In "Die jungen Jahre" setzt der große südafrikanische Romancier J.M. Coetzee seine mit "Der Junge" begonne Autobiographie fort. "Im richtigen Leben, so scheint es, kann er nur eins richtig: unglücklich sein", lautet das Fazit den jungen Studenten. Anfang der 60er Jahre kann er der Enge und politischen Situation Südafrikas in seine Traumstadt entrinnen: London. Doch obwohl er als Mathematiker rasch eine Stelle als Programmierer bei IBM findet, gelingt es ihm nicht, heimisch zu werden. Er fühlt sich als Außenseiter und Büromensch, während er sich insgeheim danach sehnt, daß der Dichter in ihm zum Ausbruch kommt oder wenigstens eine schöne Frau ihm ihre Liebe schenkt und ihn so zu unvergänglichen Versen inspiriert.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.10.2002So wird man ein Meister des Ungeschicks
Dieser Wahnsinn wird anders sein: still, diskret und sehr genial / John M. Coetzee betrachtet seine Jugend aus großer Entfernung
Wenn jemand sein Leben erzählt, dann rückt das Ich, von dem die Geschichte handelt, dem Ich, das sie erzählt, immer näher. Das Kind, das einer war, wird erwachsen, dann überschreitet es die Lebensmitte, mehr und mehr schwindet der Abstand, und schließlich wird der Punkt sichtbar, an dem der Erzähler – nehmen wir an, er ist ein Mann von gut sechzig Jahren – bei sich selbst ankommt.
Der südafrikanische Schriftsteller John M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt hat nach „Boyhood” (1997) (dt. „Der Junge. Eine afrikanische Kindheit”, 1998) ein zweites Buch veröffentlicht, zu dem ihm das eigene Leben den Stoff geliefert hat. Aber die Formangebote des autobiografischen Erzählens hat er resolut ausgeschlagen. Hier wie dort gibt es kein Ich, das sich näherkommt. Hier wie dort gibt es nur einen John in der dritten Person, der immer gleich weit entfernt bleibt. Hier wie dort gibt es kein Imperfekt, in dessen Hafen das erzählte Leben einlaufen könnte.
Denn hier wie dort wird nicht erzählt. Es wird beobachtet, es wird das Innere einer Figur mit dem Skalpell jenes harten, kühlen, geschliffenen Präsens freigelegt, mit dem Coetzee auch in seinen Romanen gern operiert. Kein Untertitel legt den Text auf Roman oder Autobiografie fest. Die Kapitel müssen sich mit Zahlen als Überschriften begnügen. Sie rücken voran, ohne auf Vollständigkeit und Kontinuität Rücksicht zu nehmen, bis der Leser zwanzig Mal durch die unsichtbare Glasscheibe auf das Leben des jungen Mannes hat blicken können. Es ist ein tristes Leben. Der, der es führt, ist ein Meister des Ungeschicks, vor allem dort, wo auf die jungen Männer in den Romanen die Abenteuer warten: in der Liebe.
Wie wird man eine Insel?
In dem jungen Mann, der zu Beginn knapp neunzehn und am Ende 24 Jahre alt ist, lässt sich unschwer der John aus „Boyhood” erkennen, der seinen Vater nicht achten und seine Mutter nicht lieben kann. Der inneren Distanz zur Familie hat sich inzwischen die äußere zugesellt: John lebt sparsam in einer eigenen Einzimmerwohnung, hält sich mit kleinen Jobs über Wasser. Er umgibt das Studium an der „Fakultät des reinen Denkens”, der Mathematik, mit Veranstaltungen in Englisch, Philosophie und klassischer Philologie. Er will etwas beweisen. Erstens: „dass jeder Mensch eine Insel ist; dass man keine Eltern braucht.” Zweitens: dass er das Zeug hat, ein großer Künstler zu werden.
