Anrührend, zuweilen urkomisch und manchmal abgründig traurig beschreibt Alain Claude Sulzer eine ganz normale Jugend in einem ganz normalen Vorort. Ein Erinnerungsmosaik der 60er- und 70er-Jahre, bei dem Nostalgie und stilles Grauen nah beieinanderstehen.
Tatort: Riehen. Ein Vorort von Basel nahe der deutschen Grenze. Eine Welt der zugezogenen Gardinen, in der niemand geschieden ist und Frauen, die Auto fahren, eine anrüchige Sensation.
Hier wächst Alain Claude Sulzer auf, als einer von drei Söhnen einer französischsprachigen Mutter, die kaum Deutsch kann (und es zeitlebens nie lernen wird), und eines Vaters, dessen ganzer Stolz das formstrenge Avantgarde-Haus ist, das es bis in eine angesehene Architekturzeitschrift schafft. Dumm nur, dass das Flachdach nie richtig dicht ist und die Rest-Familie dem Clou der Inneneinrichtung, den schwarz-weißen Tapeten und schwarzen Spannteppichen, wenig abgewinnen kann.
In kurzen Erinnerungsblitzen erzählt Sulzer seine Jugend. Seine so komischen wie unbarmherzig detailscharfen Beobachtungen bilden zusammen ein Erinnerungsmosaik, das es in sich hat: Da ist der Ballettunterricht, bei dem Alain einer der wenigen Jungen ist und aus dem er entfernt wird, als das Gerücht aufkommt, der russische Choreograf habe ein Auge auf ihn geworfen; oder Fräulein Zihlmann, die sich von Alains Vater gern zur Arbeit in die Stadt mitnehmen lässt - und dafür von der Mutter mit stillem Hass verfolgt und am Ende erfolgreich vertrieben wird; und schließlich die Ausflüge in die verheißungsvoll-zwielichtige Welt des Theaters und die gescheiterte Flucht nach Paris.
»Kein Roman, keine Autobiographie, aber hinreißende Erinnerungen an Buckeliturnen, schaumbedeckte Tänzer und die Wirkung von Haferflocken auf den Sexualtrieb. Zum Glück wurde Alain Claude Sulzer dann doch nicht Papst, sondern sogar Schriftsteller. Fameux!« Harald Schmidt
»Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln.« J. P. Hartley
Tatort: Riehen. Ein Vorort von Basel nahe der deutschen Grenze. Eine Welt der zugezogenen Gardinen, in der niemand geschieden ist und Frauen, die Auto fahren, eine anrüchige Sensation.
Hier wächst Alain Claude Sulzer auf, als einer von drei Söhnen einer französischsprachigen Mutter, die kaum Deutsch kann (und es zeitlebens nie lernen wird), und eines Vaters, dessen ganzer Stolz das formstrenge Avantgarde-Haus ist, das es bis in eine angesehene Architekturzeitschrift schafft. Dumm nur, dass das Flachdach nie richtig dicht ist und die Rest-Familie dem Clou der Inneneinrichtung, den schwarz-weißen Tapeten und schwarzen Spannteppichen, wenig abgewinnen kann.
In kurzen Erinnerungsblitzen erzählt Sulzer seine Jugend. Seine so komischen wie unbarmherzig detailscharfen Beobachtungen bilden zusammen ein Erinnerungsmosaik, das es in sich hat: Da ist der Ballettunterricht, bei dem Alain einer der wenigen Jungen ist und aus dem er entfernt wird, als das Gerücht aufkommt, der russische Choreograf habe ein Auge auf ihn geworfen; oder Fräulein Zihlmann, die sich von Alains Vater gern zur Arbeit in die Stadt mitnehmen lässt - und dafür von der Mutter mit stillem Hass verfolgt und am Ende erfolgreich vertrieben wird; und schließlich die Ausflüge in die verheißungsvoll-zwielichtige Welt des Theaters und die gescheiterte Flucht nach Paris.
