Das Thema der Untersuchung ist in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung. Die Interpretation des Gewaltverbots ist eine - wenn nicht »die« - Kernfrage des Völkerrechts. Das Thema wird aus der Sicht der Russischen Föderation und damit eines »dominant players« der internationalen Politik beleuchtet. Die Analyse beruht auf der Auswertung der russischen wissenschaftlichen Literatur, offizieller russischer Dokumente und Materialien sowie der relevanten russischen Gesetzgebung und Rechtsprechung und erfolgt damit gewissermaßen aus der Innenperspektive. Die russischen Positionen zu aktuellen Konflikten werden zudem in den historischen Kontext eingebettet; zugleich werden Spannungslagen zwischen Theorie und Praxis herausgearbeitet. Die Arbeit ist in drei große Teile untergliedert und umfasst die Vorgeschichte des sowjetischen Völkerrechts, das Völkerrecht in der Perestrojka-Zeit und das Völkerrecht der Gegenwart.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Cindy Wittke resümiert das auf einer Dissertation von 2018 basierende Buch von Anna Melikov. Die "Herkulesaufgabe" einer Darstellung des völkerrechtlichen Gewaltverbots in der Sowjetunion und im heutigen Russland meistert die Autorin laut Wittke weitgehend überzeugend. Dabei gelingt es Melikov unter anderem, auf Kontinuitäten und Widersprüche in der Auslegung hinzuweisen und in Fallstudien zu Interventionen der Sowjetunion in Ungarn, der Tschechoslowakei, Afghanistan und Tschetschenien oder im Rahmen des Schutzes russischer Bürger im Ausland ihr Thema zu vertiefen, teilt die Rezensentin mit. Kritisch sieht Wittke den vielfachen Hinweis auf die "Widerspruchsfreiheit" russischer und sowjetischer Positionen im Buch. Ein ausführlicheres Schlusswort, das sich auch dem Krieg in der Ostukraine und in Syrien widmet, hätte dem Band gut gestanden, findet Wittke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2022Wie hält Moskau es mit Gewaltverbot?
Völkerrechtliche Theorie und Praxis der Sowjetunion und des heutigen Russland
"Wie ist Russlands Verhältnis zu den unabhängig gewordenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion anhand des Völkerrechts zu beurteilen?" und "Wie ist die russische Sicht zur Intervention auf Einladung und zur humanitären Intervention zu beurteilen?" - Dies sind zwei Leitfragen der Monographie "Die Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots und möglicher Ausnahmen - Russische Doktrin und Praxis" von Anna Melikov. Das Buch basiert auf einer Dissertation, die die Verfasserin im Jahr 2018 einreichte, 2019 verteidigte und die sie gemäß dem Vorwort des Buches zuvor bereits mehr als ein Jahrzehnt beschäftigt hatte. Ohne Zweifel hatte sich die Autorin eine Herkulesaufgabe vorgenommen, die von immer neuen Ereignissen beeinflusst wurde.
Anna Melikov begegnet dieser Herausforderung mit einer detaillierten Darstellung der Doktrin und Praxis des völkerrechtlichen Gewaltverbots in der Sowjetunion bis zum Russland der Gegenwart. Die Konzentration russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine und auch das jüngste Engagement sogenannter Friedenstruppen der von Russland angeführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) in Kasachstan auf Basis einer vermeintlichen Einladung durch die aktuellen Machthaber verdeutlichen die aktuelle wissenschaftliche und praktische Relevanz des Buches.
Auf 362 Seiten widmet sich die Autorin der Interpretation des Gewaltverbots in der Sowjetunion und in Russland vor dem Hintergrund des Wandels von außen- und innenpolitischen Interessen. Die völkerrechtliche Analyse konzentriert sich dabei auf mögliche Widersprüche in der Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch die Sowjetunion und Russland im Zeitverlauf. In ihren Fallstudien konzentriert sich die Autorin vor allem auf Kontinuitäten der sowjetischen und russischen Doktrin und Praxis der Ausnahmen vom Gewaltverbot: die Intervention auf Einladung und die humanitäre Intervention.
