Produktdetails
- Eine österreichische Bibliothek
- Verlag: Residenz
- Seitenzahl: 111
- Deutsch
- Abmessung: 185mm
- Gewicht: 168g
- ISBN-13: 9783701711666
- Artikelnr.: 24143526
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.1999Der expressionistische Gehrock
Bote aus einer verlorenen Welt: Ludwig Winders "Jüdische Orgel"
Manche Autoren der Prager deutschen Literatur, Rilke, Kafka oder Werfel, sind weltberühmt, andere eher ein Berufsgeheimnis akademischer Kenner. Ludwig Winder zählt leider zur zweiten Gruppe, und obwohl er in den dreißiger Jahren zu ihren bekanntesten gehörte, dürften sich heute nicht viele seines Namens entsinnen, und wenige haben ihn gelesen. Winders "Die jüdische Orgel", jetzt nach siebenundsiebzig Jahren wieder aufgelegt, ist durchaus nicht charakteristisch für Winders viele Romane, die sich mit Fragen der Macht, der Kapitals, der Raffgier und der Wirtschaft beschäftigten.
Es ist eine erstaunliche Geschichte metaphysischer Spannungen und sexueller Verirrungen - eine Prager Mischung anderer Art, denn der Autor bemüht sich, wie sonst auch, geradezu programmatisch, den dunklen Gassen an der Moldau in weitem Bogen auszuweichen. Winder arbeitete nahezu fünfundzwanzig Jahre als Literaturredakteur der Prager "Deutschen Zeitung Bohemia", eines nationalliberalen Blattes, aber er ist kein Stadtpatriot wie Max Brod oder Paul Leppin, und blickt lieber in die Szenerie seiner Jugend, eine kleine mährische Judengemeinde oder bewegt sich durch das mondäne Budapest und Wien der verlorenen Vorkriegsepoche.
In Winders Roman rebelliert ein rastloser Sohn gegen das Judentum strenger Observanz, wie es ihm sein Vater, der Rabbiner, Kantor, Schächter und Matrikenführer, ohne Erbarmen aufzwingen will. Der junge Mensch hört in seinem Innern den Ton der "Orgel", verpönt im Ritus der strengen Tradition, und sie lockt ihn mit der verbotenen Musik der ästhetischen Freude, der irdischen Sinnlichkeit und der lustvollen Sexualität, "grauenhaft - dieser Segen, dieser Fluch". Bald flüchtet der Sohn aus der mährischen Stadt, "hässlich auf dem stoppelgelben Brett der Hanna-Ebene", nach Budapest, treibt ziellos durch Straßen und Cafés, "frisst sich wie eine Ratte" durch die Bücher sekulärer Philosophen, un dgründet mit einer unbegabten Sängerin ein Nachtlokal in Wien. Im Grunde will er die göttliche Gewalt provozieren, aber da sie schweigt, entscheidet er sich, nach dem Tode seines Vaters, für die Ehe mit einem hässlichen Mädchen, um Buße zu tun (sie ist aber die Nichte des Gemeindevorstandes, und so wird der Sohn Nachfolger seines Vaters, Kantor, Religionslehrer, und Schächter). Er begreift, dass er nicht büßen darf, wo die tägliche Gewöhnung herrscht, und flüchtet noch einmal, im "Donner der Erkenntnis" in die Städte, flattert durch die Nachtcafés, predigt den lachenden Gästen "Reinheit" und "Liebe" und entschwindet uns in den Wahnsinn seiner Nächte.
Merkwürdig, wie Winders Roman, ungeachtet der kakanischen Dekorationen, an russische Büßer- und Pilgergeschichten erinnert, wenn auch der Sohn nicht durch die Steppen wandert, sondern durch Bordelle. In Winders Sprache, die hier zu lyrischen, ja hypnotischen Wiederholungen und dramatischen Inversionen neigt, entpuppt er sich zuletzt als guter Expressionist, wie er nicht nur in diesem Buche steht. Winder ist im Jahre 1946 im englischen Exil gestorben, und der Roman ist ein überraschender Fund aus einer großen Literaturepoche - selbst wenn sich unsere spätere Geschichte ironisch gegen sie gekehrt hat. Die jüdischen Enkel und Enkelinnen dieses Sohnes, der gegen die strenge Observanz revoltierte, wollen längst wieder, nach der Schoah und in einer unsicher zersplitterten Welt, wie ihre strikten Großväter und Urgroßmütter glauben und leben.
