»Fatima Daas liefert den literarischen Ausbruch aus einer Welt, die Queers mit Schuld und Scham bestraft. Und sie erzählt ihre Geschichte so klar, so poetisch und so furchtlos, dass es schwerfällt, das Buch nicht in einem Zug wegzuatmen.« Hengameh Yaghoobifarah
Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer heiligen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den ich ehren muss.
Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf. Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst. Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst.
Atemlos und ungeheuer sprachgewaltig zeigt Fatima Daas mit ihrem vielbeachteten Debüt, dass man sich nicht entscheiden muss und dass die Zerrissenheit der eigenen Identität kein Makel ist. Eine beeindruckende Geschichte weiblicher Selbstermächtigung - dieser Roman ist ein Befreiungsschlag!
»Das erstaunlichste, sanftmütigste und rockigste, herausragendste und dringlichste internationale Buch in deutscher Sprache des Jahres.« Laudatio von Dominique Haensell und Annika Reich
Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer heiligen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den ich ehren muss.
Fatima ist das Kind, auf das keiner mehr gewartet hat, die Nachzüglerin, die einzige Tochter, die in Frankreich und nicht in Algerien zur Welt gekommen ist. Sie wächst mit ihren Schwestern in der berüchtigten Banlieue Clichy auf. Liebe und Sexualität sind in ihrer Familie ein Tabu. In der Schule ist Fatima unangepasst, laut und voller Wissensdurst. Sie hängt am liebsten mit den Jungs herum und fühlt sich falsch in ihrer Haut. Bis sie Nina trifft und ihre eigenen Gefühle für sie erkennt. Doch eine Frau zu lieben, bringt sie nicht nur in Konflikt mit ihrer Familie, ihrem Glauben, sondern auch mit sich selbst.
Atemlos und ungeheuer sprachgewaltig zeigt Fatima Daas mit ihrem vielbeachteten Debüt, dass man sich nicht entscheiden muss und dass die Zerrissenheit der eigenen Identität kein Makel ist. Eine beeindruckende Geschichte weiblicher Selbstermächtigung - dieser Roman ist ein Befreiungsschlag!
»Das erstaunlichste, sanftmütigste und rockigste, herausragendste und dringlichste internationale Buch in deutscher Sprache des Jahres.« Laudatio von Dominique Haensell und Annika Reich
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Weder mit Eribon noch mit Frischs "Stiller" hat Fatima Daas' Debütroman laut Roman Bucheli viel gemeinsam. Selbsterkundung steht hier unter dem Vorzeichen der Unabschließbarkeit und der Unvereinbarkeit der Widersprüche der Figur im Text, erkennt Bucheli. Dass sich Daas mit ihrer lesbischen, doch gläubigen Muslimin zwischen alle Stühle setzt und das aushält, findet der Rezensent bemerkenswert. Für den Leser bedeutet das laut Bucheli: keine einfachen Antworten. Aber auch: keine selbstgewisse Bekenntnisprosa. Die einfache, wenngleich poetische Sprache macht den Text anschlussfähig an die Erfahrungen der Leserin, glaubt Bucheli.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2021Das Gefühl nach der Wut
Fatima Daas und ihr faszinierend quälender Roman über lesbische Liebe einer Muslimin in der Banlieue
Die Frau, mit der ich zum Interview verabredet bin, heißt nicht Fatima Daas. Fatima Daas ist ein Pseudonym, der Name einer Kunstfigur, die einen Roman geschrieben hat, in dem es um genau diese Fatima geht. Also beginnt unser Gespräch mit einem Paradox. Wie unterhält man sich mit einer Kunstfigur über ihren autofiktionalen Text? Diese Ambivalenz ist, wie sich zeigen wird, nur die erste Stufe. Daas' Buch "Die jüngste Tochter" ist eine autofiktionale Erzählung über das Aushalten von Ambivalenzen, ein Buch, das fasziniert und quält. Eine Geschichte, hieß es nach der Veröffentlichung des Originals 2020 in Frankreich, die so noch nie da gewesen sei. "Sprechen Sie mich als Fatima Daas an, ich bin in den letzten Monaten mehr und mehr sie geworden. Ich musste in ihrer Haut wiedergeboren werden, um diesen Roman schreiben zu können. Das ist doch das Erstaunliche: Ich kann auf eine sehr intime, private Art 'Ich' sagen, ohne dass dieses Ich der Wahrheit entspricht."
Wollte man eine Hierarchie der Marginalisierungseinheiten vorlegen, was keine gute Idee ist, stünde Daas weit oben. Praktizierende Muslima, als Kind algerischer Eltern im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois aufgewachsen, mit Wucht in das sektiererische französische Bildungssystem geworfen, homosexuell mit einem Hang zur Polyamorie. Fatima, die Protagonistin, liebt die unerreichbare Nina, aber auch Cassandra und Gabrielle. "Ich finde bei der einen, was der anderen fehlt, ohne zu wissen, was das ist", heißt es im Roman. Sie liebt sie im Geheimen, denn ihren Eltern ist zwar nicht entgangen, dass Fatima sich weder mit den mitgebrachten Kleidern noch mit dem vorgelebten Ideal, möglichst jung eine verheiratete Mutter zu werden, arrangieren kann. Ein Gespräch darüber gibt es aber nicht. Zwischen Clichy-sous-Bois und dem Pariser Nachtclub La Java, in dem einst Edith Piaf auftrat und heute Queers auf Mottopartys schunkeln, liegen mehr als die fünfzehn Kilometer Luftlinie. Die täglichen Fahrten mit Bus und Bahn an die Pariser Uni dauern drei ermüdende Stunden. Dort angekommen, verkehrt sich das Schweigen in die andere Richtung. In den Bars, die Fatima mit ihren Liebhaberinnen besucht, ist ihr Glaube ein Tabu. "Ich will mit diesem Feminismus nichts zu tun haben", sagt Daas. "Ein Feminismus, der es sich so leicht macht und etwa das Kopftuch auf ein Unterdrückungsinstrument reduziert. Der zeitgenössische französische Feminismus basiert auf zu vielen dieser Reduktionen. Diese schwarz-weiße Welt sagt mir nicht zu."
