Japan befindet sich in einer dystopischen Gegenwart. Amerika lässt seinen einstigen Verbündeten im Stich und Hunderttausende von Obdachlosen ziehen durch das von einer gigantischen Wirtschaftskrise gebeutelte Land. Rechtsgerichtete Politiker haben Aufwind. Nordkorea, das seine Beziehungen zu den USA inzwischen verbessert hat, beschließt, die Schwäche des verhassten Nachbarn auszunutzen, und plant eine heimtückische Invasion. Getarnt als aus Nordkorea geflüchtete Dissidenten besetzt eine Einheit aus neun Elite-Soldaten das Baseball-Stadion der japanischen Hafenstadt Fukuoka und nimmt 30.000 Zuschauer als Geiseln. Im Zuge der Geheimoperation "In Liebe, dein Vaterland" sollen weitere 120.000 Soldaten folgen und den Süden Japans in eine Provinz Nordkoreas verwandeln. Während die japanische Regierung hysterisch sinnlose Maßnahmen ergreift, nimmt in Fukuoka ein absurder Albtraum seinen Lauf.
Die Einzigen, die den Mut haben, sich den Invasoren entgegenzustellen, ist eine Gruppe junger ausgestoßener Soziopathen, die schon lange auf eine Gelegenheit warten, ihre gewalttätigen Fantasien umzusetzen: Fukuoka darf nicht kampflos fallen.
Furios, zynisch und raffiniert durchdacht. Ein epischer Politthriller von beklemmender Aktualität, wie nur Altmeister Ryu Murakami ihn schreiben kann.
Die Einzigen, die den Mut haben, sich den Invasoren entgegenzustellen, ist eine Gruppe junger ausgestoßener Soziopathen, die schon lange auf eine Gelegenheit warten, ihre gewalttätigen Fantasien umzusetzen: Fukuoka darf nicht kampflos fallen.
Furios, zynisch und raffiniert durchdacht. Ein epischer Politthriller von beklemmender Aktualität, wie nur Altmeister Ryu Murakami ihn schreiben kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2019Ein Liebhaber des Terrors und Verächter des Kriegs
Sprengstoff und Moral: Ryu Murakamis Roman über die Invasion nordkoreanischer Elitesoldaten in Japan
"Ebenso wie glücklose, verbitterte Nationen von ihren Nachbarn gehasst und geächtet werden, ergeht es auch Individuen." Japans anderer Murakami mit Vornamen Ryu (geboren 1952) ist - konträr zum Kollegen Haruki Murakami - der radikale Chronist eines "Japans von unten", ein belletristischer Racheengel degenerierter Einzelgänger und Ideologien. Das Werk des von der Studentenbewegung geprägten, mit Schockmomenten schwarzer Weltverbesserung jonglierenden Multitalents Ryu Murakami, der auch als Moderator und Regisseur ("Tokio Dekadenz") tätig ist, oszilliert zwischen Gewaltorgien und Lebensratgebern, Utopien und Dystopien wie "Piercing", "69" oder "Coin Locker Babies". Im Fokus stehen Kollateralschäden der Leistungsgesellschaft wie Schulverweigerung, bezahltes Dating, Überdruss als Lebensgefühl der Außenseiter wie der Arrivierten, kriminelle Karrieren ohne Ausstiegsklausel kontra kapitalistische Hamsterräder.
Japans Enfant terrible ist mit den Jahren ruhiger, dabei aber nicht weniger extrem, brillant und angriffslustig geworden. Der in Japan 2005 erschienene, in einer nahen Zukunft spielende Polit-Thriller "In Liebe, Dein Vaterland" zeichnet das Land als ein von Inflation, Rezession, Rentenkrise und Freitoden geprägtes, von seinen um ihre Ersparnisse geprellten Bürgern vermaledeites, zum Spielball der Mächte verkommenes Land.
In dieser Schwächesituation besetzt eine als Dissidentengruppe getarnte Einheit nordkoreanischer Elitesoldaten das Baseballstadion "Fukuoka Dome" der Hafenstadt Fukuoka. Die auf einem kleinen Schiff angereiste Vorhut der "Glorreichen Neun" nimmt 30 000 Zuschauer als Geiseln, stellt der Regierung Japans Bedingungen, die zwei Stunden später die Einschleusung von vier Spezialeinheiten auf dem Luftweg ermöglichen. Die Militärs beziehen nahe dem Stadion und einem staatlichen Krankenhaus Kyushus das Hotel Sea Hawk als Hauptquartier. Die Spezialeinheiten richten für ihre rund 500 Soldaten in einem unweiten Wohngebiet ein Lager ein. Der Stützpunkt soll bis zur Phase 3, der Landung von 120 000 Soldaten und Besetzung der gesamten Insel Kyushu, gesichert werden.
