Unter den bis heute wichtigen historischen Wurzeln einer europäischen Kultur nimmt die Geschichte der Juden eine besondere Stellung ein. In den Quellen, die in diesem Buch präsentiert werden, stellen sich die Juden als keineswegs hilflos der christlichen Gesellschaft ausgeliefert dar. Die Wirklichkeit scheint von großer Lebenskraft vieler Gemeinden bestimmt gewesen zu sein. Als Grundzug der hier behandelten Epoche jüdischer Geschichte in der Spätantike zeigt sich, dass die mehrheitlich christliche Judentheologie und die Realität des Lebens zum Teil weit auseinanderfielen. Dies aber machte die Lage der Juden instabil und unberechenbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2002Roms Diaspora
Karl Leo Noethlichs führt in das spätantike Judentum ein
Obwohl die Erforschung der Geschichte des Verhältnisses von Judentum und Christentum große Fortschritte gemacht hat, fehlt es im deutschsprachigen Raum an Publikationen, die die Quellen didaktisch aufbereiten. Der Band des Aachener Althistorikers Karl Leo Noethlichs schließt diese Lücke für die Spätantike und verbindet eine chronologische wie systematische Darstellung mit einem umfangreichen Quellenteil in Übersetzung.
Nach Noethlichs' Auffassung war das Judentum seit Cäsar rechtlich anerkannt und genoß gewisse Privilegien, welche die Ausübung der Religion ermöglichten. Unter den christlichen Kaisern habe sich diese Situation rechtlich zwar verändert, aber nicht grundlegend verschlechtert. Insbesondere sei die hohe Zahl der Kaisererlasse zum Schutz der Juden (im Unterschied zum Umgang mit Heiden und Häretikern) auffällig, womit die Spätantike "den Grundstein für den vielfachen staatlichen Schutz der europäischen Juden" legte.
Allerdings habe sich unter den christlichen Kaisern der "Zeitgeist" gewandelt, wofür Noethlichs die endgültige Ablösung vom jüdischen Festkalender, das sich herausbildende christliche Geschichtsbild und "eine beginnende Rückkehr zum Hebräischen" zum Zwecke der "Stabilisierung" eben dieses Geschichtsbildes und des eigenen christlichen Selbstverständnisses namhaft macht. Die Kirche habe ihre Aufgabe zunehmend darin gesehen, "ihre Anhänger von den Juden abzuschirmen". Durch diese und andere Strategien wie die Aufnahme vorchristlicher Vorurteile sei die Konstruktion eines "Feindbildes" möglich geworden, "das sich in Krisenzeiten aktivieren ließ, und dessen verschiedene furchtbare Folgen Europa bis heute beschäftigen". Daneben weise aber der weithin unproblematische Alltag der Juden im zunehmend christianisierten Imperium auf eine große "Lebenskraft vieler Gemeinden".
Zumal wenn man - wie der Rezensent - diese Einschätzung nur teilweise teilt, erlaubt es der umfangreiche Materialteil jedem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Den Schwerpunkt dieser Zusammenstellung machen Texte zur staatlichen und kirchlichen Judengesetzgebung sowie zur theologischen Auseinandersetzung der Christen mit den Juden aus. Sie werden durch einige weitere Quellen ergänzt, darunter Inschriften und archäologische Zeugnisse (mit Abbildungen). Es fehlen leider vollständig die rabbinischen Schriften, für die sich der Althistoriker Noethlichs unzuständig erklärt. Dies ist vielleicht das schwerwiegendste Manko des Buches, auch wenn man dem Verfasser zubilligen wird, daß gerade diese Texte weithin ungeklärte Probleme inhaltlicher wie chronologischer Art bieten.
Der Band ist materialreich, auf das Notwendige konzentriert, dabei sehr verständlich geschrieben und als Lehrbuch für Seminare bestens geeignet. Bleibt nur zu hoffen, daß entsprechende Veranstaltungen nicht nur von Patristikern und Judaisten, sondern auch von Althistorikern angeboten werden. Die jüdische Geschichte ist auch Teil der Alten Geschichte - nicht nur in Aachen.