Suburbia-Tristesse, Religion und Sexualität, diese Aspekte kennt man aus der französischen Literatur. Annie Ernaux und Didier Eribon beschreiben das in Frankreich zugespitzte Stadt-Land-Gefälle und vermengen es mit Klassenfragen. Leïla Slimani veröffentlichte ein Buch über das geheime Sexleben muslimischer Frauen. Mahir Guvens Banlieue-Roman erhielt vor einigen Jahren die höchste französische Literaturauszeichnung, den Prix Goncourt. "Die jüngste Tochter" mag in einer Tradition dieser Geschichten stehen, ist aber weder der Bericht über eine sexuelle noch über eine religiöse Suche. Hier geht es um alle Facetten einer Identität, beschrieben von einer Erzählerin, die nicht kühl von außen seziert, mit soziologischem Vokabular auf Abstand geht. Die Erzählerin Fatima schwimmt sich nicht frei, stattdessen gräbt sie sich immer tiefer in die Schichten dessen, was sie ausmacht. Fatima ist, wie es nicht umsonst aus allen Ecken der jüngeren Gegenwartsliteratur von Joshua Groß bis Lisa Krusche tönt, weitestgehend "involviert". Der Modus dabei ist nicht lamentierend, aber leidend. Mit jeder Schicht taucht eine weitere Unvereinbarkeit von Existenzweisen auf, die Unmöglichkeit einer stringenten Identitätserzählung. Wie im Katholizismus, so hat Daas in einem Gespräch mit dem Radiosender France Culture gesagt, gebe es im Islam ein Problem mit Homosexualität, eine grundlegende Überzeugung, dass es sich um eine nicht gottgewollte Form des Liebens handele. Daas negiert dieses Problem nicht, sie akzeptiert es: "Ich habe nicht die Intention, den Islam zu reformieren, wer bin ich, zu bestimmen, dass es keine Sünde ist? Also ist Homosexualität auch für mich Sünde." Eine Aussage, vielleicht lapidar dahin esprochen, die Daas viel öffentliche Kritik eingebracht hat. Wie sollte sie auch nicht.
"Warum werde ich ständig zu meiner Haltung zum Islam befragt? Ich bin keine Theologin, ich spreche für meine Protagonistin, für Fatima. In meinem Roman geht es nicht um Homosexualität im Islam. Es geht um eine Frau, die andere Frauen, aber auch ihren Gott liebt und dafür Selbsthass empfindet und diesen am Ende vielleicht überwinden kann." In dieser Aporie des Daseins blitzt eine Gegenwartsfrage auf: Wie viel Raum für Individualität lassen gruppenspezifische Zuschreibungen? Darf Fatima Daas von sich als lesbischer Muslima sprechen, ohne für eine Community zu stehen? Die Roman-Fatima zieht sich zurück aus der Gemeinschaft, beginnt zu schreiben und verlässt am Ende sogar Nina. Vielleicht steht sie dadurch mit dem Rücken zu unserer Zeit, in der die Identitätsthematik das Zeug zum Salongespräch hat. Das ist aber eher ein zärtliches Anlehnen als eine Abwendung. "Es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben", sagt die Erzählerin.
Die Sprache des Romans ist rhythmisch, getragen von kurzen, spitzen Sätzen, überflüssige Informationen oder Beschreibungen sind gestrichen. Jedes Kapitel beginnt mit den Worten "Ich heiße Fatima" und dem Versuch, dem Namen ein Fundament zu geben. Einmal heißt es im Anschluss "Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht 'beschmutzen' darf, wie man bei uns sagt." Ein anderes Mal: "Ich heiße Fatima Daas. Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin." Dieser repetitive, nahezu mantraförmige Monolog wurde mit Koransuren verglichen. Im Koran aber sagt niemand so häufig "Ich". Viel treffender ist ein musikalischer Vergleich: mit dem Rap. Lil Wayne, den Daas zitiert, rappt in "Blunt Blowin" "ich trage einiges Gewicht auf meinen Schultern, für mich fühlt es sich wie Federn an". Gewicht in Federn, oder, wie Beyoncé singt, Zitronen in Limonade zu verwandeln, und zwar mittels einer Mischung aus Selbstexponierung und Selbstfiktionalisierung, ist das stilistische Spiel des Rap. Fatima Daas überführt es in literarische Sprache, kombiniert den französischen Soziolekt Argot mit arabischer Phonetik, erzählt antilinear und fragmentiert. Dabei ist die selbstverliebte Pose des Rap stark reduziert und blitzt nur in Fatimas emotionalem Blick auf die Gemeinschaft der verachteten Vorstädter, den "Chlichoisen", auf.
