädagogisierung.

Adornos Philosophie der sechziger Jahre kreiste um das "System": das philosophische, in dem er ein Abbild der gesellschaftlichen Zwangsstruktur zu erkennen glaubte, und um die Möglichkeiten der Vernunft, ihm entgegenzudenken. Trotzdem blieben auch seine eigenen Projekte vom Systemgedanken der idealistischen Philosophie beherrscht: Auf die "Negative Dialektik", sozusagen seine "Kritik der reinen Vernunft", sollte die Ästhetik folgen, dann eine Moralphilosophie. Marx blieb, wenn auch nur als Erinnerung. Aber es gab keine Handlungstheorie, keine realistische Vorstellung von sozialen Konflikten - alles wurde einem scheinbar "objektiven Stand" überlassen, sei es der gesellschaftlichen Verhältnisse oder der musikalischen Mittel. Nur das Höchste sollte möglich sein, und zugleich war es unmöglich. Damit kam eine Zweideutigkeit in die Theorie, ein Zwiespalt von marxistischer Rhetorik und praktischer Warteschleife, der notwendig, vorhersehbar aufbrechen musste. Die Studentenrevolte vor allem in Frankfurt machte die inneren Widersprüche erkennbar, um einen hohen Preis. Es war Hans-Jürgen Krahl, der begabteste von Adornos Schülern, der an diesem Zwiespalt wohl ebenso zerbrach wie sein Lehrer.

"Die 1966 erschienene ,Negative Dialektik'", so zitiert Demirovic, der in seiner Aktensammlung kaum eine Pressestimme auslässt, stamme sie nun aus dem "Weserkurier" oder aus der "Heilbronner Stimme", eine zeitgenössische Besprechung, "finde unter Käufern von Weihnachtsgeschenken ebenso Zuspruch wie die von Habermas herausgebenen ,Politischen Schriften' Hegels und Korschs ,Marxismus und Philosophie'." Zumindest dem Buch von Clemens Albrecht und seinen Mitarbeitern möchte man eine ähnliche Aussicht wünschen.

Clemens Albrecht, Günter C. Behrmann, Michael Bock, Harald Homann, Friedrich H. Tenbruck: "Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik". Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1999. 649 S., geb., 98,- DM.

Alex Demirovic: "Der nonkonformistische Intellektuelle". Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 983 S., br., 39,80 DM.

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Das Buch "demonstriert in allen Partien Argumentationskraft und Gelehrsamkeit, Kenntnisse und die Fähigkeit, sie zu präsentieren. Ganz besonders beeindruckt die Distanz, in der die Autoren zu ihrem Objekt stehen. So kritisch-respektlos und gleichzeitig so undenunziatorisch ist bisher selten über die Frankfurter geschrieben worden." (Neue Züricher Zeitung)