WOLFRAM KINZIG
Karl Leo Noethlichs: "Die Juden im christlichen Imperium Romanum". 4.-6. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2001. 271 S., br., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Leo Noethlichs führt in das spätantike Judentum ein
Obwohl die Erforschung der Geschichte des Verhältnisses von Judentum und Christentum große Fortschritte gemacht hat, fehlt es im deutschsprachigen Raum an Publikationen, die die Quellen didaktisch aufbereiten. Der Band des Aachener Althistorikers Karl Leo Noethlichs schließt diese Lücke für die Spätantike und verbindet eine chronologische wie systematische Darstellung mit einem umfangreichen Quellenteil in Übersetzung.
Nach Noethlichs' Auffassung war das Judentum seit Cäsar rechtlich anerkannt und genoß gewisse Privilegien, welche die Ausübung der Religion ermöglichten. Unter den christlichen Kaisern habe sich diese Situation rechtlich zwar verändert, aber nicht grundlegend verschlechtert. Insbesondere sei die hohe Zahl der Kaisererlasse zum Schutz der Juden (im Unterschied zum Umgang mit Heiden und Häretikern) auffällig, womit die Spätantike "den Grundstein für den vielfachen staatlichen Schutz der europäischen Juden" legte.
Allerdings habe sich unter den christlichen Kaisern der "Zeitgeist" gewandelt, wofür Noethlichs die endgültige Ablösung vom jüdischen Festkalender, das sich herausbildende christliche Geschichtsbild und "eine beginnende Rückkehr zum Hebräischen" zum Zwecke der "Stabilisierung" eben dieses Geschichtsbildes und des eigenen christlichen Selbstverständnisses namhaft macht. Die Kirche habe ihre Aufgabe zunehmend darin gesehen, "ihre Anhänger von den Juden abzuschirmen". Durch diese und andere Strategien wie die Aufnahme vorchristlicher Vorurteile sei die Konstruktion eines "Feindbildes" möglich geworden, "das sich in Krisenzeiten aktivieren ließ, und dessen verschiedene furchtbare Folgen Europa bis heute beschäftigen". Daneben weise aber der weithin unproblematische Alltag der Juden im zunehmend christianisierten Imperium auf eine große "Lebenskraft vieler Gemeinden".
Zumal wenn man - wie der Rezensent - diese Einschätzung nur teilweise teilt, erlaubt es der umfangreiche Materialteil jedem Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Den Schwerpunkt dieser Zusammenstellung machen Texte zur staatlichen und kirchlichen Judengesetzgebung sowie zur theologischen Auseinandersetzung der Christen mit den Juden aus. Sie werden durch einige weitere Quellen ergänzt, darunter Inschriften und archäologische Zeugnisse (mit Abbildungen). Es fehlen leider vollständig die rabbinischen Schriften, für die sich der Althistoriker Noethlichs unzuständig erklärt. Dies ist vielleicht das schwerwiegendste Manko des Buches, auch wenn man dem Verfasser zubilligen wird, daß gerade diese Texte weithin ungeklärte Probleme inhaltlicher wie chronologischer Art bieten.
Der Band ist materialreich, auf das Notwendige konzentriert, dabei sehr verständlich geschrieben und als Lehrbuch für Seminare bestens geeignet. Bleibt nur zu hoffen, daß entsprechende Veranstaltungen nicht nur von Patristikern und Judaisten, sondern auch von Althistorikern angeboten werden. Die jüdische Geschichte ist auch Teil der Alten Geschichte - nicht nur in Aachen.
WOLFRAM KINZIG
Karl Leo Noethlichs: "Die Juden im christlichen Imperium Romanum". 4.-6. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2001. 271 S., br., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ganz vorzüglich findet Rezensent Wilfried Nippel diesen von Karl Leo Noethlichs kommentierten Band übersetzter Quellen, der Aufschluss gibt über die verbesserte Lage der Juden im Römisch-Christlichen Reich. Sie wurden - anders als christliche Häretiker und Heiden - in ihren Rechten bestätigt und den Synagogen wurde Schutz gewährt, berichtet Nippel. Dennoch gab es Ausnahmen und auch im Alltagsleben habe es Abgrenzungen gegeben. Kein Wunder, schließlich wurde der theologisch motivierte Antijudaismus weiter entwickelt. Aber auch darüber, so Nippel, gebe der Band hervorragend Auskunft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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