Während Japans an Recht und die pazifistische Nachkriegstradition gebundene Regierung zur Vermeidung größerer Schäden eine Blockade über Kyûshû verhängt, errichtet das "Expeditionskorps Koryo" in erzwungener Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ein repressives System. Die Geheimoperation "In Liebe, Dein Vaterland" der "Rebellenarmee, die keine ist", steigert sich im Orwellschen Crescendo der Willkür zu Propagandasendungen, zur Auflistung von Volksfeinden und bis zu Folterhaft. Bald wird klar, dass die Logik der Invasion nicht nur Sandsäcke oder Zelte, sondern auch das Blut und Leben der Japaner einschließt.
Das Land, das der nahe einer amerikanischen Militärbasis aufgewachsene Autor zeichnet, ist infantil, amerikahörig, verweichlicht, ein lethargischer bürokratischer Apparat ohne Aktionsplan und nach Ende der Firmenphilosophie der Japan Inc. ein "sterbender Elefant, dem der Wille zur Selbstheilung fehlt". Inselnation, Autismus und die Gesellschaft als Gefängnis sind für Murakami Charakterzüge einer fragmentierten postmodernen japanischen Wirklichkeit.
Drastisch zeichnet Murakami Vexierbilder des Bösen und Verwirrspiele der Moral wie von Yakuza kontrollierte Hilfsorganisationen für Obdachlose. So ist es ausgerechnet eine Gang von Außenseitern, Spinnern, Satanisten, Züchtern von Giftfröschen und Waffensammlern, die es sich als Antidot gegen Langeweile und Aufbegehren gegen die Saturiertheit zur Aufgabe macht, Japan zu retten. Die Gruppe um den Anführer (und Dichter) Ishihara wohnt in einer Geisterstadt aus Lagerhäusern. Murakami-Leser finden das Leitmotiv der Rachephantasien der Waisenkinder (Mori und Yamada aus der Ishihara-Gang erinnern an Kiku und Hashi in "Coin Locker Babies") wieder, wobei hier das Waisenmotiv auf die vom Mutterland abgeschnittene Südinsel erweitert wird.
"Terror ist großartig, Gewalt ist großartig und selbst Mord ist großartig, aber Krieg ist Scheiße. Denn er ist das Werk der Mehrheit", sagt Ishihara im bösen Duktus Murakamis. Scheinbar jenseits von Moral und hinter aufwieglerischer Fassade humanistisch entwirft er Topographien des Terrors und im Perspektivenwechsel pathologischer Ideologien, Systeme und Menschen, die sich vor ihrem Fall im Irrglauben wähnen, einer Mehrheit anzugehören, Erzählungen von Zorn, Ohnmacht und ohnmächtigem Zorn.
Im Zerrbild des "totalen Staats" Nordkorea - die Besatzer verschaffen sich über Codes aus dem Melderegister von Fukuoka Informationen über die Bürger - warnt der nostalgisch Protestkulturen seiner Jugend beschwörende Autor vor vorauseilendem zivilen Gehorsam und dem Gewöhnungseffekt totalitärer Tendenzen. Ohne in die Rede vom Reich des Bösen zu verfallen und mit Verweis auf die eigene japanische Kolonialgeschichte führt das Buch in universelle Schreckenskammern der Psyche. Das zwiespältige Bild Japans in Ostasien kleidet Ryu Murakami in das Bild filigraner Papiertaschentücher, die man in Japan als Werbegeschenke vergibt ("Diese Leute lebten in einer Welt, so zart und weich wie ihr Papier"), was den Nordkoreanern zum Symbol für fortgeschrittene Industrie, aber auch Verweichlichung und somit militärische Verwundbarkeit gereicht.
Murakami, der als Recherche für sein Buch 20 nordkoreanische Flüchtlinge in Seoul interviewte, zeichnet in immer wieder eingebundenen Reminiszenzen der Militärs an die Heimat drastische Hungerbilder, kurze Schlaglichter des Systemzweifels, aber auch fern von Konsum und Markenwahn aufscheinendes Glück. So erinnert sich Oberleutnant Jo Su-ryeon an die Begegnung mit einem heiseren Sänger der Pansori, eine im Norden eigentlich untersagte Vortragsform volkstümlicher Balladen, die der einstige Partisan aus dem Süden überbrachte: Die typische Praxis der Pansori-Sänger, bei kaltem Wind die Stimme zu stärken, ist Widerstandssymbol einer gesamtkoreanischen Kultur. Oder an die Worte seines Vaters, eines bekannten, unbestechlichen Dichters, der Jo mit auf den Weg gab: "Du musst Gedichte schreiben, die zum Leser sprechen, zu ihm stehen", und somit die Mächtigen ausmanövrieren über den doppelten Boden der Kunst.