Als Beispiel behandelt Anna Melikov die drei "großen sowjetischen Interventionen" in Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und Afghanistan (1979 - 1989). Daran anschließend analysiert die Autorin die föderalen Interventionen Russlands in Tschetschenien (1994 -1996; 1999 -2009), die Intervention auf "Einladung" durch die nicht anerkannten de facto Staaten Abchasien und Südossetien (Georgien 2008) sowie die sogenannte "Eingliederung der Krim" in das Territorium der Russländischen Föderation (seit 2014). Die Autorin nutzt dafür unter anderem eine große Zahl von Primärquellen wie die Stellungnahmen der Sowjetunion und Russlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Militärdoktrin und Konzepte der Außenpolitik der Sowjetunion und Russlands sowie die sowjetische und gegenwärtige russische völkerrechtswissenschaftliche Literatur.
Einige Motive ziehen sich als rote Fäden durch die Analyse Melikovs. Da wäre der Primat der Ideologie oder der Politik bei der Formulierung von Doktrin und in der Praxis des Völkerrechts von der frühen Sowjetunion bis zum Russland der Gegenwart, insbesondere wenn es um Fragen von Krieg und friedlicher Koexistenz und letztlich auch um die Frage nach einem "gerechten Krieg" geht. Eng damit verbunden ist die auf die frühe Sowjetunion zurückgehende Praxis der Infragestellung der universellen Gültigkeit des allgemeinen Völkerrechts. Diese Auffassung unterlag einem steten Wandel, aber sie hielt zumindest immer die Möglichkeit offen, dass das Völkerrecht an verschiedenen Orten unterschiedlich zu interpretieren sei. Auch die Theorie der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten bildet eines dieser Motive. Gemäß dieser Theorie setzten die Interessen der "sozialistischen Gemeinschaft" eine klare Grenze für die Souveränität sozialistischer Staaten. Nur allzu leicht möchte man hier eine Kontinuität in der Konzeptionalisierung des "nahen Auslands" der Russländischen Föderation als Sphäre ihres besonderen Interesses und Einflusses sehen, in welcher es zu keiner Erweiterung der EU oder NATO auf die nun souveränen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion kommen darf. Ergänzend zur juristischen Analyse Anna Melikovs sei an dieser Stelle auf die Bücher und Aufsätze von Andrei Tsygankov von der Staatlichen Universität in San Francisco zu Fragen rund um den Wandel russischer Außenpolitik und russischer Identität in den internationalen Beziehungen hingewiesen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Anna Melikov dann der "Intervention auf Hilfeersuchen" seit dem Eingreifen der Sowjetunion in Ungarn im Jahr 1956. Hier geht es insbesondere um die Problematik der Intervention auf Einladung durch eine Regierung oder Führung eines Staates unter anderem zur "Verteidigung gegen äußere Feinde" und um die Verquickung mit einer Bündnispolitik zum Zwecke der Freundschaft, der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Beistands.
Zur Bedingung der Zulässigkeit einer - von Melikov sehr umfangreich und kritisch diskutierten - Intervention auf Einladung macht die Autorin die Akzeptanz dieser Praxis durch die Weltgemeinschaft. Unvermeidlich muss man auch hier an die aktuelle Lage in Kasachstan und das Eingreifen vermeintlicher Friedenstruppen der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) denken. Für die Verbindung zur Rolle des Völkerrechts in der Politik Russlands sei an dieser Stelle auch auf die Forschung von Roy Allison von der University of Oxford verwiesen, der unter anderem im Jahr 2013 mit "Russia, the West and Military Intervention" (Oxford University Press) eine umfangreiche Analyse über Russlands Praxis der Intervention auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bietet und in zahlreichen Aufsätzen in Fachzeitschriften sich mit der Rolle des Völkerrechts in Diskurs und Praxis auseinandersetzte.
Das Zusammenspiel von aktueller Bündnispolitik Russlands und der Interventionspraxis mit "Friedenstruppen" auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (Friedenstruppen) und jüngst der ODKB wird sicher weiter Gegenstand gegenwärtiger und zukünftiger Analysen in Wissenschaft und Praxis.
