Barbara Hahn zeichnet den Weg deutscher Jüdinnen durch die deutsch-jüdische Geschichte von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Zeit nach 1945 nach. Sie skizziert die intellektuelle Landschaft, in der sich Rahel Levin Varnhagen, Else Lasker-Schüler, Rosa Luxemburg, Margarete Susman oder Hannah Arendt bewegten - von den jüdischen Salons im Berlin des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Netzwerken und Briefwechseln des 20. Jahrhunderts, in denen über die Frauen der Romantik oder eine Kulturtheorie der Moderne oder den Sprachverlust in der Emigration debattiert wurde.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2003Exempel ja, Exemplum nein
Barbara Hahn risikiert eine Kulturgeschichte der deutschen Jüdin
Barbara Hahn versucht einen Dunkelraum zu erhellen, über den bisher wenig bekannt ist: Sie trägt Bausteine für eine noch zu schreibende Kulturgeschichte der deutschen Jüdin zusammen. Das ist ungewöhnlich, weil sich im historischen Blick auf das deutsche Judentum der "Deutsche" und der "Jude" gegenüberzustehen pflegen - zwei Pole, die männlich konnotiert sind. Ein Grund dafür liegt in der Tatsache, daß die beiden sich hier berührenden Kulturen bis in die Hitlerzeit, also bis zum Ende des deutschen Judentums, patriarchalisch strukturiert waren und eine weibliche Definition kollektiver Selbst- und Fremdwahrnehmung kaum in Betracht zogen.
Mit dieser Schwierigkeit ist Barbara Hahn seit langem vertraut. Die an der Princeton University lehrende Professorin für Deutsche Literatur ist mit einschlägigen Studien zu Rahel Varnhagen hervorgetreten, und auch zu Beginn ihres neuen Buches steht eine aufmerksame Lektüre der Briefe Rahels. An der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert tritt nicht nur die deutsche, sondern auch die jüdische Gesellschaft in die Moderne ein, und Hahn macht sichtbar, wie traumatisch dieser Prozeß für viele der Jüdinnen gewesen ist, die nicht selten zum Christentum konvertiert sind.
Danach wendet sich die Autorin den Mechanismen zu, die die frühen Salons Berliner Jüdinnen zu einem Mythos der Historiographie gemacht haben. Sie beschreibt zunächst die Reaktionen der Zeitgenossen und später die Weise, in der die Forschung diese Salons bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre ideologischen Zwecke vereinnahmt hat. Hahn scheint sich ihrem Thema über die Rezeptionsgeschichte zu nähern, ein Ansatz, der den entstehenden Bildern einen einheitlichen Rahmen zu geben verspricht.
Dann stellt sich jedoch heraus, daß dieser methodische Weg schnell wieder verlassen wird. Barbara Hahn bietet keine konsequente Darstellung ihres Gegenstandes, sie reiht nur Einzelstudien aneinander, die von wechselnden Interessen geleitet sind. Das Hauptgewicht liegt dabei auf dem zwanzigsten Jahrhundert, und da das Material keine kohärente Form findet, fällt es schwer, den Inhalt des Buches zusammenzufassen. So gibt es zum Beispiel ein Kapitel über die späten Salons im wilhelminischen Deutschland, die fast ein Jahrhundert nach Rahel Varnhagen von Berliner Jüdinnen geführt wurden. Aber diese Salons stehen in einem völlig anderen soziologischen Kontext als ihre Vorläufer aus der Früh- und Spätromantik, und da Barbara Hahn die Wendezeit des deutschen Judentums, das neunzehnte Jahrhundert, fast völlig überspringt, muß der Leser hier teilweise den Faden verlieren.
Ein anderes Beispiel ist das Kapitel über die Historikerin Selma Stern. Hahn spricht von ihrer in der Weimarer Republik konzipierten Geschichte der Juden in Preußen und ihrem gescheiterten Versuch, eine Typologie der jüdischen Frau zu entwickeln. Diesem Scheitern aber fehlt sein breiterer Zusammenhang, weil uns nichts über das Projekt der "Wissenschaft des Judentums" berichtet wird, das der deutsch-jüdischen Historiographie nach dem Ersten Weltkrieg erst ihre problematischen Voraussetzungen gegeben hat.