Jetzt ist Jo Sprecher einer Propaganda-TV-Sendung und verliebt sich in die taffe japanische Ko-Moderatorin Hosoda Sakiko. Als sie ihn nach der Sendung um Gnade für die Menschen in Fukuoka anfleht, eröffnen sich Risse im Schutzwall seines Gemüts ("sein Herz pochte gegen die kleine Pistole in seiner Brusttasche") und in den Mauern der Systeme.
Gelungen sind Gedanken zum Begriff der Dekadenz: Jo, der einst für die Propagandaabteilung der Staatssicherheit über Dekadenz forschte und darin Verschattet-Schuldhaftes wie Jazzmusik vermutete, sieht nun die Massentänze der Arirang-Spiele als "wahre Dekadenz" in ihrem "Loblied auf die Mehrheit und die Bestätigung ihrer Macht". Berührend ist die Szene, in der ein japanischer Arzt, der Japans Kolonialgreuel sah, "Verhindert den Mord!" rufend zur Hinrichtungsstätte ins Lager eilt, eine Sandale verliert, die ihm eine ranghohe Militärangehörige, die der Weißkittel an ihren liebenden Vater und Arzt erinnert, zurückbringt.
Vielleicht auch weil viele Dystopien des Autors von der Realität (wie der Sarin-Anschlag der Aum-Sekte und die atomare Katastrophe) überholt wurden, überwiegen im Spätwerk gesellschaftsreflexiv die aktionsgeladenen Passagen. Im Finale, in dem dennoch mit Barrikaden, über Lüftungsschächte eingeführte Killerinsekten, Sprengsätzen, Handgranaten und Kalaschnikows gearbeitet wird, kommt es zum kathartischen Clash zwischen Jugendgang und "Schurkenstaat": "Tausende von Stahl- und Betonfragmenten regneten herab wie ein gigantischer Meteoritenschauer." Die Trümmerteile symbolisieren dabei auch zerstobene Ideologien, die Tabula rasa und Rückkehr zur Wildnis ist Teil der Vision einer regenerierenden Revolution.
Der leider etwas kitschige Schluss verweist auf die Jugend als Hoffnungsprojektion: In Kyushu werden - ähnlich der alternative Lebensformen erprobenden Jugend im Roman "Exodus in das Land der Hoffnung" - studentische asiatische Austauschprojekte unter dem Motto "Tausend Jahre asiatische Weisheit" als Ausweg aus der Isolation, Amerika-Hörigkeit, Selbstaufgabe und Entfremdung beschworen. Und eine Überwindung der Moderne in einer Art drittem Weg jenseits westlicher kapitalistischer oder kommunistischer Irrwege. Als Leitmotiv und dunkle dichterische Attitüde bleibt Japan für Ryu Murakami ein Land, in dem es sich nur bedingt zu leben lohnt.
STEFFEN GNAM.
Ryu Murakami: "In Liebe, Dein Vaterland". Roman in zwei Bänden.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Septime Verlag, Wien 2019. 456 bzw. 504 S., geb., Preis pro Band 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprengstoff und Moral: Ryu Murakamis Roman über die Invasion nordkoreanischer Elitesoldaten in Japan
"Ebenso wie glücklose, verbitterte Nationen von ihren Nachbarn gehasst und geächtet werden, ergeht es auch Individuen." Japans anderer Murakami mit Vornamen Ryu (geboren 1952) ist - konträr zum Kollegen Haruki Murakami - der radikale Chronist eines "Japans von unten", ein belletristischer Racheengel degenerierter Einzelgänger und Ideologien. Das Werk des von der Studentenbewegung geprägten, mit Schockmomenten schwarzer Weltverbesserung jonglierenden Multitalents Ryu Murakami, der auch als Moderator und Regisseur ("Tokio Dekadenz") tätig ist, oszilliert zwischen Gewaltorgien und Lebensratgebern, Utopien und Dystopien wie "Piercing", "69" oder "Coin Locker Babies". Im Fokus stehen Kollateralschäden der Leistungsgesellschaft wie Schulverweigerung, bezahltes Dating, Überdruss als Lebensgefühl der Außenseiter wie der Arrivierten, kriminelle Karrieren ohne Ausstiegsklausel kontra kapitalistische Hamsterräder.