Nach dem überraschenden Erfolg ihres Buches hat sich Fatima Daas, obwohl sie es könnte, keine Wohnung in Paris genommen. Sie wohnt noch immer in Clichy-sous-Bois, das für die meisten Franzosen unweigerlich mit den schwersten sozialen Unruhen Frankreichs seit dem Algerien-Krieg verknüpft ist. 2005 kamen dort zwei Jugendliche bei der Flucht vor der Polizei ums Leben. Wochenlang brannten Autos und Läden, erst in der Vorstadt, dann in den großen Städten, gefordert wurde ein Ende der hohen Jugendarbeitslosigkeit in der französischen Peripherie. "Wut kann ein Motiv der Literatur sein, aber man darf da nicht stehenbleiben. Mich interessiert das Gefühl, das nach der Wut einsetzt", sagt Daas. Man spürt, dass es ihr nicht darum geht, eine Mauer einzuziehen, auch wenn sie im Gespräch mehr als einmal auf die, wie sie sagt, islamophobe französische Gesellschaft zu sprechen kommt. "Letztlich sind wir alle Fatima. Jeder von uns hat sich doch schon gefragt, wo stehe ich gerade im Leben, wie viel familiären Einfluss lasse ich zu. Ich habe das Buch für alle geschrieben, ob 25 oder 65 Jahre alt, aus Nordafrika oder nicht." Aber wird die Erzählung auch in Deutschland verstanden werden? Immerhin ist der Roman in der Übersetzung von Sina de Malafosse gerade für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt nominiert. Die Chancen, dass Daas den symbolträchtigen Preis bekommt, sind nicht schlecht. Sie stünde dann in einer Reihe mit Amos Oz und Teju Cole. "In Frankreich wurde mein Buch so gelesen, als ginge es nur um den Islam. Hoffentlich passiert das nicht auch in anderen Ländern. Ich wünsche mir, dass man sich mehr mit der Liebe in meinem Buch beschäftigt", sagt Daas.
Während wir sprechen, ist es dunkel geworden. Fatima Daas ist nur dann vollständig auf dem Bildschirm zu erkennen, wenn sie an ihrer Zigarette zieht. Ich hätte gern einen Blick in ihre Wohnung geworfen, vielleicht das Bücherregal inspiziert. Stattdessen spricht Daas in ihrem Auto mit mir, irgendwo auf einem Parkplatz zwischen Paris und Clichy. Vielleicht ist es Inszenierung, vielleicht Zufall, aber dieser betonierte Unort suburbaner Mobilität steht ihr. Und erst hinterher fällt mir der Fehler auf. Die Kunstfigur Fatima besitzt kein Auto. Schließlich fährt sie täglich drei Stunden mit dem öffentlichen Nahverkehr. Hat sich hier für einen Moment die Person hinter dem Pseudonym gezeigt?
Es liegt viel Vagheit in Daas' Aussagen, die Motive ihres Buches münden nicht in gut klingenden Thesen, sondern in einer Feier des Ambivalenten als Lebensmodus. "Du hattest viele Momente, die nicht ewig währten. Jetzt sitzt Du in einer Ecke und versuchst neu zusammenzusetzen, wie man liebt" ist die Punchline von Daas' Lieblingslied "How to love" von Lil Wayne. Fatima Daas hat eine literarische Stimme dafür gefunden, wie es sich anfühlen könnte, in einer Ecke mit den schiefgelaufenen Momenten des Lebens zu überlegen, wie das geht mit der Liebe. MIRYAM SCHELLBACH.
Fatima Daas: "Die jüngste Tochter". Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Claassen, 192 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fatima Daas und ihr faszinierend quälender Roman über lesbische Liebe einer Muslimin in der Banlieue
Die Frau, mit der ich zum Interview verabredet bin, heißt nicht Fatima Daas. Fatima Daas ist ein Pseudonym, der Name einer Kunstfigur, die einen Roman geschrieben hat, in dem es um genau diese Fatima geht. Also beginnt unser Gespräch mit einem Paradox. Wie unterhält man sich mit einer Kunstfigur über ihren autofiktionalen Text? Diese Ambivalenz ist, wie sich zeigen wird, nur die erste Stufe. Daas' Buch "Die jüngste Tochter" ist eine autofiktionale Erzählung über das Aushalten von Ambivalenzen, ein Buch, das fasziniert und quält. Eine Geschichte, hieß es nach der Veröffentlichung des Originals 2020 in Frankreich, die so noch nie da gewesen sei. "Sprechen Sie mich als Fatima Daas an, ich bin in den letzten Monaten mehr und mehr sie geworden. Ich musste in ihrer Haut wiedergeboren werden, um diesen Roman schreiben zu können. Das ist doch das Erstaunliche: Ich kann auf eine sehr intime, private Art 'Ich' sagen, ohne dass dieses Ich der Wahrheit entspricht."