Alles, was der junge Mann tut und unterlässt, ist diesen Zielen untergeordnet. Der Kompass seines Lebens ist auf einen doppelten Pol geeicht: Ezra Pound und T.S. Eliot, die strengen Zuchtmeister der Sprache und der Form. Wer wie sie sein will, muss sein Land, muss die Provinz verlassen, um in der Fremde, im Zentrum europäischer Kultur, zum Künstler zu werden. Schon nach fünfzig Seiten, nach den Rassenunruhen des Jahres 1959, geht der junge Mann aus der sich eben lösenden Kolonie Südafrika ins Herz des Commonwealth, nach London.
In Joyce- Urmodell des „Portrait of the Artist as a young Man” liegt über dem hinreißend unverschämten, schlagfertig-souveränen Helden der Glanz des Aufbruchs. Coetzee liefert dazu das exakte Gegenstück. „Youth” heißt das Buch im Original. Anders als der deutsche Titel markiert das eher einen Zustand als einen Lebensabschnitt, gar eine Entwicklung. Hier wird einer älter, ohne zu reifen, mal fühlt er sich wie ein Kind von acht oder zehn, mal wie ein Greis. Es ist konstitutionell unfähig, für irgend etwas außerhalb seiner selbst und seines erhofften Künstlertums Verantwortung zu übernehmen.
Noch in Südafrika schwängert er eines der Mädchen, mit denen er lustlos schläft. Die verlegen ertragene Abtreibung legt Coetzee wie später in London eine nicht minder verlegene Entjungferung unter sein Präsens-Skalpell, ohne „John” zu entschuldigen, aber auch, ohne ihm die Aura stolzer Amoralität zuzugestehen. Überscharf lässt er den Untergrund der moralischen Indifferenz hervortreten: Hier lebt einer unter einem Gesetz, das vom Leben verlangt, der Kunst zum Opfer gebracht zu werden.
Selten ist die Innenwelt dieses Kunstrigorismus, des dunklen Gegenpols zur bunten Mythologie der Bohème eindringlicher dargestellt worden als in diesem Buch. Die Theorie vom langweiligen Leben als Tarnkappe und notwendiger List des Künstlers exekutiert es grimmig wie eine schwarze Messe: „T.S. Eliot hat für eine Bank gearbeitet. Wallace Stevens und Franz Kafka haben für Versicherungsanstalten gearbeitet. Auf ihre besondere Weise litten Eliot und Stevens und Kafka nicht weniger als Poe oder Rimbaud. Es ist nichts Ehrenrühriges daran, wenn man sich entschließt, Eliot und Stevens und Kafka zu folgen.
Er hat sich entschieden, wie sie einen schwarzen Anzug zu tragen, ihn wie ein Nessushemd zu tragen, niemanden auszubeuten, niemanden zu betrügen, seine Rechnungen zu begleichen. In der Romantik wurden Künstler im großen Stil wahnsinnig. Diese Ära ist vorbei: sein eigener Wahnsinn, wenn ihm bestimmt ist, wahnsinnig zu sein, wird anders sein – still, diskret. Er wird in einer Ecke sitzen, wie der Mann mit dem langen Gewand in Dürers Kupferstich, und geduldig harren, dass seine Zeit in der Hölle endet. Und wenn sie geendet hat, wird er umso stärker sein, weil er ausgeharrt hat.”
Mit großer Meisterschaft hält Coetzee die Darstellung dieser Kunstreligion im Schwebezustand. Er zeigt ihre monströsen Züge, ohne sie zu denunzieren, während er vom Angestelltenleben des jungen Mannes als Computerfachmann zunächst bei IBM, dann bei einem englischen Unternehmen berichtet. Hier entdeckt einer im Kino Antonionis „L-Eclisse”, aber er kommt nie in der Welt von „Blow Up” an. Dem London der sechziger Jahre, der beginnenden Pop-Ära, steht er so fremd gegenüber wie Eliot selbst: „Männer mit schulterlangen Mähnen schreien und heulen mit pseudoamerikanischem Akzent und zertrümmern dann ihre Gitarren.” Stattdessen hört er in den dritten Programmen, übrigens auch deutschen, klassische und moderne Musik, entdeckt Joseph Brodskys Lyrik und die Romane von Beckett.
