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Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht auch die Geschichte des Holocaust im Jahr 1939 eine neue Dimension. Sie kann nicht mehr auf deutsche Politik, Entscheidungen und Maßnahmen begrenzt werden, sondern muß die Reaktionen (manchmal auch Initiativen) der sie umgebenden Welt und die Haltung ihrer Opfer miteinbeziehen. Das ist schon deshalb unausweichlich, weil das, was wir „Holocaust“ nennen, einen Vorgang bezeichnet, dessen Totalität gerade in der Konvergenz all dieser Elemente besteht. Überall im besetzten Europa hing die Ausführung deutscher Maßnahmen von der Gefügigkeit der…mehr

Produktbeschreibung
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht auch die Geschichte des Holocaust im Jahr 1939 eine neue Dimension. Sie kann nicht mehr auf deutsche Politik, Entscheidungen und Maßnahmen begrenzt werden, sondern muß die Reaktionen (manchmal auch Initiativen) der sie umgebenden Welt und die Haltung ihrer Opfer miteinbeziehen. Das ist schon deshalb unausweichlich, weil das, was wir „Holocaust“ nennen, einen Vorgang bezeichnet, dessen Totalität gerade in der Konvergenz all dieser Elemente besteht. Überall im besetzten Europa hing die Ausführung deutscher Maßnahmen von der Gefügigkeit der politischen Institutionen, der Unterstützung durch lokale Ordnungskräfte, der Passivität oder Mitwirkung der Bevölkerung und vor allem ihrer politischen und geistlichen Eliten ab. Sie war auch abhängig von der Bereitschaft der Opfer, den Weisungen Folge zu leisten, oft in der Hoffnung, diese abzumildern oder doch Zeit zu gewinnen und irgendwie dem deutschen Schraubstock zu entkommen. Eine Gesamtgeschichte des Holocaust muß alle diese Ebenen in den Blick nehmen und integrieren.

„Die Jahre der Vernichtung“ erzählt mit großer historiographischer Meisterschaft die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Dritten Reiches. Doch das Streben nach wissenschaftlicher „Objektivität“, nach Erklärung und Analyse kann in einer Geschichte des Holocaust allein nicht genügen. Mit einem überwältigenden Chor von Stimmen – Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen – bewahrt Saul Friedländer seine Darstellung vor der Gefahr der „domestizierten“ Erinnerung an ein Geschehen, das ohne Beispiel ist. Es ist gerade diese besondere Qualität seiner Geschichtsschreibung, die das Buch aus der Literatur heraushebt und ihm einen einzigartigen Rang zuweist. Mit „Die Jahre der Vernichtung“ liegt Saul Friedländers großes Werk über die Ermordung der europäischen Juden nun vollständig vor.

Autorenporträt
Saul Friedländer , geb. 1932 in Prag, ist Professor für Geschichte an den Universitäten von Tel Aviv und von California, Los Angeles. 1998 erhielt er für den ersten Band seiner Darstellung Das Dritte Reich und die Juden den Geschwister-Scholl-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Die Stimmen der Opfer
Saul Friedländers historiographisches Denkmal für die ermordeten Juden Europas / Von Klaus-Dietmar Henke

Die menschheitsgeschichtliche Wucht des entschlossensten und systematischsten aller Völkermorde, der Sturz Millionen getöteter Juden aus der Arglosigkeit in die Ausweglosigkeit, die heimtückische Unerbittlichkeit der deutschen Vernichtungsmission - gewöhnlich führen uns die Möglichkeiten der Kunst näher an den Kern dieses Geschehens als geschichtswissenschaftliche Abhandlungen. Saul Friedländers Gesamtdarstellung des Holocaust bestätigt diese Erfahrung nicht. Denn in kompositorischer Könnerschaft verbindet er die nüchterne Autopsie der Mordmaschinerie, die sich durch Europa frißt, mit der sensiblen Vergegenwärtigung des Lebens und Sterbens der Menschen, die von ihr erfaßt werden. Entstanden ist so ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung von der Eindringlichkeit und Richtigkeit eines Kunstwerks.

Der Totalität der Schoa kann für Friedländer nur eine "integrative und integrierte Geschichte" gerecht werden. Mit anderen Worten: Es reicht nicht aus, sich auf das deutsche Vorgehen zu beschränken. Genauso umfassend muß den "Stimmen der Opfer" Gehör verschafft und die "umgebende Umwelt" in beinahe zwanzig europäischen Staaten ausgeleuchtet werden. Sechs Jahrzehnte nach dem Geschehen ist dies jetzt erstmals und sogleich vollendet geglückt. Denn tatsächlich erhellt der Autor die vielgestaltige europäische Landschaft mit ihren rasch wechselnden politisch-militärischen Konstellationen und ihren eingewurzelten antijüdischen Traditionen sehr gründlich. Man erkennt, wie stark die Durchsetzung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms auch von der Bereitschaft zur Kollaboration, von örtlicher Unterstützung und von der Beteiligung der einheimischen Bevölkerung an den Untaten oder deren schlichter Hinnahme abhing.