Japans Enfant terrible ist mit den Jahren ruhiger, dabei aber nicht weniger extrem, brillant und angriffslustig geworden. Der in Japan 2005 erschienene, in einer nahen Zukunft spielende Polit-Thriller "In Liebe, Dein Vaterland" zeichnet das Land als ein von Inflation, Rezession, Rentenkrise und Freitoden geprägtes, von seinen um ihre Ersparnisse geprellten Bürgern vermaledeites, zum Spielball der Mächte verkommenes Land.
In dieser Schwächesituation besetzt eine als Dissidentengruppe getarnte Einheit nordkoreanischer Elitesoldaten das Baseballstadion "Fukuoka Dome" der Hafenstadt Fukuoka. Die auf einem kleinen Schiff angereiste Vorhut der "Glorreichen Neun" nimmt 30 000 Zuschauer als Geiseln, stellt der Regierung Japans Bedingungen, die zwei Stunden später die Einschleusung von vier Spezialeinheiten auf dem Luftweg ermöglichen. Die Militärs beziehen nahe dem Stadion und einem staatlichen Krankenhaus Kyushus das Hotel Sea Hawk als Hauptquartier. Die Spezialeinheiten richten für ihre rund 500 Soldaten in einem unweiten Wohngebiet ein Lager ein. Der Stützpunkt soll bis zur Phase 3, der Landung von 120 000 Soldaten und Besetzung der gesamten Insel Kyushu, gesichert werden.
Während Japans an Recht und die pazifistische Nachkriegstradition gebundene Regierung zur Vermeidung größerer Schäden eine Blockade über Kyûshû verhängt, errichtet das "Expeditionskorps Koryo" in erzwungener Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ein repressives System. Die Geheimoperation "In Liebe, Dein Vaterland" der "Rebellenarmee, die keine ist", steigert sich im Orwellschen Crescendo der Willkür zu Propagandasendungen, zur Auflistung von Volksfeinden und bis zu Folterhaft. Bald wird klar, dass die Logik der Invasion nicht nur Sandsäcke oder Zelte, sondern auch das Blut und Leben der Japaner einschließt.
Das Land, das der nahe einer amerikanischen Militärbasis aufgewachsene Autor zeichnet, ist infantil, amerikahörig, verweichlicht, ein lethargischer bürokratischer Apparat ohne Aktionsplan und nach Ende der Firmenphilosophie der Japan Inc. ein "sterbender Elefant, dem der Wille zur Selbstheilung fehlt". Inselnation, Autismus und die Gesellschaft als Gefängnis sind für Murakami Charakterzüge einer fragmentierten postmodernen japanischen Wirklichkeit.
Drastisch zeichnet Murakami Vexierbilder des Bösen und Verwirrspiele der Moral wie von Yakuza kontrollierte Hilfsorganisationen für Obdachlose. So ist es ausgerechnet eine Gang von Außenseitern, Spinnern, Satanisten, Züchtern von Giftfröschen und Waffensammlern, die es sich als Antidot gegen Langeweile und Aufbegehren gegen die Saturiertheit zur Aufgabe macht, Japan zu retten. Die Gruppe um den Anführer (und Dichter) Ishihara wohnt in einer Geisterstadt aus Lagerhäusern. Murakami-Leser finden das Leitmotiv der Rachephantasien der Waisenkinder (Mori und Yamada aus der Ishihara-Gang erinnern an Kiku und Hashi in "Coin Locker Babies") wieder, wobei hier das Waisenmotiv auf die vom Mutterland abgeschnittene Südinsel erweitert wird.
"Terror ist großartig, Gewalt ist großartig und selbst Mord ist großartig, aber Krieg ist Scheiße. Denn er ist das Werk der Mehrheit", sagt Ishihara im bösen Duktus Murakamis. Scheinbar jenseits von Moral und hinter aufwieglerischer Fassade humanistisch entwirft er Topographien des Terrors und im Perspektivenwechsel pathologischer Ideologien, Systeme und Menschen, die sich vor ihrem Fall im Irrglauben wähnen, einer Mehrheit anzugehören, Erzählungen von Zorn, Ohnmacht und ohnmächtigem Zorn.
Im Zerrbild des "totalen Staats" Nordkorea - die Besatzer verschaffen sich über Codes aus dem Melderegister von Fukuoka Informationen über die Bürger - warnt der nostalgisch Protestkulturen seiner Jugend beschwörende Autor vor vorauseilendem zivilen Gehorsam und dem Gewöhnungseffekt totalitärer Tendenzen. Ohne in die Rede vom Reich des Bösen zu verfallen und mit Verweis auf die eigene japanische Kolonialgeschichte führt das Buch in universelle Schreckenskammern der Psyche. Das zwiespältige Bild Japans in Ostasien kleidet Ryu Murakami in das Bild filigraner Papiertaschentücher, die man in Japan als Werbegeschenke vergibt ("Diese Leute lebten in einer Welt, so zart und weich wie ihr Papier"), was den Nordkoreanern zum Symbol für fortgeschrittene Industrie, aber auch Verweichlichung und somit militärische Verwundbarkeit gereicht.