Als letztes Motiv des Buchs sei hier die Rechtfertigung einer Intervention zum "Schutz russischer Staatsbürger im Ausland" angeführt, die von Russland häufig medienwirksam auch mit einer unmittelbaren und vermeintlichen Gefahr eines "Genozids" verbunden wird. Als Beispiel führt Anna Melikov die Intervention in Georgien im Jahr 2008 sowie die Annexion der Krim im Jahr 2014 an. Leider wird jedoch kaum diskutiert, wie die Russländische Föderation den Schutz russischer Staatsbürger sukzessive auch auf den Schutz russischsprachiger Minderheiten ausdehnt. Der Schutz russischsprachiger Bevölkerungen in anderen Staaten ist ein politisches Argument; gehen wir aber von der Annahme aus, dass die rechtliche Doktrin und Praxis der Politik folgen, wäre dieses Konstrukt einer Betrachtung wert gewesen.
Mehr Aufmerksamkeit widmet Melikov der sogenannten "Passportisierung" der Bevölkerung in nicht anerkannten "Staaten" wie Abchasien und Südossetien sowie im Kontext der Annexion der Krim. Das bedeutet: Russland gewährt im Ausland lebenden Menschen in großem Stil die russische Staatsbürgerschaft. Diese Praxis bezog sich bis zum Jahr 2014 vor allem auf die von Russland unterstützten Sezessionsgebiete im postsowjetischen Raum, wie Abchasien, Südossetien oder auch Transnistirien. Sie gewann mit der Annexion der Krim aber auch in den Sezessionsgebieten in der östlichen Ukraine zunehmend an Bedeutung, ohne dass dieser vor allem bürokratische Prozess nennenswerte mediale Aufmerksamkeit erfährt. Vor diesem Hintergrund bleibt es auch bedauerlich, dass die Autorin zwar die Annexion der Krim behandelt, aber den Krieg in der östlichen Ukraine nur am Rande thematisiert. Ergänzend sei hier auf die Forschung von Iryna Marchuk an der Universität Kopenhagen verwiesen, die sich unter anderem mit "Lawfare", zum Beispiel internationale Rechtsstreitigkeiten quasi als Fortsetzung von Politik und Krieg, im postsowjetischen Raum auseinandersetzt. Auf die politikwissenschaftliche Literatur rund um die Herausforderung des internationalen Engagements mit nicht anerkannten de facto Staaten im postsowjetischen Raum sei außerdem als Ergänzung zu Anna Melikovs juristischer Abhandlung zu "de facto Regimen" hingewiesen.
Abschließend bleibt es für Leser außerhalb der Völkerrechtswissenschaft vielleicht etwas unklar, warum Melikov immer wieder die "Widerspruchsfreiheit" der sowjetischen oder russischen Position zum Maßstab ihrer Analyse erklärt, anstatt dem Warum eben jener Widersprüche im Lichte der Interdependenzen zwischen Recht und Politik nachzugehen - vor allem wenn die Autorin Begriffe wie Legitimität, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Weltgemeinschaft verwendet. Zudem ist zuweilen der chronologisch erzählte Pfad der Interpretation des Gewaltverbots in Doktrin und Praxis von der Sowjetunion zu Russland ein wenig zu vereinfachend, indem er vermeintliche Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten impliziert, jedoch nicht immer reflektiert. Hier wählt die Autorin häufig, trotz der Vielzahl der Primärquellen, eine konsequent westliche Perspektive, was sich insbesondere in den häufig nur kurzen Abhandlungen der aktuellen russischen wissenschaftlichen Literatur - quasi als Randnotizen - erkennen lässt.