Wollte man eine Hierarchie der Marginalisierungseinheiten vorlegen, was keine gute Idee ist, stünde Daas weit oben. Praktizierende Muslima, als Kind algerischer Eltern im Pariser Banlieue Clichy-sous-Bois aufgewachsen, mit Wucht in das sektiererische französische Bildungssystem geworfen, homosexuell mit einem Hang zur Polyamorie. Fatima, die Protagonistin, liebt die unerreichbare Nina, aber auch Cassandra und Gabrielle. "Ich finde bei der einen, was der anderen fehlt, ohne zu wissen, was das ist", heißt es im Roman. Sie liebt sie im Geheimen, denn ihren Eltern ist zwar nicht entgangen, dass Fatima sich weder mit den mitgebrachten Kleidern noch mit dem vorgelebten Ideal, möglichst jung eine verheiratete Mutter zu werden, arrangieren kann. Ein Gespräch darüber gibt es aber nicht. Zwischen Clichy-sous-Bois und dem Pariser Nachtclub La Java, in dem einst Edith Piaf auftrat und heute Queers auf Mottopartys schunkeln, liegen mehr als die fünfzehn Kilometer Luftlinie. Die täglichen Fahrten mit Bus und Bahn an die Pariser Uni dauern drei ermüdende Stunden. Dort angekommen, verkehrt sich das Schweigen in die andere Richtung. In den Bars, die Fatima mit ihren Liebhaberinnen besucht, ist ihr Glaube ein Tabu. "Ich will mit diesem Feminismus nichts zu tun haben", sagt Daas. "Ein Feminismus, der es sich so leicht macht und etwa das Kopftuch auf ein Unterdrückungsinstrument reduziert. Der zeitgenössische französische Feminismus basiert auf zu vielen dieser Reduktionen. Diese schwarz-weiße Welt sagt mir nicht zu."
Suburbia-Tristesse, Religion und Sexualität, diese Aspekte kennt man aus der französischen Literatur. Annie Ernaux und Didier Eribon beschreiben das in Frankreich zugespitzte Stadt-Land-Gefälle und vermengen es mit Klassenfragen. Leïla Slimani veröffentlichte ein Buch über das geheime Sexleben muslimischer Frauen. Mahir Guvens Banlieue-Roman erhielt vor einigen Jahren die höchste französische Literaturauszeichnung, den Prix Goncourt. "Die jüngste Tochter" mag in einer Tradition dieser Geschichten stehen, ist aber weder der Bericht über eine sexuelle noch über eine religiöse Suche. Hier geht es um alle Facetten einer Identität, beschrieben von einer Erzählerin, die nicht kühl von außen seziert, mit soziologischem Vokabular auf Abstand geht. Die Erzählerin Fatima schwimmt sich nicht frei, stattdessen gräbt sie sich immer tiefer in die Schichten dessen, was sie ausmacht. Fatima ist, wie es nicht umsonst aus allen Ecken der jüngeren Gegenwartsliteratur von Joshua Groß bis Lisa Krusche tönt, weitestgehend "involviert". Der Modus dabei ist nicht lamentierend, aber leidend. Mit jeder Schicht taucht eine weitere Unvereinbarkeit von Existenzweisen auf, die Unmöglichkeit einer stringenten Identitätserzählung. Wie im Katholizismus, so hat Daas in einem Gespräch mit dem Radiosender France Culture gesagt, gebe es im Islam ein Problem mit Homosexualität, eine grundlegende Überzeugung, dass es sich um eine nicht gottgewollte Form des Liebens handele. Daas negiert dieses Problem nicht, sie akzeptiert es: "Ich habe nicht die Intention, den Islam zu reformieren, wer bin ich, zu bestimmen, dass es keine Sünde ist? Also ist Homosexualität auch für mich Sünde." Eine Aussage, vielleicht lapidar dahin esprochen, die Daas viel öffentliche Kritik eingebracht hat. Wie sollte sie auch nicht.
"Warum werde ich ständig zu meiner Haltung zum Islam befragt? Ich bin keine Theologin, ich spreche für meine Protagonistin, für Fatima. In meinem Roman geht es nicht um Homosexualität im Islam. Es geht um eine Frau, die andere Frauen, aber auch ihren Gott liebt und dafür Selbsthass empfindet und diesen am Ende vielleicht überwinden kann." In dieser Aporie des Daseins blitzt eine Gegenwartsfrage auf: Wie viel Raum für Individualität lassen gruppenspezifische Zuschreibungen? Darf Fatima Daas von sich als lesbischer Muslima sprechen, ohne für eine Community zu stehen? Die Roman-Fatima zieht sich zurück aus der Gemeinschaft, beginnt zu schreiben und verlässt am Ende sogar Nina. Vielleicht steht sie dadurch mit dem Rücken zu unserer Zeit, in der die Identitätsthematik das Zeug zum Salongespräch hat. Das ist aber eher ein zärtliches Anlehnen als eine Abwendung. "Es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben", sagt die Erzählerin.
Die Sprache des Romans ist rhythmisch, getragen von kurzen, spitzen Sätzen, überflüssige Informationen oder Beschreibungen sind gestrichen. Jedes Kapitel beginnt mit den Worten "Ich heiße Fatima" und dem Versuch, dem Namen ein Fundament zu geben. Einmal heißt es im Anschluss "Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht 'beschmutzen' darf, wie man bei uns sagt." Ein anderes Mal: "Ich heiße Fatima Daas. Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin." Dieser repetitive, nahezu mantraförmige Monolog wurde mit Koransuren verglichen. Im Koran aber sagt niemand so häufig "Ich". Viel treffender ist ein musikalischer Vergleich: mit dem Rap. Lil Wayne, den Daas zitiert, rappt in "Blunt Blowin" "ich trage einiges Gewicht auf meinen Schultern, für mich fühlt es sich wie Federn an". Gewicht in Federn, oder, wie Beyoncé singt, Zitronen in Limonade zu verwandeln, und zwar mittels einer Mischung aus Selbstexponierung und Selbstfiktionalisierung, ist das stilistische Spiel des Rap. Fatima Daas überführt es in literarische Sprache, kombiniert den französischen Soziolekt Argot mit arabischer Phonetik, erzählt antilinear und fragmentiert. Dabei ist die selbstverliebte Pose des Rap stark reduziert und blitzt nur in Fatimas emotionalem Blick auf die Gemeinschaft der verachteten Vorstädter, den "Chlichoisen", auf.