Murakami, der als Recherche für sein Buch 20 nordkoreanische Flüchtlinge in Seoul interviewte, zeichnet in immer wieder eingebundenen Reminiszenzen der Militärs an die Heimat drastische Hungerbilder, kurze Schlaglichter des Systemzweifels, aber auch fern von Konsum und Markenwahn aufscheinendes Glück. So erinnert sich Oberleutnant Jo Su-ryeon an die Begegnung mit einem heiseren Sänger der Pansori, eine im Norden eigentlich untersagte Vortragsform volkstümlicher Balladen, die der einstige Partisan aus dem Süden überbrachte: Die typische Praxis der Pansori-Sänger, bei kaltem Wind die Stimme zu stärken, ist Widerstandssymbol einer gesamtkoreanischen Kultur. Oder an die Worte seines Vaters, eines bekannten, unbestechlichen Dichters, der Jo mit auf den Weg gab: "Du musst Gedichte schreiben, die zum Leser sprechen, zu ihm stehen", und somit die Mächtigen ausmanövrieren über den doppelten Boden der Kunst.
Jetzt ist Jo Sprecher einer Propaganda-TV-Sendung und verliebt sich in die taffe japanische Ko-Moderatorin Hosoda Sakiko. Als sie ihn nach der Sendung um Gnade für die Menschen in Fukuoka anfleht, eröffnen sich Risse im Schutzwall seines Gemüts ("sein Herz pochte gegen die kleine Pistole in seiner Brusttasche") und in den Mauern der Systeme.
Gelungen sind Gedanken zum Begriff der Dekadenz: Jo, der einst für die Propagandaabteilung der Staatssicherheit über Dekadenz forschte und darin Verschattet-Schuldhaftes wie Jazzmusik vermutete, sieht nun die Massentänze der Arirang-Spiele als "wahre Dekadenz" in ihrem "Loblied auf die Mehrheit und die Bestätigung ihrer Macht". Berührend ist die Szene, in der ein japanischer Arzt, der Japans Kolonialgreuel sah, "Verhindert den Mord!" rufend zur Hinrichtungsstätte ins Lager eilt, eine Sandale verliert, die ihm eine ranghohe Militärangehörige, die der Weißkittel an ihren liebenden Vater und Arzt erinnert, zurückbringt.
Vielleicht auch weil viele Dystopien des Autors von der Realität (wie der Sarin-Anschlag der Aum-Sekte und die atomare Katastrophe) überholt wurden, überwiegen im Spätwerk gesellschaftsreflexiv die aktionsgeladenen Passagen. Im Finale, in dem dennoch mit Barrikaden, über Lüftungsschächte eingeführte Killerinsekten, Sprengsätzen, Handgranaten und Kalaschnikows gearbeitet wird, kommt es zum kathartischen Clash zwischen Jugendgang und "Schurkenstaat": "Tausende von Stahl- und Betonfragmenten regneten herab wie ein gigantischer Meteoritenschauer." Die Trümmerteile symbolisieren dabei auch zerstobene Ideologien, die Tabula rasa und Rückkehr zur Wildnis ist Teil der Vision einer regenerierenden Revolution.
Der leider etwas kitschige Schluss verweist auf die Jugend als Hoffnungsprojektion: In Kyushu werden - ähnlich der alternative Lebensformen erprobenden Jugend im Roman "Exodus in das Land der Hoffnung" - studentische asiatische Austauschprojekte unter dem Motto "Tausend Jahre asiatische Weisheit" als Ausweg aus der Isolation, Amerika-Hörigkeit, Selbstaufgabe und Entfremdung beschworen. Und eine Überwindung der Moderne in einer Art drittem Weg jenseits westlicher kapitalistischer oder kommunistischer Irrwege. Als Leitmotiv und dunkle dichterische Attitüde bleibt Japan für Ryu Murakami ein Land, in dem es sich nur bedingt zu leben lohnt.
STEFFEN GNAM.
Ryu Murakami: "In Liebe, Dein Vaterland". Roman in zwei Bänden.
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Septime Verlag, Wien 2019. 456 bzw. 504 S., geb., Preis pro Band 26,- [Euro].
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