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Nobelpreis für Literatur 2022
Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux' aufsehenerregendes Werk wirkt von Beginn an weit über die französischen Grenzen hinaus. Eine faszinierende Einladung, das eigene Leben zu hinterfragen: »Annie Ernaux zu lesen ist ein Schock, eine Erfahrung, vor allem ist es wichtig.« Der Spiegel
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich
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Produktbeschreibung
Nobelpreis für Literatur 2022

Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux' aufsehenerregendes Werk wirkt von Beginn an weit über die französischen Grenzen hinaus. Eine faszinierende Einladung, das eigene Leben zu hinterfragen: »Annie Ernaux zu lesen ist ein Schock, eine Erfahrung, vor allem ist es wichtig.« Der Spiegel

Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, de Gaulle, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, die uneingelösten Verheißungen der Nullerjahre, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind. Und dabei schreibt sie ihr Leben - unser Leben, das Leben - in eine völlig neuartige Erzählform ein: »Annie Ernauxist die Königin der neuen autobiographischen Literatur.« Die Zeit
Autorenporträt
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur. Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Rezensionen
»Private Fotografien, kollektive Geschichte: Annie Ernaux betrachtet in Die Jahre eine ganze Epoche und erzählt eine französische Mentalitäts- und Emotionsgeschichte.« Peter Urban-Halle Frankfurter Allgemeine Zeitung 20171102

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2017

Die Stille war unser Hintergrundgeräusch

Mit zehn Jahren Verspätung erscheint Annie Ernaux' Roman "Die Jahre" endlich auch bei uns. Sie erzählt ihr Leben, indem sie die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie und jene Bilder kunstvoll miteinander verknüpft, die ihr scheinbar zufällig im Kopf geblieben sind

Es gibt Momente in der Geschichte, die untrennbar zu uns allen gehören, obwohl jeder Einzelne sie mit seinen eigenen Erinnerungen verknüpft. Der Roman "Die Jahre" der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux macht dieses Phänomen zum Erzählprinzip. Annie Ernaux wurde 1940 im Norden Frankreichs geboren, wo sie in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Sie studierte, wurde Lehrerin, bekam Kinder und widmete sich erst spät ganz dem Schreiben. Ihre Lebensgeschichte erinnert in vieler Hinsicht an die ihrer Kollegen Édouard Louis und Didier Éribon, deren Bücher in den vergangen Jahren auch in Deutschland Verkaufserfolge waren. In Rückkehr nach Reims schreibt Éribon mehrmals, dass ihn insbesondere zwei große Vorbilder inspiriert haben: Pierre Bourdieu und Annie Ernaux. Nachdem "Die Jahre", Ernaux' neuntes Buch, bereits 2008 in Frankreich herauskam und ihr sowohl dort als auch in Italien eine Reihe von Preisen einbrachte, brauchte es offenbar zuerst Éribon, um Ernaux auch hier bekannter zu machen. Beinahe zehn Jahre nach dem französischen Original erscheinen "Die Jahre" nun auch in deutscher Übersetzung.

In ihrem Roman erzählt Ernaux von dem, was sie im Titel verspricht: Von den Jahren ihres Lebens, den Jahren der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren, die vergehen.

Die Welt, in der die Erzählerin groß wird, ist eine, die so anders ist, als läge zwischen damals und heute mehr als ein Menschenleben. Die Arbeit ist hart und orientiert sich, wie der Alltag, an Jahreszeiten und kirchlichen Feiertagen. Wunden werden mit Urin desinfiziert, der Krieg ist gerade erst vorüber. Es ist dreckig, die Kindersterblichkeit hoch. Die meisten Menschen sind nie länger als 50 Kilometer gereist, Paris ist fern wie ein fremdes Land. Es ist eine langsamere, ruhigere Zeit: "Stille war unser Hintergrundgeräusch und das Fahrrad das Maß für die Geschwindigkeit unseres Lebens." In dieser Welt sind Familienerzählung und gesellschaftliche Erzählung eins. Beim Sonntagsessen werden Geschichten erzählt, "in denen keine persönlichen Erlebnisse vorkamen außer Geburten, Hochzeiten und Todesfälle".

In "Die Jahre" nimmt sich Ernaux diese Art der Erzählung zum Vorbild: Sie erzählt die Geschichte einer Generation, oder besser, der Frauen einer Generation, die viele Erfahrungen teilen. Gleichzeitig vermischt sie diese mit ihrer eigenen, sehr individuellen Geschichte. Wie sie der Welt ihrer Kindheit durch ihr Studium entwächst, ohne sie je so ganz hinter sich zu lassen. Wie sie seit ihrer Jugend vom Schreiben träumt, sich aber verliert, irgendwo, zwischen Arbeit und Familie. Und wie es ihr dann, als die Kinder aus dem Haus sind, doch gelingt. Sie möchte "so etwas Ähnliches wie ,Ein Leben' von Maupassant" schreiben, "ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt".