Nach dem überraschenden Erfolg ihres Buches hat sich Fatima Daas, obwohl sie es könnte, keine Wohnung in Paris genommen. Sie wohnt noch immer in Clichy-sous-Bois, das für die meisten Franzosen unweigerlich mit den schwersten sozialen Unruhen Frankreichs seit dem Algerien-Krieg verknüpft ist. 2005 kamen dort zwei Jugendliche bei der Flucht vor der Polizei ums Leben. Wochenlang brannten Autos und Läden, erst in der Vorstadt, dann in den großen Städten, gefordert wurde ein Ende der hohen Jugendarbeitslosigkeit in der französischen Peripherie. "Wut kann ein Motiv der Literatur sein, aber man darf da nicht stehenbleiben. Mich interessiert das Gefühl, das nach der Wut einsetzt", sagt Daas. Man spürt, dass es ihr nicht darum geht, eine Mauer einzuziehen, auch wenn sie im Gespräch mehr als einmal auf die, wie sie sagt, islamophobe französische Gesellschaft zu sprechen kommt. "Letztlich sind wir alle Fatima. Jeder von uns hat sich doch schon gefragt, wo stehe ich gerade im Leben, wie viel familiären Einfluss lasse ich zu. Ich habe das Buch für alle geschrieben, ob 25 oder 65 Jahre alt, aus Nordafrika oder nicht." Aber wird die Erzählung auch in Deutschland verstanden werden? Immerhin ist der Roman in der Übersetzung von Sina de Malafosse gerade für den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt nominiert. Die Chancen, dass Daas den symbolträchtigen Preis bekommt, sind nicht schlecht. Sie stünde dann in einer Reihe mit Amos Oz und Teju Cole. "In Frankreich wurde mein Buch so gelesen, als ginge es nur um den Islam. Hoffentlich passiert das nicht auch in anderen Ländern. Ich wünsche mir, dass man sich mehr mit der Liebe in meinem Buch beschäftigt", sagt Daas.
Während wir sprechen, ist es dunkel geworden. Fatima Daas ist nur dann vollständig auf dem Bildschirm zu erkennen, wenn sie an ihrer Zigarette zieht. Ich hätte gern einen Blick in ihre Wohnung geworfen, vielleicht das Bücherregal inspiziert. Stattdessen spricht Daas in ihrem Auto mit mir, irgendwo auf einem Parkplatz zwischen Paris und Clichy. Vielleicht ist es Inszenierung, vielleicht Zufall, aber dieser betonierte Unort suburbaner Mobilität steht ihr. Und erst hinterher fällt mir der Fehler auf. Die Kunstfigur Fatima besitzt kein Auto. Schließlich fährt sie täglich drei Stunden mit dem öffentlichen Nahverkehr. Hat sich hier für einen Moment die Person hinter dem Pseudonym gezeigt?
Es liegt viel Vagheit in Daas' Aussagen, die Motive ihres Buches münden nicht in gut klingenden Thesen, sondern in einer Feier des Ambivalenten als Lebensmodus. "Du hattest viele Momente, die nicht ewig währten. Jetzt sitzt Du in einer Ecke und versuchst neu zusammenzusetzen, wie man liebt" ist die Punchline von Daas' Lieblingslied "How to love" von Lil Wayne. Fatima Daas hat eine literarische Stimme dafür gefunden, wie es sich anfühlen könnte, in einer Ecke mit den schiefgelaufenen Momenten des Lebens zu überlegen, wie das geht mit der Liebe. MIRYAM SCHELLBACH.
Fatima Daas: "Die jüngste Tochter". Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Claassen, 192 Seiten, 20 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.07.2021Kraftprobe mit der Welt
Muslima und polyamourös: Die Erzählerin von Fatima Daas’ preisgekröntem Debüt „Die jüngste Tochter“
führt mehrere scheinbar unvereinbare Leben gleichzeitig
VON ALEX RÜHLE
Es beginnt scheinbar ganz konventionell, mit der Vorstellung der eigenen Person: „Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht ,beschmutzen‘ darf, wie man bei uns sagt. Beschmutzen bedeutet bei uns entehren. Wassekh, im algerischen Arabisch. Im Dialekt sagt man darja, darija.“
Fatima. Ein Name, seine religiös-kulturelle Herkunft, die Ermahnung, diesen Namen zu ehren und dazu fremdsprachige Einsprengsel, hocharabisch und familiär-dörflicher Dialekt. Und so zentral wie en passant der zweimalige Einschub „bei uns“, im Sinne von: in unserer anderen Kultur. Der formale Witz ist nun, dass 69 der 71 kurzen Romankapitel mit diesem immergleichen Satz anfangen: „Ich heiße Fatima.“ Als sei dieses Faktum der einzige sichere Ort, von dem aus der Rest dieses Lebens erkundet werden kann. Ein erzählerisches Basislager, die eine trittfeste Stufe, von der aus man jedes Mal andere Expeditionen in die eigene, zutiefst widersprüchliche Existenz wagen kann: „Ich heiße Fatima Daas. Ich trage den Namen einer Vorstädterin, die von Clichy über den Ring nach Paris fährt, um auf die weiterführende Schule zu gehen.“ „...ich bin Französin. Ich bin algerischer Herkunft. Meine Eltern und meine beiden Schwestern sind in Algerien geboren.“ „...ich bin Allergikerin und Asthmatikerin.“ „Eine Vorstädterin, die täglich über drei Stunden in öffentlichen Nachverkehrsmitteln verbringt.“ „Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin.“
Fatima Daas also. Diesen Namen hat auch die 26-jährige Autorin angenommen, die mit ihrer Hauptfigur vieles teilt. Die französisch-algerische Herkunft. Das Schicksal, die jüngste Tochter zu sein, was dem Buch sowohl im Französischen als auch im Deutschen seinen Titel gibt. Clichy-sous-Bois als Wohnort und die Tatsache, dass sie lesbisch und zugleich gläubige Muslimin ist, was innerhalb des Textes enorme Zugkräfte entwickelt, schließlich verbietet der Imam die gleichgeschlechtliche Liebe.