Genauso bedeutsam waren die meist defensive Haltung der tonangebenden Interessengruppen und das besonders herausgestellte Versagen der Kirchen - und von Papst Pius XII. persönlich. Als moralische Instanzen versäumten sie es, das entfesselte Böse zu brandmarken und die notwendige ethische Orientierung inmitten des antihumanen Terrors zu geben. So hatte Hitler leichtes Spiel: "Nationalsozialistische und mit ihnen verwandte antijüdische Strategien konnten sich bis zu ihrer extremsten Konsequenz entfalten, ohne daß irgendwelche nennenswerten Gegenkräfte sie hieran gehindert hätten." Das Ausbleiben einer allgemeinen Solidarität mit den eigenen Staatsbürgern jüdischen Glaubens, das auch durch noch so mutige individuelle Rettungsaktionen nicht kompensiert werden konnte, sondern das Ausgeliefertsein nur um so deutlicher hervortreten läßt, ändert freilich nichts daran, daß die Deutschen "die Anstifter und Hauptakteure" der Judenvernichtung waren. Ausschlaggebende Autorität bei deren Durchführung und ideologischer Begründung blieb immer der Reichskanzler persönlich, wie Friedländer durchgehend zeigen kann. Von der These, lokale Mordinitiativen hätten den Kurs der Zentrale vorgegeben, hält er wenig.

Der Kampf gegen das Judentum war zeitlebens Hitlers obsessives Hauptanliegen. Es war getragen von einer Weltvorstellung, die alle Ausprägungen des Politischen, Gesellschaftlichen und Kulturellen auf biologische Ursachen zurückführte. Der Nationalsozialismus sah in der als eigene Rasse verstandenen Judenheit eine tödliche Bedrohung, weil sie die erstrebte Reinheit der Rassegemeinschaft verseuche und so den Überlebenswillen der Volksgemeinschaft zersetze. Den Kern dieser Zwangsvorstellung bildete der vermeintlich rastlose verschwörerische Aktivismus des internationalen Judentums, der nicht nur das Reich, sondern die staatliche Ordnung auf der ganzen Welt unterminiere und vom Liberalismus bis zum Sozialismus, vom Kapitalismus bis zum Bolschewismus als Träger sämtlicher Weltübel fungiere. Da die Juden für die Nationalsozialisten somit in einer Art "metahistorischem Axiom" das Prinzip des Bösen schlechthin verkörperten, war es für sie mit weniger als einem "Kreuzzug zur Erlösung der Welt durch die Beseitigung der Juden" nicht getan. "Erlösungsantisemitismus" nennt Saul Friedländer diese extreme Form des Judenhasses. Dem entsprach ein emphatisches "Erlösungscredo", dessen Wirkkraft Land für Land nachgespürt wird. In staunenswürdiger Kennerschaft und unter Beiziehung noch der entlegensten Quelle zeigt der Autor die propagandistische Allgegenwart des Bildes vom gefährlichen Juden, die Ausbreitung und die alltägliche Verinnerlichung einer regelrechten "antisemitischen Kultur" im besetzten Europa. Im Mittelpunkt steht dabei naturgemäß das Deutsche Reich, wo der rassistische Antisemitismus seit 1933 den Rang einer Staatsdoktrin und eine kollektive Mobilisierungsfunktion einnahm. Zwar betont Friedländer die unheimliche Fähigkeit Hitlers, "das massenhafte Verlangen nach Ordnung, Autorität, Größe und Erlösung zu begreifen und zu verstärken". Das historisch Entscheidende ist für ihn jedoch die starke Bindungskraft zwischen großen Teilen der Bevölkerung und ihrem Führer. Der flößt der Nation (die viel genauere Kenntnis vom Judenmord hat, als sie nach 1945 eingestehen mag) in der Krise des Liberalismus und nach der Katastrophe von 1918 nicht nur Gemeinschaftsgefühl und Zielbewußtsein ein; er untermauert seine Ausnahmestellung nicht allein durch frenetisch bejubelte Erfolge. Hitler verstärkt seine charismatische Anziehungskraft auch durch das ständige Hervorkehren der Bedrohung Deutschlands und Europas durch das "Weltjudentum" - ein metahistorischer Krieger in einem metahistorischen Kampf. Für Friedländer bleibt das Phänomen des furchtbaren nationalsozialistischen Erlösungsantisemitismus, das so viele bis zuletzt morden ließ, nicht unerklärlich. Die an sich rational geordnete moderne Gesellschaft, schreibt er, bleibe "durchaus offen für die ständige Gegenwart religiöser und pseudoreligiöser Anreize; möglicherweise bedarf sie auch dieser Gegenwart".

