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Produktdetails
  • Verlag: Carl Hanser
  • ISBN-13: 9783446170414
  • ISBN-10: 3446170413
  • Artikelnr.: 24339297
Autorenporträt
Milorad Pavic, 1929 in Belgrad geboren, war Schriftsteller und Professor für Literaturgeschichte in Belgrad und Novi Sad. Er beschäftigte sich insbesondere mit serbischer Barockliteratur. Er starb 2009 in Belgrad.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.1995

Angst essen Käse auf
Milorad Pavic weiß Neues über Hero und Leander

Milorad Pavic, der Belgrader Erzähler, in letzter Zeit vor allem durch seine haarsträubenden Interviews bekannt geworden, kann keinen gewöhnlichen Roman schreiben: Ein Roman in Form eines Wörterbuchs, ein Roman als Kreuzworträtsel - das sind die Dinge, auf die er sich einläßt. Die Auguren der Postmoderne erkannten in Milorad Pavic ihren jugoslawischen Helden. Sie übersahen dabei, daß in der originellen Verpackung grausige Atavismen und großserbische Aspirationen kunstvoll verschnürt waren. Nun erzählt er den Roman von Hero und Leander als eine Doppelgeschichte, die spiegelbildlich angeordnet ist. Man liest Hero von der einen und Leander von der anderen Seite - oder umgekehrt.

Das legendäre Liebespaar verfehlt sich diesmal nicht deshalb, weil der Sturm die Fackel auf dem Turme gelöscht hätte, wie der griechische Dichter Musaios berichtet, sondern einfach deshalb, weil die Partner in verschiedene Zeiten versetzt wurden. Aus Hero, der Venuspriesterin, ist die Chemiestudentin Heroneja Bukur geworden, Jahrgang 1910. Sie wohnt in Belgrad und verdient mit Französischstunden ein wenig Geld dazu, ehe sie sich zu ihrem Bruder, einem Musikstudenten, nach Prag begibt, wo sie das Opfer eines Eifersuchtsdramas wird. Leander, einst der kühne Schwimmer über den Hellespont, ist nun ein serbischer Mönch, der eigentlich Radaca oder Miljko Cihoric heißt und dazu noch manch anderen Namen führt. Er lebt um die Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert, zur Zeit der serbischen Wanderung, da der Patriarch Arsenije Carnojevic seine Schäflein vom Amselfeld nach Südungarn führt und sich unter den Schutz Habsburgs stellt.

Leander stammt aus einer hercegovinischen Bogomilenfamilie und geht den historischen Weg der Serben. In einem orthodoxen Kloster am Ohrid-See empfängt er die Mönchskutte. In den rohen Zeitläuften wächst er zum wundersamen Baumeister heran. Im vorübergehend österreichischen Belgrad baut er einen Befestigungsturm in lichte Höhen. Als die Türken die Stadt erneut erobern, fliegt er mit seinem unterminierten Turm in die Luft.

Natürlich wimmelt es in dem Text von Absonderlichkeiten. Hero hat bärtige Brüste; sie weiß, daß sie an einem Tag um zwölf Uhr fünf durch eine Explosion ums Leben kommen wird, weil es in der Minenlegerfamilie Bukur halt so üblich ist. Am Ende kommt es dann, wie auch bei Leander, ganz anders. Dieser baut auf der Flucht, zwischen zwei kaiserlichen Heeren, dem österreichischen und dem türkischen, serbische Kirchen. Für den Bau braucht er je drei Tage und sonst keine Hilfe. Jetzt weiß man endlich, auf welche Weise die serbischen Kirchen in Svilanjnac, Rainovac Slankamen und anderswo entstanden sind.

Wer Pavic schon einmal gelesen hat, wundert sich nicht mehr über die verschobenen und verschrobenen Motivationen. Alogik, Paradox, das Unmögliche und Phantastische, nie jedoch das Naheliegende und Plausible bewegt seine Pappfiguren. Die Zahl der tiefsinnig klingenden Nonsens-Sätze hat sich erhöht. Sie umfangen den Leser mit ratlosem Wohlgefallen: "Ich fühle mich wie eine Art Mittwoch. Immer komme ich zu spät, wenn der Dienstag schon vorbei ist."

In der Hero-Geschichte läßt sich der Erzähler am Ende selbst zu Wort kommen. Er berichtet, daß in der Gegend, aus der er stammt, jedes neugeborene Kind einen Käse erhält. Man stellt ihn an einem kühlen Ort und ißt ihn, wenn der Mensch stirbt, für seine Seele auf. Sinnig heißt es dann: "Mein Käse, der wartet noch immer in irgendeinem Keller. Ich hoffe, daß ihr, die ihr diesen Text lest, es nicht seid, die ihn aufessen werden."

Und was hat das mit der alten Geschichte von Hero und Leander zu tun? Soviel wenigstens, daß beide Figuren irgendwann in ihren Lebensläufen auf das Epos des Musaios stoßen; daß beide einen gefährdeten Schwanenhals haben; daß eine des anderen Tod erleidet. Beide sollen wohl eine zeitlich getrennte androgyne Wesenheit darstellen, die, wer will, mit den in den Text gestreuten serbischen Attributen besetzen kann.

Man hat das Buch, gleich dem "Chasarischen Wörterbuch", denn auch bereits als verkappte politische Botschaft angeprangert. Soll mit der Überwindung des Hellespont etwa der serbische Griff nach Konstantinopel gemeint sein? Wird in einem fadenscheinigen Quidproquo wieder das alte nationalistische Spiel gespielt? Man kann zwar niemanden daran hindern, die "inwendige Seite des Windes" so zu verstehen, doch tut man dem Buch damit zuviel Ehre an. Man sollte es in den Keller stellen, wo der Käse wartet. REINHARD LAUER Milorad Pavic: "Die inwendige Seite des Windes oder Der Roman von Hero und Leander". Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Bärbel Schulte. Carl Hanser Verlag, München 1995. 158 Seiten, geb., 34,- DM.

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