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Gertrud Kolmar (1894-1943), eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache, schrieb Prosa, die im Schatten ihres poetischen Werks verborgen und lange verkannt blieb: 1939/40 die Erzählung Susanna (BS 1199) und 1930/31 den eigensinnig packenden Roman Die jüdische Mutter, mit dem es ihr gelingt, schreibt Karin Lorenz-Lindemann, »die schier unlösbaren Probleme jüdischer Selbstbestimmung ... offenzulegen«. Berlin, Ende der zwanziger Jahre. Früh verwitwet, zieht die Fotografin Martha Wolg ihre Tochter allein auf. Sie ist Fotografin. Als sie eines Abends aus dem Atelier heimkehrt, ist Ursula…mehr

Produktbeschreibung
Gertrud Kolmar (1894-1943), eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache, schrieb Prosa, die im Schatten ihres poetischen Werks verborgen und lange verkannt blieb: 1939/40 die Erzählung Susanna (BS 1199) und 1930/31 den eigensinnig packenden Roman Die jüdische Mutter, mit dem es ihr gelingt, schreibt Karin Lorenz-Lindemann, »die schier unlösbaren Probleme jüdischer Selbstbestimmung ... offenzulegen«.
Berlin, Ende der zwanziger Jahre. Früh verwitwet, zieht die Fotografin Martha Wolg ihre Tochter allein auf. Sie ist Fotografin. Als sie eines Abends aus dem Atelier heimkehrt, ist Ursula verschwunden. Auch die ausgedehnte Suche nach ihr bleibt erfolglos. Erst am nächsten Tag findet sie »Ursa« in einem Gartenhaus. Das Kind ist vergewaltigt und schwer verletzt worden. Martha trägt es in ein Krankenhaus. Nach wenigen Tagen flößt sie ihm ein tödliches Schlafmittel ein. In der Folge tut Martha alles, um den »Mörder« ihres Kindes zu finden. Schließlich gewinnt sie einen jüngeren Mann für die Suche, der sie rasch wieder verläßt. Verzweifelt gesteht Martha ihm, daß sie selbst die Mörderin ihres Kindes ist - und daß sie ihn, den sie als Werkzeug ihrer Rache nur zu benützen glaubte, liebt.
Autorenporträt
Gertrud Kolmar wurde 1894 als Gertrud Käthe Chodziesner in Berlin geboren und 1943 in Auschwitz ermordet. Ihr Cousin war Walter Benjamin. 1917 erschien Kolmars erster Lyrikband, ihre Manuskripte brachte sie später vor den Nationalsozialisten in der Schweiz in Sicherheit. Gertrud Kolmar gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2000

Jerusalem am Nordpol
Eine strenge Liebe: Gertrud Kolmar leidet als "Jüdische Mutter"

Gertrud Kolmar, nie ganz vergessen, hat doch erst in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse gefunden. Noch lang nicht allerdings eines, das diesem erstaunlichsten Phänomen der deutschen Lyrik angemessen wäre. Nun legt der Göttinger Wallstein-Verlag eine Neuausgabe ihrer einzigen größeren Prosa-Arbeit vor. Deren Verdienst und Notwendigkeit tritt schon darin hervor, dass sie den von der Autorin gewollten Titel "Die jüdische Mutter" wiederherstellt; bei der Kösel-Edition von 1965 lautete er noch "Eine Mutter".

Es ist ein düsteres Buch mit einer einfachen, nicht ganz folgerichtigen Handlung. Martha Wolg, eine Jüdin und von Beruf Tierfotografin, lebt mit ihrer fünfjährigen Tochter zurückgezogen im Berliner Westen. Während die Nachbarn das Mädchen Ursel nennen, ruft die Mutter sie Ursa, die Bärin: ein menschlichem Umgang entzogenes, ernstes Tier. In das symbiotische Verhältnis der beiden ist auch der verstorbene Vater und Ehemann niemals eingedrungen, den Martha als ein fremdes Rätsel gereizt hatte. "Es war ja ihr Kind, nur das ihre. Als hätte bei seinem Entstehen des Vaters Helle mit dem Dunkel der Mutter gekämpft und ihr Finsteres hätte sein Lichtes zuletzt erschlagen und aufgefressen." "Jerusalem am Nordpol", hatten die Schwiegereltern über sie gesagt; weder Martha noch die Autorin widersprechen dem.