Dieses Buch untermauert wie kein anderes die Erkenntnis, daß die Treibkräfte der Judenvernichtung vor allem ideologisch-kultureller Natur gewesen sind. Mit guten Gründen verwirft er die Ansätze, die noch immer zu beweisen suchen, der Holocaust sei "lediglich eine sekundäre Konsequenz" anderer - gar ökonomischer - Zielsetzungen gewesen. Trotz seines Beharrens auf der unmittelbaren Wirkmächtigkeit von Ideologien hat Friedländer kein geistesgeschichtliches, sondern ein ausgesprochen bodennahes, die tausendfältigen Handlungskonstellationen auslotendes Panorama der Jahre der Vernichtung 1939 bis 1945 geschaffen. Der erste Teil zeigt den zynischen Terror gegen die vogelfrei gestellten und ausgeraubten Juden vom Kriegsbeginn 1939 bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Der zweite Teil beschreibt das Gemetzel im anschließenden Jahr des Massenmords vor allem in Polen, dem Baltikum, in Weißrußland und der Ukraine, der dritte Teile die Schoa ab Sommer 1942.

Den endgültigen Entschluß Hitlers zur systematischen Ausrottung sämtlicher Juden im deutschen Machtbereich sieht der Autor nach zwingender Beweisführung im letzten Quartal 1941 ("wahrscheinlich im Dezember") unter dem Eindruck erster militärischer Rückschläge und vor allem des Kriegskurses beziehungsweise des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten fallen. Da die Juden ihre wiederholt propagierte Geiselfunktion zur Abschreckung der amerikanischen Einmischung in den europäischen Konflikt nicht erfüllt haben, fallen sie, schon als Risiko für die innere Sicherheit der ins Wanken geratenen "Festung Europa", der totalen Vernichtung anheim. Doch Friedländers Buch zeichnet sich nicht allein durch seine dichte Rekonstruktion der antijüdischen Barbarei im nationalsozialistischen Europa aus. Zugleich bietet es die dramatische Geschichte des europäischen Judentums im Angesicht seiner Zerstörung. Der Autor läßt uns die Entsolidarisierung, die innere Zerrissenheit der Judenheit und die Spannungen innerhalb der einzelnen nationalen Gemeinden miterleben, die er aus ihren jeweiligen nationalen Traditionen, aus ihrer Integration oder Segregation, genauso herzuleiten weiß wie aus ihrem bis zuletzt ungewissen Abwehrkampf. Das bleibt nie abstrakt. Die jüdischen Repräsentanten und geistlichen Führer treten noch einmal ins Licht der historischen Bühne; die Judenräte der Ghettos in Warschau, Wilna, Riga oder Lodz; die jüdischen Verräter, Hilfspolizisten und Widerstandskämpfer. Ihr Optimismus, ihre Gleichgültigkeit, ihr Versagen, ihr Opfermut und ihr Heldentum werden nacherlebbar. Friedländers Urteil über sie bleibt stets um größtmögliche historische Gerechtigkeit bemüht.

Friedländer ist zudem ein Meister in der Kunst, das geeignete Zitat auszuwählen und wirken zu lassen. Aus den in großer Zahl überlieferten Tagebüchern und Briefen führt er uns die Hoffnung, die Verzweiflung und das Sterben von Millionen Männern, Frauen und Kindern vor Augen. Wir hören das imaginäre Zwiegespräch, das der Autor zwischen den Juden Europas zu arrangieren scheint, zwischen den Orthodoxen und Assimilierten, zwischen in Verstecken oder Lagern Heranwachsenden und resignierenden oder aufopferungsvollen Älteren, zwischen Frauen und Männern, über denen alle dasselbe Verhängnis schwebt. Als Chronisten ihrer selbst lassen sie überall in Europa historische Zeugnisse entstehen, und sie begleiten uns bis zum Ende des Buches. Fast keiner der betroffenen Beobachter hat überlebt. Doch ihre Notate wurden gefunden. Auf tragische Weise, schreibt Friedländer, haben sie ihr Ziel erreicht.

In ihrer Eindringlichkeit erinnert die Darstellung dieser maßlosen Tragödie an das Filmkunstwerk von Claude Lanzman. Der Chor der Stimmen - das ist Saul Friedländers Absicht - unterbricht die glatte historische Erzählung und "die (meist unwillkürliche) Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanz und ,Objektivität'" in der Tat höchst eindrucksvoll. So sind tiefe Fassungslosigkeit und nüchterne Gründlichkeit in einem Werk zusammengeflossen, das mehr ist als ein Höhepunkt internationaler Zeitgeschichtsschreibung: Es ist das historiographische Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Saul Friedländer: "Die Jahre der Vernichtung". Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Verlag C. H. Beck, München 2006. 869 S., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" würdigt Klaus-Dietmar Henke diese Werk von Saul Friedländer. Die souveräne Verbindung einer umfassenden, nüchternen Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden mit der sensiblen Vergegenwärtigung des Leidens und Sterbens der Opfer hat ihn tief beeindruckt. Er unterstreicht, dass es sich bei dem Werk um eine Gesamtdarstellung des Holocaust handelt, die die gnadenlose Durchführung des nationalsozialistischen Vernichtungsprogramms und die zentrale Rolle der antisemitischen Ideologie Hitlers ebenso in den Blick nimmt wie die europäische Dimension des Verbrechens sowie die Reaktionen und die Stimmen der Opfer. In ihrer Eindringlichkeit erinnert Henke diese Darstellung des Holocaust an das filmische Werk von Claude Lanzmann. Und so bescheinigt er Friedländers Werk auch die "Eindringlichkeit und Richtigkeit eines Kunstwerks".

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