Erstaunlich kurz kommt dann auch das Schlusswort des Buches vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine seit dem Jahr 2014, des russischen Eingreifens in den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 oder auch des russischen Engagements in Syrien. Anna Melikov hätte hier nochmals an die Kernthesen des Buches und ihre gegenwärtige sowie zukünftige - vorhandene - analytische Reichweite hinweisen können. Verständlicherweise musste die Autorin an einer Stelle einen Schlussstrich ihres umfassenden und detaillierten Buches und ihrer zehn Jahre währenden beeindruckenden Arbeit setzen. Alles in allem legt sie eine fundierte, hoch relevante und eindrucksvolle Analyse vor, die von der sowjetischen bis zur russischen Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots einen Bogen schlägt und den Lesern verdeutlicht, wie es Russland mit dem Gewaltverbot hält. CINDY WITTKE
Anna Melikov: Die Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots und möglicher Ausnahmen. Russische Doktrin und Praxis.
Duncker & Humblot, Berlin 2021. 362 S., 99,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Völkerrechtliche Theorie und Praxis der Sowjetunion und des heutigen Russland
"Wie ist Russlands Verhältnis zu den unabhängig gewordenen Staaten der ehemaligen Sowjetunion anhand des Völkerrechts zu beurteilen?" und "Wie ist die russische Sicht zur Intervention auf Einladung und zur humanitären Intervention zu beurteilen?" - Dies sind zwei Leitfragen der Monographie "Die Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots und möglicher Ausnahmen - Russische Doktrin und Praxis" von Anna Melikov. Das Buch basiert auf einer Dissertation, die die Verfasserin im Jahr 2018 einreichte, 2019 verteidigte und die sie gemäß dem Vorwort des Buches zuvor bereits mehr als ein Jahrzehnt beschäftigt hatte. Ohne Zweifel hatte sich die Autorin eine Herkulesaufgabe vorgenommen, die von immer neuen Ereignissen beeinflusst wurde.
Anna Melikov begegnet dieser Herausforderung mit einer detaillierten Darstellung der Doktrin und Praxis des völkerrechtlichen Gewaltverbots in der Sowjetunion bis zum Russland der Gegenwart. Die Konzentration russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine und auch das jüngste Engagement sogenannter Friedenstruppen der von Russland angeführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) in Kasachstan auf Basis einer vermeintlichen Einladung durch die aktuellen Machthaber verdeutlichen die aktuelle wissenschaftliche und praktische Relevanz des Buches.
Auf 362 Seiten widmet sich die Autorin der Interpretation des Gewaltverbots in der Sowjetunion und in Russland vor dem Hintergrund des Wandels von außen- und innenpolitischen Interessen. Die völkerrechtliche Analyse konzentriert sich dabei auf mögliche Widersprüche in der Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch die Sowjetunion und Russland im Zeitverlauf. In ihren Fallstudien konzentriert sich die Autorin vor allem auf Kontinuitäten der sowjetischen und russischen Doktrin und Praxis der Ausnahmen vom Gewaltverbot: die Intervention auf Einladung und die humanitäre Intervention.
Als Beispiel behandelt Anna Melikov die drei "großen sowjetischen Interventionen" in Ungarn (1956), der Tschechoslowakei (1968) und Afghanistan (1979 - 1989). Daran anschließend analysiert die Autorin die föderalen Interventionen Russlands in Tschetschenien (1994 -1996; 1999 -2009), die Intervention auf "Einladung" durch die nicht anerkannten de facto Staaten Abchasien und Südossetien (Georgien 2008) sowie die sogenannte "Eingliederung der Krim" in das Territorium der Russländischen Föderation (seit 2014). Die Autorin nutzt dafür unter anderem eine große Zahl von Primärquellen wie die Stellungnahmen der Sowjetunion und Russlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Militärdoktrin und Konzepte der Außenpolitik der Sowjetunion und Russlands sowie die sowjetische und gegenwärtige russische völkerrechtswissenschaftliche Literatur.