Man sollte nicht, wie es das Nachwort von Thedel von Wallmoden tut, das Judentum als unentrinnbares Schicksal in einer arischen Welt begreifen: Martha Wolg verschränkt das Jüdische und das Mütterliche zu einer von ihr so gewollten Abweisung. Man könnte es ihr als Hochmut anrechnen, wenn nicht alles Soziale von ihr einfach abperlte und sie die Geringschätzung, die sie für Christen wie Juden empfindet, mit fast somnambuler Gewichtslosigkeit trüge. Die Symbiose von Mutter und Kind wird mit brutaler Gewalt zerrissen; Ursa fällt einem Sexualverbrecher zum Opfer, überlebt schwer verletzt und ist im Tiefsten verstört. "Ihr hatte ein Menschenangesicht Grauenhaftes getan, nun schauderte es vor jedem. Es floh. Das Kind floh vor seiner Mutter." Da vergiftet sie es, keinem Gesetz untertan, und der Sinn ihres Lebens besteht fortan darin, Rache zu suchen. In einem Dialog wie aus einer antiken Tragödie, den sie mit einem Rechtsanwalt führt, verteidigt sie die Todesstrafe gegen alle neuzeitliche Strafreform. Da sie keine Hoffnung auf die Polizei setzt, sucht sie einen Mann, den sie sonst nicht braucht, irgendeinen Mann als Rächer ihres Kindes. Der, den sie findet, wendet sich endlich befremdet von ihr ab - woraufhin erst sie ihm leidenschaftlich verfällt und der Rache abschwört, wenn er sie nur als Geliebte behalten wollte. Die Rache stellt sie dem gerechten Gott anheim und gleitet mehr, als dass sie sich stürzt, in die Spree. Eine nachgeschobene Zeitungsnotiz deutet an, dass der Verbrecher bei einem Autounfall ums Leben kommt.

Das Buch kann der Frage nicht entgehen, in welchem Verhältnis es zu Gertrud Kolmars einzigartigem lyrischen Werk steht. Das Nachwort glaubt es gegen jeden Autobiografismus in Schutz nehmen zu müssen. Das liegt schwerlich im Sinn der Autorin, die eine Trennung von Werk und Person verwirft und ihren Gedichten die Zueignung vorausschickt: "Der du dies liest, gib acht; / Denn sieh, du blätterst einen Menschen um. / Doch ist es dir aus Pappe nur gemacht, / Aus Druckpapier und Leim, so bleibt es stumm / Und trifft dich nicht mit seinem großen Blick, / Der aus den schwarzen Zeichen suchend schaut, / Und ist ein Ding und hat ein Dinggeschick."