Hahns isolierte Arbeitsweise ist um so bedauerlicher, als das hier mit geübtem Spürsinn zusammengetragene Material oft sehr interessant ist. In seinen letzten Kapiteln führt das Buch über die Hitlerzeit und den Holocaust bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein, und in der dort dargestellten Konstellation von Karl Jaspers, Hannah Arendt und Martin Heidegger erreicht es einen seiner Höhepunkte. Ihren Reiz gewinnen diese Kapitel aus Hahns erfahrener Entschlüsselung von Briefwechseln, die die beiden auf eine merkwürdige Weise miteinander verbundenen Philosophen Jaspers und Heidegger als existentielle Antipoden sichtbar machen: Jaspers war mit einer Jüdin verheiratet und wäre mit ihr, hätte die Gestapo sie verhaftet, in den Tod gegangen; Heidegger dagegen hält gleich mehrere Jüdinnen "erotisch besetzt", wie Barbara Hahn es nennt - neben Hannah Arendt auch die Philosophin Elisabeth Blochmann und spät im Leben noch die Dichterin Mascha Kaléko -, doch zugleich bleibt er immer ein erklärter Antisemit.
In seiner Korrespondenz mit Hannah Arendt wird Heidegger auch zum Poeten. Hahn bringt eine Reihe von Gedichten, die er an sie gerichtet hat, und interpretiert sie. Hier finden sich faszinierende Einblicke in eine schwierige Beziehung, aber gerade solche starken Stellen des Buches weisen zugleich auf seine Schwäche hin. Mit ihren verschiedenen Themen wechselt Hahn oft die Blickrichtung, sie setzt sich der Gefahr einer unüberschaubaren Eklektik aus und verfehlt damit nicht selten auch ihr Thema. In den Kapiteln über Heidegger zum Beispiel herrscht nicht die Perspektive der Frauen vor, sondern der Blick des berühmten Mannes; und wo es um Frauen aus dem deutschen Judentum geht, sollte dieser Philosoph nur sehr bedingt als Zeuge aufgerufen werden.
Warum gelingt es Barbara Hahn nicht, ihren Gegenstand - die "deutsche Jüdin" - kategorisch sichtbar zu machen? Das deutsche Judentum gehört zunächst in den Bereich der Geschichtswissenschaft, Hahn aber nähert sich ihrem Thema nicht als Historikerin. Im langen Kapitel etwa wird versucht, Rosa Luxemburg als private Person zu profilieren und ihr verborgenes Judentum herauszuarbeiten; ausgerechnet der öffentliche Raum aber, ohne den diese jüdische Politikerin der deutschen Revolution keine Konturen gewinnen kann, bleibt ausgeblendet. Barbara Hahn ist Germanistin, aber auch den Maßstab der Literaturwissenschaft legt sie in ihren Studien nicht konsequent an. Wo sie von einer Autorin wie Margarete Susman spricht, lernen wir ihr Werk nicht wirklich kennen; und Namen wie Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs werden zwar genannt, aber ihre Gedichte lesen wir nicht.
Hahns Buch versteht sich als ein Beitrag zur Kulturwissenschaft. "Auch eine Theorie der Moderne" nennt die Verfasserin ihre Versuche, ein hohes Versprechen, das leider nicht eingelöst wird. Die Kulturwissenschaft ist eine noch junge Disziplin, sie leidet unter einem chronischen Mißverhältnis von empirischer Basis und theoretischem Überbau. Im Titel des Buches wird das deutlich: Das Motiv der "Jüdin Pallas Athene" ist einem Gedicht von Paul Celan entnommen, und Hahn entdeckt es noch in einigen Textstellen bei Heinrich Heine und Gottfried Benn; bei drei männlichen Dichtern also, die für die hermeneutische Fundierung einer weiblichen Lektüre kaum ausreichen dürften.
Über das Phänomen der deutschen Jüdin ist noch zu wenig bekannt, als daß man sich darüber bereits in theoretischen Spekulationen ergehen sollte. Das weitgehend fehlende Material muß erst gesichtet und zugänglich gemacht werden, und wenige unter den heute auf diesem Gebiet arbeitenden ForscherInnen sind dazu so berufen wie Barbara Hahn selbst. Ohne eine solche Vorarbeit gibt es kein Publikum, das sich mit den Thesen des Buches fruchtbar auseinandersetzen könnte.