Der Roman ist durchzogen von einer Melancholie und einem Gefühl von Verlust. Von Zeit, die nie mehr wiederkommen wird, von Personen, die gestorben sind, doch auch von einem jugendlichen Lebensgefühl, das einem irgendwie abhandengekommen ist. Zwar kommt immer wieder Hoffnung auf, bricht sich ein unbändiger Zukunftsglaube Bahn, doch wird der auch häufig enttäuscht. Die Dinge ändern sich plötzlich und schnell. Und dann? Auf den wirtschaftlichen Boom, der mit der Zuversicht einhergeht, dass all die neuen Dinge das Leben vereinfachen werden, folgt der Überdruss, der sich in der Kälte riesiger Supermärkte in trostlosen Gewerbegebieten manifestiert. Die Jahre einer sexuell unterdrückten Jugend, hin- und hergerissen zwischen "den Sticheleien der Jungen, Jungfrauen seien frigide, und den Vorschriften der Eltern und der Kirche", werden abgelöst von einer kurzen sexuellen Befreiung, die jedoch bald von neuen Ängsten erstickt wird. Die Perfektion hält Einzug ins Sexleben, der Körper muss schön sein. In den neunziger Jahren sind Frauen "mehr denn je unter Beobachtung, ihr Verhalten, ihr Geschmack und ihre Wünsche wurden permanent kommentiert, mal besorgt, mal selbstgefällig".

Die Form, die Ernaux für ihr Erzählen wählt, ist ungewöhnlich. Stückweise gleicht sie einer Collage: Kurze Erinnerungen und Bilder lösen sich ab mit der ersten Person Plural, dem "Wir" der Geschichte der Frauen; und mit Ernaux' eigener Lebensgeschichte, die sie anhand von Fotografien in der dritten Person beschreibt. Vom "Kleinkind mit Babyspeck, Schmollmund und einer dunklen Haartolle" bis zur alten Frau, "die Stirn von Falten überzogen", ihre Enkelin auf dem Schoß. Möchte man ein ganzes Leben erzählen, gehören alle drei Dinge zusammen: Die Bilder, die scheinbar wahllos und zufällig im Kopf bleiben, die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie. Zwar ist die Geschichte der Gesellschaft immer auch eine andere, als die der Person, die sie erlebt, denn nicht jeder war 1968 zwischen 18 und 25, nicht jeder warf Steine, nicht überall war Paris. Doch berührt dieses Ereignis trotzdem ein ganzes Land, jedes einzelne Leben. Ernaux fügt alles zusammen zu einer vollkommen neuen Form autobiographischen Schreibens. Durch ihre Perspektive gelingt es ihr, sowohl sich selbst als auch ihre Rolle in der Gesellschaft wie von außen zu betrachten, dabei jedoch trotzdem sehr intim und berührend zu sein.

Es sind Bilder, die in diesem Roman eine große Rolle spielen, Bilder, die man im Kopf hat, die man, wie die eigene Sprache, mit niemand anderem teilt, die einen zu dem machen, was man ist. Filmszenen, an die man sich erinnert, auch wenn der Rest der Handlung längst verblasst ist. Sätze, die einem jedes Mal einfallen, wenn man an einer bestimmten Stelle vorbeifährt, weil sie irgendwann mal von einem Beifahrer genau im Moment des Vorbeifahrens gesagt wurden.

Ernaux zählt Redewendungen auf, die sie in die Vergangenheit tragen, zu Personen, die diese immer benutzten. Oder einzelne Äußerungen, wie die ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter: "Anders als die stehenden Wendungen, sind diese Sätze einzigartig, sie gehören allein ihrer Mutter und niemandem sonst auf der Welt." Es sind diese Erinnerungen, die alles zusammenhalten, die die Beziehung zu anderen Menschen ausmachen: "Wenn man seine mittlerweile erwachsenen Kinder beobachtete und ihnen zuhörte, fragte man sich, was einen eigentlich verband, weder das Blut noch die Gene, nur eine Gegenwart aus Tausenden gemeinsam verbrachten Tagen, aus Worten und Gesten, aus Mahlzeiten, Autofahrten, unzähligen geteilten Erfahrungen, deren man sich nicht bewusst war."