»Kein Roman, keine Autobiographie, aber hinreißende Erinnerungen an Buckeliturnen, schaumbedeckte Tänzer und die Wirkung von Haferflocken auf den Sexualtrieb. Zum Glück wurde Alain Claude Sulzer dann doch nicht Papst, sondern sogar Schriftsteller. Fameux!« Harald Schmidt
»Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln.« J. P. Hartley
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Fluch des
Flachdachs
Alain Claude Sulzer erinnert sich
ans Heranwachsen in der Schweiz
Der so genannte Passe, die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer, spielt im kindlichen Kosmos des Schriftstellers Alain Claude Sulzer eine wichtige Rolle. Sie bildete tatsächlich einen Grenzübergang. Über das Esszimmer war das Wohnzimmer zu erreichen, das stets abgeschlossen war, wenn die Eltern außer Haus waren. Im Wohnzimmer stand der Fernseher. Also kletterten Sulzer und sein älterer Bruder von der Küche aus über die Durchreiche in den verbotenen Raum, um heimlich die Freuden des verruchten Mediums zu genießen. Die Durchreiche ist das stärkste Dingsymbol in Sulzers Erinnerungsbuch. Und ganz praktisch betrachtet, ist sie eines der wenigen architektonischen Details im Haus, mit dem die Mutter sich einverstanden zeigt. Doch zu jenem Haus gleich mehr.
Alain Claude Sulzer kam 1953 als Sohn eines Deutschschweizers und einer in der französischen Schweiz geborenen Mutter zur Welt. Der Riss, die mosaikartige Zusammensetzung des Ich, die sich aus den unterschiedlichen Sprach- und Sozialisierungswelten ergibt, durchzieht sein Buch als Leitmotiv. Damit verbunden ist auch die religiöse Verwirrung zwischen dem strengen Calvinismus und dem Katholizismus in seiner eher verschwenderischen und auch pathetischen Ausdrucksform. Sulzer erzählt von seiner Kindheit und Jugend in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren in kurzen, selten mehr als vier bis fünf Seiten umfassenden Episoden. Das mag auch damit zu tun haben, dass einige der Texte bereits als Kolumnen in Schweizer Zeitungen erschienen sind. Doch sind sie erfreulich wenig auf eine Pointe oder ein Resümee hingeschrieben, sondern bleiben offen in alle Richtungen. Sulzer wehrt sich gegen die Regelhaftigkeit und chronologische Planbarkeit von Erinnerungen. Er vertraut auf die sprachliche und stilistische Kraft, die sich als verbindendes Medium über all die verstreuten Rückblendensplitter legt.
Und er setzt immer wieder kleine Rahmen. Einer davon ist das Haus in der Schlossgasse in Riehen, einem Vorort von Basel, in das die Familie einzieht, als Sulzer drei Jahre alt ist. Dass über dem Verhältnis von Vater und Mutter von Beginn an eine untergründige, nie aufgelöste Spannung liegt, erfährt man bereits in den ersten Zeilen: Die Mutter lernte den Vater in der Nervenheilanstalt Münchenbuchsee kennen. Sie war Krankenschwester, er Patient. Eine fragile Konstellation, die sich im Lauf der Jahre verhärten sollte. Der künstlerisch ambitionierte Vater lässt besagtes Haus von den Stararchitekten Rasser & Vadi bauen.
So stolz der Vater auf das neue, progressive Eigenheim ist, so sehr wird es von der Mutter gehasst. Es dauert Jahrzehnte, bis das Flachdach tut, was allgemein von einem Dach erwartet wird, nämlich dicht halten. „Die Jugend ist ein fremdes Land“ entwickelt in solchen Passagen eine stille, unspektakuläre Komik. Die Distanz zur eigenen Biografie, die sich bereits im Titel ausdrückt, zeitigt als Resultat unverstellte Einblicke in Atmosphäre, Gepflogenheiten und auch Eigenheiten einer Epoche und eines Landes. Wobei man keinesfalls den Fehler begehen sollte, Sulzers Stil als „schnörkellos“ zu bezeichnen; ein Wort, das er ablehnt, seit er mit einem Märchenbuch konfrontiert wurde, das ihm die Lust auf Geschichten zeitweilig austrieb.