In vielen Bildungsromanen stünde am Ende eine Emanzipation, die Heldin steigt aus dem engen Korsett theologischer Moralvorstellung aus und lebt fürderhin mutig ihre Liebe. Oder sie verzichtet um der Religion willen. Daas tut weder das eine noch das andere, sie lebt vielmehr beide Seiten immer intensiver, betet in ihrem Zimmer, fastet, vollzieht minutiös und innig die rituellen Waschungen. Und lebt gleichzeitig nicht nur homosexuell, sondern polyamourös zwischen drei Frauen. Es gibt die idealisierte, ferne Nina, und dann sind da noch ganz handfest und sommersprossensinnlich Gabrielle und Cassandra.
„La Petite Dernière“ war der große französische Überraschungserfolg im vergangenen Jahr 2020. Vielleicht weil da jemand zwischen allen Stühlen sitzt und sagt, ja, genau dieses unbequeme Dazwischen ist mein Platz: Ein Mädchen, das sich immer wie ein Junge fühlte. Eine Tochter, die den Eltern dreier Mädchen unbewusst den Sohn ersetzen musste. Algerischer Herkunft, aber in Frankreich lebend, Wohnadresse Clichy-sous-Bois, aber ins reich-libertäre Paris orientiert. Muslimin und Lesbe mit anerzogener Homophobie.
Daas ist nicht zum Schreiben in die hippe Stadt gezogen und schaut von dort mit dem soziologischen Fernglas auf ihr früheres, fremdes Leben. Die Autorin ist vielmehr auch nach dem Erfolg in Clichy-sous-Bois geblieben, jener Banlieue, die 2005 nächtelang lichterloh in Flammen stand; und ihre gleichnamige Erzählerin findet ihre lesbischen Freundinnen und deren vermeintliche laizistische Metropolen-Souveränität ähnlich vernagelt wie den Glaubenskonservativismus ihrer Eltern. Wer sagt denn, dass das Kopftuch immer Unterdrückungsinstrument sein muss? „Ich heiße Fatima. Ich suche Stabilität. Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben.“
Sie will ihren Eltern eine gute Tochter sein, man soll Vater und Mutter schließlich ehren, aber als Gesetze wie dieses formuliert wurden, gab es noch keine mehrfach gebrochenen migrantischen Banlieueschicksale. Wie soll das gehen mit dem Ehren, wenn die Eltern nur gespensterhaft durch ihr eigenes Leben gleiten, nirgends zu Hause, ohne das Rüstzeug, in der fremden französischen Welt souverän zu bestehen. Die Mutter ist beunruhigt, weil ihre seltsame Tochter in diesen männlichen Klamotten rumläuft und partout keine Jungs mag. Der analphabetische Vater hat sich ganz in sich zurückgezogen, seine Gewaltausbrüche sind nichts als Bankrotterklärungen. Er hatte einen Sohn erhofft, aber auch das dritte Kind ist ein Mädchen. Aber reden darüber? Auf keinen Fall. „Schweigen war in meiner Familie das am wenigsten verschlüsselte Kommunikationsmittel.“
Das Buch, das aus diesem drückendem Schweigen entsteht, wirkt wie ein Tunnel, den sich die Autorin aus der Familie herausgräbt, da ist keine auktorial souveräne Perspektive, sondern nur ein Jetzt mit dunklen Rändern, aus dem es irgendwie weitergehen muss. Gleichzeitig merkt man dem sehnig schlanken Text an, dass hier streng gekürzt wurde, nichts wirkt überflüssig oder geschwätzig, eher lässt Daas immer wieder Platz für das Schweigen.
In einem der beiden Kapitel, die von dem immergleichen Namensmantra abweichen, geht Fatima zu einem Imam, um sich Rat zu holen, eine Art indirekte Beichte, schließlich erzählt sie zwar die Wahrheit, versteckt diese aber in einer Lüge, indem sie behauptet, es gehe da um eine gute Freundin, die lesbisch sei. Der Imam ist stockkonservativ, sie müsse die Freundin zurückholen auf den rechten Weg, alles andere sei schlimmste Sünde.
Es wäre aber falsch, das Buch als Bekenntnis einer Muslimin zu lesen. Genauso kann man es als großen Roman einer fernen Liebe verstehen, jedes Treffen mit Nina, dieser um vieles älteren, einsamen Frau, ist elektrostatisch aufgeladen, Fatima bemüht sich jedes Mal, ihren „Scheißegalblick“ aufzusetzen, an dem aber eben leider „nichts scheißegal ist“. Bei den Treffen mit ihr ist die Rede von einigen Hohepriesterinnen des weiblichen Schreibens, Duras, Annie Ernaux, die lange zitiert wird, klare Reminiszenzen, auf denen sich dieses Debüt aber nie abzustützen braucht.