Auch wenn Ernaux auf diese Weise die Vergangenheit bewahren möchte, "etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird", ist sie nicht nostalgisch. "Dass Fragen in Bezug auf die Vergangenheit immer sinnlos sind", weiß sie zu gut. Ihre Haltung entsteht aus einem kritischen Blick auf die Gesellschaft, damals und heute. Das ist, neben dem Erinnern, das andere große Thema des Buchs, seine soziologische Seite, an der man sieht, warum Éribon sagt, er habe viel von ihr gelernt. Ernaux' Beobachtungen sind präzise und vorausschauend, besonders, wenn man bedenkt, dass der Roman in Frankreich vor bald zehn Jahren erschienen ist. Sie beschreibt, was die französische Gesellschaft teilt, sie erkennt, dass es Menschen gibt, die nicht dazugehören. Migranten, die irgendwo in dubiosen Vierteln wohnen, wo niemand hingehen mag; Menschen, die man allein als Bauarbeiter oder Müllmänner kennt. Sie fürchtet sich vor dem Erstarken der Rechten und der zunehmenden Kritik an den Medien. Nur manchmal rutscht sie dabei in eine etwas einseitige Fortschrittskritik, die sich den moralischen Zeigefinger, wenn auch aus stets distanzierter Haltung, nicht immer verkneifen kann.

Man mag sich "Die Jahre" nun sehr vollgepackt, ja verwirrend vorstellen. Auch die Erzählerin selbst hat "Angst, sich in den vielen Facetten der Wirklichkeit, die sie beschreiben will, zu verlieren". Erstaunlicherweise passiert das jedoch nie. Im Gegenteil überzeugt der Roman gerade dadurch, dass er die verschiedenen Ebenen miteinander vermischt. Auch das eigene Leben ist ja nichts anderes als ein ständiger Wechsel zwischen kleinen Beobachtungen und Weltgeschehen, zwischen Privatem und Kollektivem.

In all den Jahren mit ihren Veränderungen gibt es außerdem etwas, das bleibt. Die gemeinsamen Familienessen verbinden die einfache Kindheit mit Ernaux' späterem Leben als Intellektuelle, in dem sie selbst erst Mutter und schließlich Großmutter ist. Die Familienmitglieder wechseln, die Gesprächsthemen ändern sich, doch die Tradition bleibt bestehen. Es ist eine Tradition, die die Kinder langweilt und die erst mit dem Alter immer kostbarer wird, wenn Verwandte, die früher einmal dabei waren, in Erzählungen lebendig werden, und einem gleichzeitig bewusst wird, dass Zeit vergeht: "Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte." Ernaux' Buch ist der Versuch, das Erinnern in Worte zu fassen, damit eines Tages, wenn man "nur noch ein Vorname" sein wird, "von Jahr zu Jahr gesichtsloser", trotzdem etwas bleibt.

ANNA VOLLMER

Annie Ernaux: "Die Jahre". Roman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 255 Seiten, 18 Euro. Die Autorin liest heute Abend in Essen, morgen in Bonn und tritt auf der Buchmesse zusammen mit Didier Éribon auf (am Donnerstag, dem 12. Oktober, um 18.30 Uhr in der Evangelischen Akademie).

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Es mussten wohl erst Didier Eribon und Edouard Louis kommen, damit sich auch hierzulande jemand fand, Annie Ernauxs biografischen Roman "Die Jahre" knapp zehn Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich zu veröffentlichen, glaubt Rezensentin Anna Vollmer. Zu Unrecht, fährt die Kritikerin fort, denn Ernaux gelinge das Kunststück, private Erinnerungen in eine gesellschaftliche Erzählung zu verwandeln. Gebannt folgt die Rezensentin der Autorin bei ihrem melancholischen Rückblick auf das vergangene halbe Jahrhundert, erlebt wirtschaftlichen Boom und Überdruss, sexuelle Unterdrückung und Befreiung und bewundert die eindringlichen und lange nachhallenden Bilder und Sätze, die Ernaux für ihre Erlebnisse findet. Bewegt liest Vollmer zudem, wie die Autorin von der gemeinsamen Zeit mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter erzählt. Nicht zuletzt staunt die Rezensentin über den vorausschauenden, nostalgiefreien kritischen Blick der Autorin auf die Gesellschaft. Ernauxs präzisen Beobachtungen nimmt Vollmer die gelegentliche "einseitige Fortschrittskritik" nicht übel.

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»Annie Ernaux zu lesen ist ein Schock, eine Erfahrung, vor allem ist es wichtig.« LITERATUR SPIEGEL