Manches von dem, was Sulzer an Accessoires ins Feld führt, verbirgt hinter der Skurrilität die eigentliche Erfahrung von kindlichen Abneigungen. Der Sport in der Schule beispielsweise, das so genannte „Buckeliturnen“ oder, noch schlimmer, der Schwimmunterricht führen ins Zentrum einer adoleszenten Welt der Ängste und versteckten Triebe. Doch auch diese Darstellungen sind stets doppelbödig, entfalten ihre Ambivalenz in der parallelen Beschreibung der Künstlerwerdung des aus der Gegenwart heraus erzählenden Ich. Es gibt wunderbare Beschreibungen in „Die Jugend ist ein fremdes Land“, von Lehrern, die ihr Magengeschwür durch den Verzehr von Schnecken kurieren; von den Schauspielern Christian Kohlund (seinerzeit 13 Jahre alt) und Günther Strack, die bei einer Freilichtaufführung des Stadttheaters Basel die Hauptrollen spielen und die Bewunderung des als Statist eingesetzten Ich-Erzählers ernten.
Dahinter steht aber immer wieder ein tiefer Ernst. Während er an dem Buch arbeitete, starb, wie Sulzer im Nachwort anmerkt, zuerst der Vater, dann die Mutter. Der ältere Bruder hatte sich bereits lange vorher das Leben genommen. So wendet sich „Die Jugend ist ein fremdes Land“ von einem nostalgisch grundierten Bilderbogen in ein kunstvoll reduziertes Epitaph.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Offenbar lässt sich ein
Magengeschwür durch den
Verzehr von Schnecken kurieren
Alain Claude Sulzer:
Die Jugend ist ein fremdes Land. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2017.
224 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Flachdachs
Alain Claude Sulzer erinnert sich
ans Heranwachsen in der Schweiz
Der so genannte Passe, die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer, spielt im kindlichen Kosmos des Schriftstellers Alain Claude Sulzer eine wichtige Rolle. Sie bildete tatsächlich einen Grenzübergang. Über das Esszimmer war das Wohnzimmer zu erreichen, das stets abgeschlossen war, wenn die Eltern außer Haus waren. Im Wohnzimmer stand der Fernseher. Also kletterten Sulzer und sein älterer Bruder von der Küche aus über die Durchreiche in den verbotenen Raum, um heimlich die Freuden des verruchten Mediums zu genießen. Die Durchreiche ist das stärkste Dingsymbol in Sulzers Erinnerungsbuch. Und ganz praktisch betrachtet, ist sie eines der wenigen architektonischen Details im Haus, mit dem die Mutter sich einverstanden zeigt. Doch zu jenem Haus gleich mehr.
Alain Claude Sulzer kam 1953 als Sohn eines Deutschschweizers und einer in der französischen Schweiz geborenen Mutter zur Welt. Der Riss, die mosaikartige Zusammensetzung des Ich, die sich aus den unterschiedlichen Sprach- und Sozialisierungswelten ergibt, durchzieht sein Buch als Leitmotiv. Damit verbunden ist auch die religiöse Verwirrung zwischen dem strengen Calvinismus und dem Katholizismus in seiner eher verschwenderischen und auch pathetischen Ausdrucksform. Sulzer erzählt von seiner Kindheit und Jugend in den späten 50er- und frühen 60er-Jahren in kurzen, selten mehr als vier bis fünf Seiten umfassenden Episoden. Das mag auch damit zu tun haben, dass einige der Texte bereits als Kolumnen in Schweizer Zeitungen erschienen sind. Doch sind sie erfreulich wenig auf eine Pointe oder ein Resümee hingeschrieben, sondern bleiben offen in alle Richtungen. Sulzer wehrt sich gegen die Regelhaftigkeit und chronologische Planbarkeit von Erinnerungen. Er vertraut auf die sprachliche und stilistische Kraft, die sich als verbindendes Medium über all die verstreuten Rückblendensplitter legt.