Einige Motive ziehen sich als rote Fäden durch die Analyse Melikovs. Da wäre der Primat der Ideologie oder der Politik bei der Formulierung von Doktrin und in der Praxis des Völkerrechts von der frühen Sowjetunion bis zum Russland der Gegenwart, insbesondere wenn es um Fragen von Krieg und friedlicher Koexistenz und letztlich auch um die Frage nach einem "gerechten Krieg" geht. Eng damit verbunden ist die auf die frühe Sowjetunion zurückgehende Praxis der Infragestellung der universellen Gültigkeit des allgemeinen Völkerrechts. Diese Auffassung unterlag einem steten Wandel, aber sie hielt zumindest immer die Möglichkeit offen, dass das Völkerrecht an verschiedenen Orten unterschiedlich zu interpretieren sei. Auch die Theorie der beschränkten Souveränität sozialistischer Staaten bildet eines dieser Motive. Gemäß dieser Theorie setzten die Interessen der "sozialistischen Gemeinschaft" eine klare Grenze für die Souveränität sozialistischer Staaten. Nur allzu leicht möchte man hier eine Kontinuität in der Konzeptionalisierung des "nahen Auslands" der Russländischen Föderation als Sphäre ihres besonderen Interesses und Einflusses sehen, in welcher es zu keiner Erweiterung der EU oder NATO auf die nun souveränen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion kommen darf. Ergänzend zur juristischen Analyse Anna Melikovs sei an dieser Stelle auf die Bücher und Aufsätze von Andrei Tsygankov von der Staatlichen Universität in San Francisco zu Fragen rund um den Wandel russischer Außenpolitik und russischer Identität in den internationalen Beziehungen hingewiesen.
Besondere Aufmerksamkeit widmet Anna Melikov dann der "Intervention auf Hilfeersuchen" seit dem Eingreifen der Sowjetunion in Ungarn im Jahr 1956. Hier geht es insbesondere um die Problematik der Intervention auf Einladung durch eine Regierung oder Führung eines Staates unter anderem zur "Verteidigung gegen äußere Feinde" und um die Verquickung mit einer Bündnispolitik zum Zwecke der Freundschaft, der Zusammenarbeit und des gegenseitigen Beistands.
Zur Bedingung der Zulässigkeit einer - von Melikov sehr umfangreich und kritisch diskutierten - Intervention auf Einladung macht die Autorin die Akzeptanz dieser Praxis durch die Weltgemeinschaft. Unvermeidlich muss man auch hier an die aktuelle Lage in Kasachstan und das Eingreifen vermeintlicher Friedenstruppen der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB) denken. Für die Verbindung zur Rolle des Völkerrechts in der Politik Russlands sei an dieser Stelle auch auf die Forschung von Roy Allison von der University of Oxford verwiesen, der unter anderem im Jahr 2013 mit "Russia, the West and Military Intervention" (Oxford University Press) eine umfangreiche Analyse über Russlands Praxis der Intervention auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bietet und in zahlreichen Aufsätzen in Fachzeitschriften sich mit der Rolle des Völkerrechts in Diskurs und Praxis auseinandersetzte.
Das Zusammenspiel von aktueller Bündnispolitik Russlands und der Interventionspraxis mit "Friedenstruppen" auf dem Gebiet der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (Friedenstruppen) und jüngst der ODKB wird sicher weiter Gegenstand gegenwärtiger und zukünftiger Analysen in Wissenschaft und Praxis.
Als letztes Motiv des Buchs sei hier die Rechtfertigung einer Intervention zum "Schutz russischer Staatsbürger im Ausland" angeführt, die von Russland häufig medienwirksam auch mit einer unmittelbaren und vermeintlichen Gefahr eines "Genozids" verbunden wird. Als Beispiel führt Anna Melikov die Intervention in Georgien im Jahr 2008 sowie die Annexion der Krim im Jahr 2014 an. Leider wird jedoch kaum diskutiert, wie die Russländische Föderation den Schutz russischer Staatsbürger sukzessive auch auf den Schutz russischsprachiger Minderheiten ausdehnt. Der Schutz russischsprachiger Bevölkerungen in anderen Staaten ist ein politisches Argument; gehen wir aber von der Annahme aus, dass die rechtliche Doktrin und Praxis der Politik folgen, wäre dieses Konstrukt einer Betrachtung wert gewesen.
