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Der Idealtyp der Mutter, der in der jüdischen Religion festgeschrieben ist, stand oft in Widerspruch zu den realenLebensumständen. Diese Analyse vermittelt ein neues Verständnis für die zeitgenössische jüdische Mütterlichkeit.

Produktbeschreibung
Der Idealtyp der Mutter, der in der jüdischen Religion festgeschrieben ist, stand oft in Widerspruch zu den realenLebensumständen. Diese Analyse vermittelt ein neues Verständnis für die zeitgenössische jüdische Mütterlichkeit.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.05.1995

Mütterliche und göttliche Sorge
Mehr als der geliebte Albtraum ihres Sohnes: Die jüdische Mutter zwischen Tradition und Moderne

In den sechziger und siebziger Jahren haben jüdisch-amerikanische Autoren das Bild der dominanten, nörgelnd-dirigierenden, ständig besorgten jüdischen Mutter geschaffen. Konkrete Gestalt erhielt es durch Sady Millstein in Woody Allens Film "Ödipus ratlos" und durch Philip Roths Romanfigur der Sophie Portnoy. Mrs. Millstein und Mrs. Portnoy beherrschen die Gefühlswelt ihrer Söhne vollständig und treiben sie in phantastische Vorstellungen über die mütterliche Allgegenwärtigkeit, in Kontaktschwierigkeiten mit Frauen und schließlich auf die Couch des Psychiaters. Diese tragisch-komischen Darstellungen lösten bei amerikanischen Jüdinnen Empörung, aber auch Nachdenklichkeit aus. Rachel Monika Herweg haben sie zu einer Untersuchung über die Rolle der Frau im Judentum und in der jüdischen Familie veranlaßt.

In der vormodernen Gesellschaft waren die Arbeit und die mütterlichen Mentalitäten der Frauen von großer Bedeutung für das Überleben ihres Volkes, ihr Handlungsradius erstreckte sich weit über die Familie. Herweg vermutet die Wurzeln des Ansehens der Mutter in biblischer Zeit. Nach dem Glauben der alten Israeliten bestand zwischen Nachkommenschaft und göttlichem Schöpfungswillen eine enge Verbindung. Fruchtbarkeit wurde als Lohn und Gabe Gottes gedeutet, obgleich der Zusammenhang von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt schon bekannt war. Durch die Fähigkeit des Gebärens symbolisierten die Frauen die Sorge Gottes für sein Volk. Wie sehr die frühen Auffassungen spätere Epochen beeinflußten, belegen alte jüdische Lieder und Sprichwörter. Eines setzt die mütterliche und die göttliche Fürsorge sogar gleich: "Gott kann nicht überall sein, und deshalb schuf er Mütter."

Der Verlust der staatlichen Eigenständigkeit und die Herausbildung einer explizit monotheistischen Religion in der Mitte des ersten Jahrtausends vor Christus führte zur Einschränkung des öffentlichen Auftretens von Frauen, die später auch von der aktiven Teilnahme am Gottesdienst ausgeschlossen wurden. Weil sich aber Handlungen zur Erfüllung der Reinheitsgebote ins Haus verlagerten, wuchsen ihnen hier neue Rechte und Aufgaben zu. Die Einrichtung des rabbinischen Schulwesens für Jungen im zweiten Jahrhundert nach Christus verlieh der Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen endgültig jene Richtung, die das Geschlechterverhältnis im Judentum über Jahrhunderte bestimmen sollte. Das Studium der religiösen Schriften und die Weitergabe der Gebote der Thora wurden Sache der Männer, die Regelung des praktischen Lebens zum größten Teil Angelegenheit der Frauen. Im Mittelalter und in der Neuzeit war es keineswegs unüblich, daß Jüdinnen Handel trieben oder einem Handwerk nachgingen, während sich ihre Männer im Lehrhaus der Auslegung der Schriften widmeten. Die weibliche (Mit-)-erantwortung für die Versorgung der Familie könnte auch erklären, warum Kenntnisse im Lesen und Schreiben nicht nur bei den Männern, sondern schon zu jener Zeit auch bei Frauen verbreitet waren.

Diesem Umstand verdankt sich ein vermutlich einzigartiges Dokument jüdischen Lebens am Ausgang des 17. Jahrhunderts. Neben Herwegs Arbeit liegt eine zweite Ausgabe der "Memoiren der Glückel von Hameln" in der Übersetzung durch Bertha Pappenheim vor. Die erste war 1910 als Privatdruck erschienen. Darin wird die Geschichte einer jüdischen Händlerfamilie aus Hamburg erzählt, die 1689 plötzlich den Vater verlor. Seit dem Tod von Cahjim aus Hameln führte dessen Ehefrau Glückel das Geschäft allein weiter, das noch für acht von dreizehn Kindern die Mitgift aufbringen mußte. Glückels Grundsatz, solide Ware zu reellen Preisen anzubieten, zahlte sich aus, erforderte aber auch unermüdlichen Einsatz. Ihr zähes Schaffen für ihre Angehörigen war indes kein Einzelfall. Über manche Familie weiß sie zu berichten, daß "in Wirklichkeit" die Frau das ganze Haus ernährte.

Im 19. Jahrhundert setzte jedoch ein auffälliger Wandel im Verhältnis zwischen den Geschlechtern ein. Herweg führt ihn auf die Auflösung des Ghettos und die Emigration osteuropäischer Juden in die westliche Welt zurück. In Amerika, dem Ziel vieler Auswanderer, war die weibliche Erwerbsarbeit besonders verpönt. Sie schadete dem Ansehen des Mannes, das in der "Neuen Welt" von beruflichen Erfolgen und vom Lebensstandard der Familie abhing. Aus Gelehrten wurden Fabrikarbeiter, Vertreter, Anwälte und Firmengründer, aus Händlerinnen und Kauffrauen alsbald Hausfrauen. Vom wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen, richtete sich alle weibliche Energie auf die private Sphäre. Nun rührten Emotionalität und familiale Verbundenheit nicht mehr aus der Anerkennung der Menschen als Geschöpfe Gottes und aus der Treue zur Gemeinschaft, sondern aus dem Bedürfnis nach Beweisen einzigartiger Übereinstimmung, nach Identifikation und intimer Nähe.

Über Glückel von Hameln hat Bertha Pappenheim, die führende Figur der jüdischen Frauenbewegung am Beginn dieses Jahrhunderts, geschrieben, daß sie "bescheiden und unbewußt das beste und wertvollste eines Frauendaseins verkörperte". Mit der Übersetzung der "Memoiren" wollte sie den Blick auf die ältere Tradition lenken, um daraus zeitgenössisches weibliches Selbstbewußtsein zu gewinnen. Die Arbeit von Herweg führt diesen Gedanken in die Gegenwart fort. INGRID BIERMANN

Rachel Monika Herweg: "Die jüdische Mutter". Das verborgene Matriarchat. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994. 252 S., geb., 49,80 DM.

"Die Memoiren der Glückel von Hameln". Aus dem Jüdisch-Deutschen von Bertha Pappenheim (1910). Vorwort von Viola Roggenkamp. Beltz-Verlag, Weinheim 1994. 330 S., br., 38,- DM.

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