Fatima Daas und die Übersetzerin Sina de Malafosse haben für „Die jüngste Tochter“ gemeinsam den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt 2021 erhalten. Ein schöner Preis, der die Übersetzungsleistung genauso honoriert wie den Ausgangstext. Daas hat viel Kraft darangesetzt, einen singenden, schwingenden Text zu konstruieren, der beim Gang durch die Seiten so cool wie sicher in den Knien federt. Einige Kritiker erinnerte der Ton gerade in der Repetition an Koransuren, näher aber ist das Ganze am Rap, den ruhigen Oden von „Grand Corps Malade“ etwa, der ebenfalls aus den nördlichen Banlieues stammt und das Leben dort besingt. Dazu englische Einsprengsel, und immer wieder arabische Wendungen, schließlich wird dieses Leben von Lil Wayne genauso geprägt wie von der algerischen Großmutter in ihrem bäuerlichen Dorf. Sina de Malafosse hat es geschafft, diesen herrlich schwingenden Rhythmus in das ja sonst oft so elend rechteckige Deutsch umzuschmelzen.
Sie sitzt zwischen den Stühlen
und sagt, ja, dieses Dazwischen
ist mein Platz
Dieses Leben wird von Lil Wayne
genauso geprägt wie von der
algerischen Großmutter
Fatima Daas:
Die jüngste Tochter.
Roman. Aus dem
Französischen von Sina de Malafosse.
Claassen, Berlin 2021.
192 Seiten, 20 Euro.
1995 ist sie geboren, Fatima Daas ist ihr Nom de plume. Die Erzählerin ihres Debütromans heißt genauso. Gerade hat sie dafür den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt bekommen.
Foto: Joel Saget/AFP
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Muslima und polyamourös: Die Erzählerin von Fatima Daas’ preisgekröntem Debüt „Die jüngste Tochter“
führt mehrere scheinbar unvereinbare Leben gleichzeitig
VON ALEX RÜHLE
Es beginnt scheinbar ganz konventionell, mit der Vorstellung der eigenen Person: „Ich heiße Fatima. Ich trage den Namen einer symbolischen Figur des Islam. Ich trage einen Namen, den man ehren muss. Einen Namen, den man nicht ,beschmutzen‘ darf, wie man bei uns sagt. Beschmutzen bedeutet bei uns entehren. Wassekh, im algerischen Arabisch. Im Dialekt sagt man darja, darija.“
Fatima. Ein Name, seine religiös-kulturelle Herkunft, die Ermahnung, diesen Namen zu ehren und dazu fremdsprachige Einsprengsel, hocharabisch und familiär-dörflicher Dialekt. Und so zentral wie en passant der zweimalige Einschub „bei uns“, im Sinne von: in unserer anderen Kultur. Der formale Witz ist nun, dass 69 der 71 kurzen Romankapitel mit diesem immergleichen Satz anfangen: „Ich heiße Fatima.“ Als sei dieses Faktum der einzige sichere Ort, von dem aus der Rest dieses Lebens erkundet werden kann. Ein erzählerisches Basislager, die eine trittfeste Stufe, von der aus man jedes Mal andere Expeditionen in die eigene, zutiefst widersprüchliche Existenz wagen kann: „Ich heiße Fatima Daas. Ich trage den Namen einer Vorstädterin, die von Clichy über den Ring nach Paris fährt, um auf die weiterführende Schule zu gehen.“ „...ich bin Französin. Ich bin algerischer Herkunft. Meine Eltern und meine beiden Schwestern sind in Algerien geboren.“ „...ich bin Allergikerin und Asthmatikerin.“ „Eine Vorstädterin, die täglich über drei Stunden in öffentlichen Nachverkehrsmitteln verbringt.“ „Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Sünderin.“
Fatima Daas also. Diesen Namen hat auch die 26-jährige Autorin angenommen, die mit ihrer Hauptfigur vieles teilt. Die französisch-algerische Herkunft. Das Schicksal, die jüngste Tochter zu sein, was dem Buch sowohl im Französischen als auch im Deutschen seinen Titel gibt. Clichy-sous-Bois als Wohnort und die Tatsache, dass sie lesbisch und zugleich gläubige Muslimin ist, was innerhalb des Textes enorme Zugkräfte entwickelt, schließlich verbietet der Imam die gleichgeschlechtliche Liebe.
In vielen Bildungsromanen stünde am Ende eine Emanzipation, die Heldin steigt aus dem engen Korsett theologischer Moralvorstellung aus und lebt fürderhin mutig ihre Liebe. Oder sie verzichtet um der Religion willen. Daas tut weder das eine noch das andere, sie lebt vielmehr beide Seiten immer intensiver, betet in ihrem Zimmer, fastet, vollzieht minutiös und innig die rituellen Waschungen. Und lebt gleichzeitig nicht nur homosexuell, sondern polyamourös zwischen drei Frauen. Es gibt die idealisierte, ferne Nina, und dann sind da noch ganz handfest und sommersprossensinnlich Gabrielle und Cassandra.
„La Petite Dernière“ war der große französische Überraschungserfolg im vergangenen Jahr 2020. Vielleicht weil da jemand zwischen allen Stühlen sitzt und sagt, ja, genau dieses unbequeme Dazwischen ist mein Platz: Ein Mädchen, das sich immer wie ein Junge fühlte. Eine Tochter, die den Eltern dreier Mädchen unbewusst den Sohn ersetzen musste. Algerischer Herkunft, aber in Frankreich lebend, Wohnadresse Clichy-sous-Bois, aber ins reich-libertäre Paris orientiert. Muslimin und Lesbe mit anerzogener Homophobie.