Und er setzt immer wieder kleine Rahmen. Einer davon ist das Haus in der Schlossgasse in Riehen, einem Vorort von Basel, in das die Familie einzieht, als Sulzer drei Jahre alt ist. Dass über dem Verhältnis von Vater und Mutter von Beginn an eine untergründige, nie aufgelöste Spannung liegt, erfährt man bereits in den ersten Zeilen: Die Mutter lernte den Vater in der Nervenheilanstalt Münchenbuchsee kennen. Sie war Krankenschwester, er Patient. Eine fragile Konstellation, die sich im Lauf der Jahre verhärten sollte. Der künstlerisch ambitionierte Vater lässt besagtes Haus von den Stararchitekten Rasser & Vadi bauen.
So stolz der Vater auf das neue, progressive Eigenheim ist, so sehr wird es von der Mutter gehasst. Es dauert Jahrzehnte, bis das Flachdach tut, was allgemein von einem Dach erwartet wird, nämlich dicht halten. „Die Jugend ist ein fremdes Land“ entwickelt in solchen Passagen eine stille, unspektakuläre Komik. Die Distanz zur eigenen Biografie, die sich bereits im Titel ausdrückt, zeitigt als Resultat unverstellte Einblicke in Atmosphäre, Gepflogenheiten und auch Eigenheiten einer Epoche und eines Landes. Wobei man keinesfalls den Fehler begehen sollte, Sulzers Stil als „schnörkellos“ zu bezeichnen; ein Wort, das er ablehnt, seit er mit einem Märchenbuch konfrontiert wurde, das ihm die Lust auf Geschichten zeitweilig austrieb.
Manches von dem, was Sulzer an Accessoires ins Feld führt, verbirgt hinter der Skurrilität die eigentliche Erfahrung von kindlichen Abneigungen. Der Sport in der Schule beispielsweise, das so genannte „Buckeliturnen“ oder, noch schlimmer, der Schwimmunterricht führen ins Zentrum einer adoleszenten Welt der Ängste und versteckten Triebe. Doch auch diese Darstellungen sind stets doppelbödig, entfalten ihre Ambivalenz in der parallelen Beschreibung der Künstlerwerdung des aus der Gegenwart heraus erzählenden Ich. Es gibt wunderbare Beschreibungen in „Die Jugend ist ein fremdes Land“, von Lehrern, die ihr Magengeschwür durch den Verzehr von Schnecken kurieren; von den Schauspielern Christian Kohlund (seinerzeit 13 Jahre alt) und Günther Strack, die bei einer Freilichtaufführung des Stadttheaters Basel die Hauptrollen spielen und die Bewunderung des als Statist eingesetzten Ich-Erzählers ernten.
Dahinter steht aber immer wieder ein tiefer Ernst. Während er an dem Buch arbeitete, starb, wie Sulzer im Nachwort anmerkt, zuerst der Vater, dann die Mutter. Der ältere Bruder hatte sich bereits lange vorher das Leben genommen. So wendet sich „Die Jugend ist ein fremdes Land“ von einem nostalgisch grundierten Bilderbogen in ein kunstvoll reduziertes Epitaph.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Offenbar lässt sich ein
Magengeschwür durch den
Verzehr von Schnecken kurieren
Alain Claude Sulzer:
Die Jugend ist ein fremdes Land. Galiani Berlin Verlag, Berlin 2017.
224 Seiten, 20 Euro.
E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sulzer braucht nicht lange, um eine Atmosphäre zu erzeugen, um in mir als Leser etwas anklingen zu lassen, so dass meine eigenen Erinnerungen und Erfahrungen geweckt werden. Und dann fasziniert mich besonders die Leichtigkeit in diesem Buch. Wie prägnant und anschaulich und pointiert Sulzer schreiben kann. (...) Bei aller Leichtigkeit schafft Sulzer es, dass der verstorbene Bruder und auch die Trauer über den Verlust präsent sind, obwohl er kaum davon spricht - das gelingt nur einem großen Autor. Julian Schütt SRF