JAKOB HESSING
Barbara Hahn: "Die Jüdin Pallas Athene". Auch eine Theorie der Moderne. Berlin Verlag, Berlin 2002. 367 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Barbara Hahn risikiert eine Kulturgeschichte der deutschen Jüdin
Barbara Hahn versucht einen Dunkelraum zu erhellen, über den bisher wenig bekannt ist: Sie trägt Bausteine für eine noch zu schreibende Kulturgeschichte der deutschen Jüdin zusammen. Das ist ungewöhnlich, weil sich im historischen Blick auf das deutsche Judentum der "Deutsche" und der "Jude" gegenüberzustehen pflegen - zwei Pole, die männlich konnotiert sind. Ein Grund dafür liegt in der Tatsache, daß die beiden sich hier berührenden Kulturen bis in die Hitlerzeit, also bis zum Ende des deutschen Judentums, patriarchalisch strukturiert waren und eine weibliche Definition kollektiver Selbst- und Fremdwahrnehmung kaum in Betracht zogen.
Mit dieser Schwierigkeit ist Barbara Hahn seit langem vertraut. Die an der Princeton University lehrende Professorin für Deutsche Literatur ist mit einschlägigen Studien zu Rahel Varnhagen hervorgetreten, und auch zu Beginn ihres neuen Buches steht eine aufmerksame Lektüre der Briefe Rahels. An der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert tritt nicht nur die deutsche, sondern auch die jüdische Gesellschaft in die Moderne ein, und Hahn macht sichtbar, wie traumatisch dieser Prozeß für viele der Jüdinnen gewesen ist, die nicht selten zum Christentum konvertiert sind.
Danach wendet sich die Autorin den Mechanismen zu, die die frühen Salons Berliner Jüdinnen zu einem Mythos der Historiographie gemacht haben. Sie beschreibt zunächst die Reaktionen der Zeitgenossen und später die Weise, in der die Forschung diese Salons bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre ideologischen Zwecke vereinnahmt hat. Hahn scheint sich ihrem Thema über die Rezeptionsgeschichte zu nähern, ein Ansatz, der den entstehenden Bildern einen einheitlichen Rahmen zu geben verspricht.
Dann stellt sich jedoch heraus, daß dieser methodische Weg schnell wieder verlassen wird. Barbara Hahn bietet keine konsequente Darstellung ihres Gegenstandes, sie reiht nur Einzelstudien aneinander, die von wechselnden Interessen geleitet sind. Das Hauptgewicht liegt dabei auf dem zwanzigsten Jahrhundert, und da das Material keine kohärente Form findet, fällt es schwer, den Inhalt des Buches zusammenzufassen. So gibt es zum Beispiel ein Kapitel über die späten Salons im wilhelminischen Deutschland, die fast ein Jahrhundert nach Rahel Varnhagen von Berliner Jüdinnen geführt wurden. Aber diese Salons stehen in einem völlig anderen soziologischen Kontext als ihre Vorläufer aus der Früh- und Spätromantik, und da Barbara Hahn die Wendezeit des deutschen Judentums, das neunzehnte Jahrhundert, fast völlig überspringt, muß der Leser hier teilweise den Faden verlieren.
Ein anderes Beispiel ist das Kapitel über die Historikerin Selma Stern. Hahn spricht von ihrer in der Weimarer Republik konzipierten Geschichte der Juden in Preußen und ihrem gescheiterten Versuch, eine Typologie der jüdischen Frau zu entwickeln. Diesem Scheitern aber fehlt sein breiterer Zusammenhang, weil uns nichts über das Projekt der "Wissenschaft des Judentums" berichtet wird, das der deutsch-jüdischen Historiographie nach dem Ersten Weltkrieg erst ihre problematischen Voraussetzungen gegeben hat.