Mehr Aufmerksamkeit widmet Melikov der sogenannten "Passportisierung" der Bevölkerung in nicht anerkannten "Staaten" wie Abchasien und Südossetien sowie im Kontext der Annexion der Krim. Das bedeutet: Russland gewährt im Ausland lebenden Menschen in großem Stil die russische Staatsbürgerschaft. Diese Praxis bezog sich bis zum Jahr 2014 vor allem auf die von Russland unterstützten Sezessionsgebiete im postsowjetischen Raum, wie Abchasien, Südossetien oder auch Transnistirien. Sie gewann mit der Annexion der Krim aber auch in den Sezessionsgebieten in der östlichen Ukraine zunehmend an Bedeutung, ohne dass dieser vor allem bürokratische Prozess nennenswerte mediale Aufmerksamkeit erfährt. Vor diesem Hintergrund bleibt es auch bedauerlich, dass die Autorin zwar die Annexion der Krim behandelt, aber den Krieg in der östlichen Ukraine nur am Rande thematisiert. Ergänzend sei hier auf die Forschung von Iryna Marchuk an der Universität Kopenhagen verwiesen, die sich unter anderem mit "Lawfare", zum Beispiel internationale Rechtsstreitigkeiten quasi als Fortsetzung von Politik und Krieg, im postsowjetischen Raum auseinandersetzt. Auf die politikwissenschaftliche Literatur rund um die Herausforderung des internationalen Engagements mit nicht anerkannten de facto Staaten im postsowjetischen Raum sei außerdem als Ergänzung zu Anna Melikovs juristischer Abhandlung zu "de facto Regimen" hingewiesen.
Abschließend bleibt es für Leser außerhalb der Völkerrechtswissenschaft vielleicht etwas unklar, warum Melikov immer wieder die "Widerspruchsfreiheit" der sowjetischen oder russischen Position zum Maßstab ihrer Analyse erklärt, anstatt dem Warum eben jener Widersprüche im Lichte der Interdependenzen zwischen Recht und Politik nachzugehen - vor allem wenn die Autorin Begriffe wie Legitimität, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Weltgemeinschaft verwendet. Zudem ist zuweilen der chronologisch erzählte Pfad der Interpretation des Gewaltverbots in Doktrin und Praxis von der Sowjetunion zu Russland ein wenig zu vereinfachend, indem er vermeintliche Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten impliziert, jedoch nicht immer reflektiert. Hier wählt die Autorin häufig, trotz der Vielzahl der Primärquellen, eine konsequent westliche Perspektive, was sich insbesondere in den häufig nur kurzen Abhandlungen der aktuellen russischen wissenschaftlichen Literatur - quasi als Randnotizen - erkennen lässt.
Erstaunlich kurz kommt dann auch das Schlusswort des Buches vor dem Hintergrund des Krieges in der Ostukraine seit dem Jahr 2014, des russischen Eingreifens in den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Jahr 2020 oder auch des russischen Engagements in Syrien. Anna Melikov hätte hier nochmals an die Kernthesen des Buches und ihre gegenwärtige sowie zukünftige - vorhandene - analytische Reichweite hinweisen können. Verständlicherweise musste die Autorin an einer Stelle einen Schlussstrich ihres umfassenden und detaillierten Buches und ihrer zehn Jahre währenden beeindruckenden Arbeit setzen. Alles in allem legt sie eine fundierte, hoch relevante und eindrucksvolle Analyse vor, die von der sowjetischen bis zur russischen Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots einen Bogen schlägt und den Lesern verdeutlicht, wie es Russland mit dem Gewaltverbot hält. CINDY WITTKE
Anna Melikov: Die Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots und möglicher Ausnahmen. Russische Doktrin und Praxis.
Duncker & Humblot, Berlin 2021. 362 S., 99,90 Euro.
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»Alles in allen legt sie eine fundierte, hoch relevante und eindrucksvolle Analyse vor, die von der sowjetischen bis zur russischen Interpretation des völkerrechtlichen Gewaltverbots einen Bogen schlägt und den Lesern verdeutlicht, wie es Russland mit dem Gewaltverbot hält.« Dr. Cindy Wittke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 18.01.2022, Politik, Seite 6