Daas ist nicht zum Schreiben in die hippe Stadt gezogen und schaut von dort mit dem soziologischen Fernglas auf ihr früheres, fremdes Leben. Die Autorin ist vielmehr auch nach dem Erfolg in Clichy-sous-Bois geblieben, jener Banlieue, die 2005 nächtelang lichterloh in Flammen stand; und ihre gleichnamige Erzählerin findet ihre lesbischen Freundinnen und deren vermeintliche laizistische Metropolen-Souveränität ähnlich vernagelt wie den Glaubenskonservativismus ihrer Eltern. Wer sagt denn, dass das Kopftuch immer Unterdrückungsinstrument sein muss? „Ich heiße Fatima. Ich suche Stabilität. Denn es ist schwer, immer abseits zu sein, abseits der anderen, nie bei ihnen, abseits des Lebens, immer daneben.“
Sie will ihren Eltern eine gute Tochter sein, man soll Vater und Mutter schließlich ehren, aber als Gesetze wie dieses formuliert wurden, gab es noch keine mehrfach gebrochenen migrantischen Banlieueschicksale. Wie soll das gehen mit dem Ehren, wenn die Eltern nur gespensterhaft durch ihr eigenes Leben gleiten, nirgends zu Hause, ohne das Rüstzeug, in der fremden französischen Welt souverän zu bestehen. Die Mutter ist beunruhigt, weil ihre seltsame Tochter in diesen männlichen Klamotten rumläuft und partout keine Jungs mag. Der analphabetische Vater hat sich ganz in sich zurückgezogen, seine Gewaltausbrüche sind nichts als Bankrotterklärungen. Er hatte einen Sohn erhofft, aber auch das dritte Kind ist ein Mädchen. Aber reden darüber? Auf keinen Fall. „Schweigen war in meiner Familie das am wenigsten verschlüsselte Kommunikationsmittel.“
Das Buch, das aus diesem drückendem Schweigen entsteht, wirkt wie ein Tunnel, den sich die Autorin aus der Familie herausgräbt, da ist keine auktorial souveräne Perspektive, sondern nur ein Jetzt mit dunklen Rändern, aus dem es irgendwie weitergehen muss. Gleichzeitig merkt man dem sehnig schlanken Text an, dass hier streng gekürzt wurde, nichts wirkt überflüssig oder geschwätzig, eher lässt Daas immer wieder Platz für das Schweigen.
In einem der beiden Kapitel, die von dem immergleichen Namensmantra abweichen, geht Fatima zu einem Imam, um sich Rat zu holen, eine Art indirekte Beichte, schließlich erzählt sie zwar die Wahrheit, versteckt diese aber in einer Lüge, indem sie behauptet, es gehe da um eine gute Freundin, die lesbisch sei. Der Imam ist stockkonservativ, sie müsse die Freundin zurückholen auf den rechten Weg, alles andere sei schlimmste Sünde.
Es wäre aber falsch, das Buch als Bekenntnis einer Muslimin zu lesen. Genauso kann man es als großen Roman einer fernen Liebe verstehen, jedes Treffen mit Nina, dieser um vieles älteren, einsamen Frau, ist elektrostatisch aufgeladen, Fatima bemüht sich jedes Mal, ihren „Scheißegalblick“ aufzusetzen, an dem aber eben leider „nichts scheißegal ist“. Bei den Treffen mit ihr ist die Rede von einigen Hohepriesterinnen des weiblichen Schreibens, Duras, Annie Ernaux, die lange zitiert wird, klare Reminiszenzen, auf denen sich dieses Debüt aber nie abzustützen braucht.
Fatima Daas und die Übersetzerin Sina de Malafosse haben für „Die jüngste Tochter“ gemeinsam den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt 2021 erhalten. Ein schöner Preis, der die Übersetzungsleistung genauso honoriert wie den Ausgangstext. Daas hat viel Kraft darangesetzt, einen singenden, schwingenden Text zu konstruieren, der beim Gang durch die Seiten so cool wie sicher in den Knien federt. Einige Kritiker erinnerte der Ton gerade in der Repetition an Koransuren, näher aber ist das Ganze am Rap, den ruhigen Oden von „Grand Corps Malade“ etwa, der ebenfalls aus den nördlichen Banlieues stammt und das Leben dort besingt. Dazu englische Einsprengsel, und immer wieder arabische Wendungen, schließlich wird dieses Leben von Lil Wayne genauso geprägt wie von der algerischen Großmutter in ihrem bäuerlichen Dorf. Sina de Malafosse hat es geschafft, diesen herrlich schwingenden Rhythmus in das ja sonst oft so elend rechteckige Deutsch umzuschmelzen.
Sie sitzt zwischen den Stühlen
und sagt, ja, dieses Dazwischen
ist mein Platz
Dieses Leben wird von Lil Wayne
genauso geprägt wie von der
algerischen Großmutter
Fatima Daas:
Die jüngste Tochter.
Roman. Aus dem
Französischen von Sina de Malafosse.
Claassen, Berlin 2021.
192 Seiten, 20 Euro.
1995 ist sie geboren, Fatima Daas ist ihr Nom de plume. Die Erzählerin ihres Debütromans heißt genauso. Gerade hat sie dafür den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt bekommen.
Foto: Joel Saget/AFP
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»Ein erstaunlich selbstständiges und kraftvolles Debüt.« Die Zeit