Hahns isolierte Arbeitsweise ist um so bedauerlicher, als das hier mit geübtem Spürsinn zusammengetragene Material oft sehr interessant ist. In seinen letzten Kapiteln führt das Buch über die Hitlerzeit und den Holocaust bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein, und in der dort dargestellten Konstellation von Karl Jaspers, Hannah Arendt und Martin Heidegger erreicht es einen seiner Höhepunkte. Ihren Reiz gewinnen diese Kapitel aus Hahns erfahrener Entschlüsselung von Briefwechseln, die die beiden auf eine merkwürdige Weise miteinander verbundenen Philosophen Jaspers und Heidegger als existentielle Antipoden sichtbar machen: Jaspers war mit einer Jüdin verheiratet und wäre mit ihr, hätte die Gestapo sie verhaftet, in den Tod gegangen; Heidegger dagegen hält gleich mehrere Jüdinnen "erotisch besetzt", wie Barbara Hahn es nennt - neben Hannah Arendt auch die Philosophin Elisabeth Blochmann und spät im Leben noch die Dichterin Mascha Kaléko -, doch zugleich bleibt er immer ein erklärter Antisemit.
In seiner Korrespondenz mit Hannah Arendt wird Heidegger auch zum Poeten. Hahn bringt eine Reihe von Gedichten, die er an sie gerichtet hat, und interpretiert sie. Hier finden sich faszinierende Einblicke in eine schwierige Beziehung, aber gerade solche starken Stellen des Buches weisen zugleich auf seine Schwäche hin. Mit ihren verschiedenen Themen wechselt Hahn oft die Blickrichtung, sie setzt sich der Gefahr einer unüberschaubaren Eklektik aus und verfehlt damit nicht selten auch ihr Thema. In den Kapiteln über Heidegger zum Beispiel herrscht nicht die Perspektive der Frauen vor, sondern der Blick des berühmten Mannes; und wo es um Frauen aus dem deutschen Judentum geht, sollte dieser Philosoph nur sehr bedingt als Zeuge aufgerufen werden.
Warum gelingt es Barbara Hahn nicht, ihren Gegenstand - die "deutsche Jüdin" - kategorisch sichtbar zu machen? Das deutsche Judentum gehört zunächst in den Bereich der Geschichtswissenschaft, Hahn aber nähert sich ihrem Thema nicht als Historikerin. Im langen Kapitel etwa wird versucht, Rosa Luxemburg als private Person zu profilieren und ihr verborgenes Judentum herauszuarbeiten; ausgerechnet der öffentliche Raum aber, ohne den diese jüdische Politikerin der deutschen Revolution keine Konturen gewinnen kann, bleibt ausgeblendet. Barbara Hahn ist Germanistin, aber auch den Maßstab der Literaturwissenschaft legt sie in ihren Studien nicht konsequent an. Wo sie von einer Autorin wie Margarete Susman spricht, lernen wir ihr Werk nicht wirklich kennen; und Namen wie Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs werden zwar genannt, aber ihre Gedichte lesen wir nicht.
Hahns Buch versteht sich als ein Beitrag zur Kulturwissenschaft. "Auch eine Theorie der Moderne" nennt die Verfasserin ihre Versuche, ein hohes Versprechen, das leider nicht eingelöst wird. Die Kulturwissenschaft ist eine noch junge Disziplin, sie leidet unter einem chronischen Mißverhältnis von empirischer Basis und theoretischem Überbau. Im Titel des Buches wird das deutlich: Das Motiv der "Jüdin Pallas Athene" ist einem Gedicht von Paul Celan entnommen, und Hahn entdeckt es noch in einigen Textstellen bei Heinrich Heine und Gottfried Benn; bei drei männlichen Dichtern also, die für die hermeneutische Fundierung einer weiblichen Lektüre kaum ausreichen dürften.
Über das Phänomen der deutschen Jüdin ist noch zu wenig bekannt, als daß man sich darüber bereits in theoretischen Spekulationen ergehen sollte. Das weitgehend fehlende Material muß erst gesichtet und zugänglich gemacht werden, und wenige unter den heute auf diesem Gebiet arbeitenden ForscherInnen sind dazu so berufen wie Barbara Hahn selbst. Ohne eine solche Vorarbeit gibt es kein Publikum, das sich mit den Thesen des Buches fruchtbar auseinandersetzen könnte.
JAKOB HESSING
Barbara Hahn: "Die Jüdin Pallas Athene". Auch eine Theorie der Moderne. Berlin Verlag, Berlin 2002. 367 S., geb., 24,- [Euro].
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