Ganz sicher gestaltet der Text die Umwelt der Gertrud Kolmar. Und er verarbeitet das traumatische Ereignis ihres Lebens, eine von der Familie in ihrer Jugend erzwungene Abtreibung. Das ungestillte Verlangen nach dem Kind ist der stärkste Affekt ihres Lebens und Werks. Man braucht nicht mehr als eine Strophe des wunderbaren Gedichts "Komm" zu hören, um sich hierüber Gewissheit zu verschaffen: "O komm. Du amethystenes Gewölbe großer Nacht. O komm. Du goldgestickte Decke über süßen Broten. O komm. Sternsamen, aus dem himmlischen Getreide rieselnd sacht. O komm. Du kupferdunkle Schlange, die mit Lebensgeifer spritzt die Toten." Kaum ist daran zu zweifeln, dass diese Stimme unverzüglich verstummt wäre, wäre das Kind wirklich geboren worden, so verstummt wie erst Jahre später, als sie auf Werk und Leben verzichtete, um so lange wie möglich bei ihrem Vater zu bleiben. 1943 wurde sie nach Auschwitz abtransportiert. Es bedeutet keine Herabsetzung der "Jüdischen Mutter", wenn man sie als vollgültige Manifestation des Charakters von Gertrud Kolmar begreift. Und ebenso wenig, wenn man die Grenzen des Ausdrucks benennt, die der Handlungsprosa und dem Dialog hierbei gezogen sind. ",Mutter, bist du da?' ,Ja, Ursa.' ,Bist du auch schon in deinem Bett?' ,Ja.' ,Gute Nacht, meine liebe Mutter.' ,Schlaf wohl, liebes Kind.'"

Das soll den Monolithen der mütterlichen Liebe zeigen, aber es dringt in ihn nicht ein. Es ergeht dem Buch wie Martha selbst, als sie der Polizei die Vermisste beschreiben soll. "Ach Gott, dachte Martha, wie soll es aussehn, das Kind. Es ist ein kleines Liebes." Und auf den Grabschrift lässt sie setzen: "Ursa. Mein Kind". Das ist alles, was möglich ist; und es ist wenig. Während es sonst immer die Lyrik ist, die am gefährlichen Rand des Schweigens entlang navigiert, und die Prosa leichthin plaudert, verhält es sich bei Gertrud Kolmar gerade umgekehrt: Hier ist die Prosa von auffüllungsbedürftiger Kargheit, und der volle Ausdruck bleibt dem Gedicht vorbehalten. Die Fülle an Vorstellungen und Erfindungen, der rhythmische, klangliche, formale Reichtum, die Entschiedenheit, mit der überall einer älteren Natur zu ihrem Recht verholfen wird: Dieses alles, was die Lyrik von Gertrud Kolmar zu einem so unvergleichlichen Geschenk macht, wird man in der "Jüdischen Mutter" nicht antreffen. Sie gehorcht anderen Gesetzen.

Dass vieles im Roman das nicht werden kann, dem es in der Lyrik zudrängt, ersieht man vor allem aus den zahlreichen Motiven der Landschaft, den Blumen und Tieren, die anklingen, aber im Fortgang des Geschehens am Rand bleiben müssen. Nur kurz und blitzhaft: "Ein zierliches Eichhorn huschte stammauf, stutzte und äugte von droben." Im Gedicht aber: "Vogel Fluglos, unsres Leichten Seele, / Springelust der Welt, / Träger Art zum Vorbild und Befehle / Wardst du dargestellt". Oder, beim selben Friedhofsbesuch, ein Specht, "gefiederte Echse", im Gedicht: "Auf seinem Scheitel gefrieren / Blutstropfen erster Zeit, / Eh sich aus kriechenden Tieren / Seliger Flug befreit." So auch, wie diese kriechenden Tiere, erscheinen einem manche Sätze des Romans: Sie tragen, wie den Flug, das Gedicht als unentwickelten Keim in sich.

Angesichts von Gertrud Kolmars riesigem lyrischen OEuvre, das den vereinzelten Prosatext von allen Seiten umbrandet wie ein Ozean eine Insel, muss man es als ausgesprochenes Ärgernis bezeichnen, dass das Nachwort zu seinem Ausklang einen ziemlich nichtssagenden Vierzeiler von Nelly Sachs wählt. Solange das nicht aufhört: diese Reklamation vor allem und immer wieder nur als Jüdin, gibt es wenig Aussicht, dass Gertrud Kolmar endlich in ihrer überragenden Eigenart erkannt und gefeiert wird.

BURKHARD MÜLLER.

Gertrud Kolmar: "Die jüdische Mutter". Wallstein Verlag, Göttingen 1999. 222 S., geb., 38,- DM.

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