PETER DEMETZ
Ludwig Winder: "Die jüdische Orgel". Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1999. 111 S. geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bote aus einer verlorenen Welt: Ludwig Winders "Jüdische Orgel"
Manche Autoren der Prager deutschen Literatur, Rilke, Kafka oder Werfel, sind weltberühmt, andere eher ein Berufsgeheimnis akademischer Kenner. Ludwig Winder zählt leider zur zweiten Gruppe, und obwohl er in den dreißiger Jahren zu ihren bekanntesten gehörte, dürften sich heute nicht viele seines Namens entsinnen, und wenige haben ihn gelesen. Winders "Die jüdische Orgel", jetzt nach siebenundsiebzig Jahren wieder aufgelegt, ist durchaus nicht charakteristisch für Winders viele Romane, die sich mit Fragen der Macht, der Kapitals, der Raffgier und der Wirtschaft beschäftigten.
Es ist eine erstaunliche Geschichte metaphysischer Spannungen und sexueller Verirrungen - eine Prager Mischung anderer Art, denn der Autor bemüht sich, wie sonst auch, geradezu programmatisch, den dunklen Gassen an der Moldau in weitem Bogen auszuweichen. Winder arbeitete nahezu fünfundzwanzig Jahre als Literaturredakteur der Prager "Deutschen Zeitung Bohemia", eines nationalliberalen Blattes, aber er ist kein Stadtpatriot wie Max Brod oder Paul Leppin, und blickt lieber in die Szenerie seiner Jugend, eine kleine mährische Judengemeinde oder bewegt sich durch das mondäne Budapest und Wien der verlorenen Vorkriegsepoche.
In Winders Roman rebelliert ein rastloser Sohn gegen das Judentum strenger Observanz, wie es ihm sein Vater, der Rabbiner, Kantor, Schächter und Matrikenführer, ohne Erbarmen aufzwingen will. Der junge Mensch hört in seinem Innern den Ton der "Orgel", verpönt im Ritus der strengen Tradition, und sie lockt ihn mit der verbotenen Musik der ästhetischen Freude, der irdischen Sinnlichkeit und der lustvollen Sexualität, "grauenhaft - dieser Segen, dieser Fluch". Bald flüchtet der Sohn aus der mährischen Stadt, "hässlich auf dem stoppelgelben Brett der Hanna-Ebene", nach Budapest, treibt ziellos durch Straßen und Cafés, "frisst sich wie eine Ratte" durch die Bücher sekulärer Philosophen, un dgründet mit einer unbegabten Sängerin ein Nachtlokal in Wien. Im Grunde will er die göttliche Gewalt provozieren, aber da sie schweigt, entscheidet er sich, nach dem Tode seines Vaters, für die Ehe mit einem hässlichen Mädchen, um Buße zu tun (sie ist aber die Nichte des Gemeindevorstandes, und so wird der Sohn Nachfolger seines Vaters, Kantor, Religionslehrer, und Schächter). Er begreift, dass er nicht büßen darf, wo die tägliche Gewöhnung herrscht, und flüchtet noch einmal, im "Donner der Erkenntnis" in die Städte, flattert durch die Nachtcafés, predigt den lachenden Gästen "Reinheit" und "Liebe" und entschwindet uns in den Wahnsinn seiner Nächte.
Merkwürdig, wie Winders Roman, ungeachtet der kakanischen Dekorationen, an russische Büßer- und Pilgergeschichten erinnert, wenn auch der Sohn nicht durch die Steppen wandert, sondern durch Bordelle. In Winders Sprache, die hier zu lyrischen, ja hypnotischen Wiederholungen und dramatischen Inversionen neigt, entpuppt er sich zuletzt als guter Expressionist, wie er nicht nur in diesem Buche steht. Winder ist im Jahre 1946 im englischen Exil gestorben, und der Roman ist ein überraschender Fund aus einer großen Literaturepoche - selbst wenn sich unsere spätere Geschichte ironisch gegen sie gekehrt hat. Die jüdischen Enkel und Enkelinnen dieses Sohnes, der gegen die strenge Observanz revoltierte, wollen längst wieder, nach der Schoah und in einer unsicher zersplitterten Welt, wie ihre strikten Großväter und Urgroßmütter glauben und leben.
PETER DEMETZ
Ludwig Winder: "Die jüdische Orgel". Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Herbert Wiesner. Residenz Verlag, Salzburg und Wien 1999. 111 S. geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main