Von der untergründigen Komik, die er in Becketts „Watt” spürt, sind sein Liebesungeschick und halsstarriges Junggesellentum nicht frei. Picasso und Henry Miller stehen ihm als Heroren der Entzündung des Genius durch den Sexus vor Augen, aber er bringt es nur zur verzweifelten Parodie. Aber – er findet aus der eisigen Höhenluft der Pound-Eliot-Poesie zur Prosa, auf dem slapstickartigen Umweg einer scheiternden Dissertation über den Romancier Ford Madox Ford.
Vor allem aber: Anders als Eliot, der zum Engländer wurde, bleibt der junge John über das ganze Buch hinweg der Fremde aus der Provinz, aus der Kolonie, ein Außenseiter unter den englischen Angestellten, der allenfalls von einem Inder eingeladen wird und dessen Skepsis gegen die englisch- amerikanische Allianz wächst, als seine Computerprogramme kriegsrelevant werden. Da tritt aus dem Mann mit der Tarnkappe ein Sympathisant des Vietcong heraus.
Nichts deutet am Ende darauf hin, dass aus John, diesem Tragikomiker des Ungeschicks, je ein großer Künstler werden wird. Doch, eines: im Lesesaal legt er Ford Madox Ford zugunsten von Reiseberichten über Südafrika im 19. Jahrhundert beiseite. damit ist en passant die Konstellation bezeichnet, aus der in den siebziger Jahren die ersten Werke des großen Romanciers John Coetzee hervorgingen.
LOTHAR MÜLLER
J.M. COETZEE: Die jungen Jahre. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Dieser Wahnsinn wird anders sein: still, diskret und sehr genial / John M. Coetzee betrachtet seine Jugend aus großer Entfernung
Wenn jemand sein Leben erzählt, dann rückt das Ich, von dem die Geschichte handelt, dem Ich, das sie erzählt, immer näher. Das Kind, das einer war, wird erwachsen, dann überschreitet es die Lebensmitte, mehr und mehr schwindet der Abstand, und schließlich wird der Punkt sichtbar, an dem der Erzähler – nehmen wir an, er ist ein Mann von gut sechzig Jahren – bei sich selbst ankommt.
Der südafrikanische Schriftsteller John M. Coetzee, geboren 1940 in Kapstadt hat nach „Boyhood” (1997) (dt. „Der Junge. Eine afrikanische Kindheit”, 1998) ein zweites Buch veröffentlicht, zu dem ihm das eigene Leben den Stoff geliefert hat. Aber die Formangebote des autobiografischen Erzählens hat er resolut ausgeschlagen. Hier wie dort gibt es kein Ich, das sich näherkommt. Hier wie dort gibt es nur einen John in der dritten Person, der immer gleich weit entfernt bleibt. Hier wie dort gibt es kein Imperfekt, in dessen Hafen das erzählte Leben einlaufen könnte.
Denn hier wie dort wird nicht erzählt. Es wird beobachtet, es wird das Innere einer Figur mit dem Skalpell jenes harten, kühlen, geschliffenen Präsens freigelegt, mit dem Coetzee auch in seinen Romanen gern operiert. Kein Untertitel legt den Text auf Roman oder Autobiografie fest. Die Kapitel müssen sich mit Zahlen als Überschriften begnügen. Sie rücken voran, ohne auf Vollständigkeit und Kontinuität Rücksicht zu nehmen, bis der Leser zwanzig Mal durch die unsichtbare Glasscheibe auf das Leben des jungen Mannes hat blicken können. Es ist ein tristes Leben. Der, der es führt, ist ein Meister des Ungeschicks, vor allem dort, wo auf die jungen Männer in den Romanen die Abenteuer warten: in der Liebe.
Wie wird man eine Insel?
In dem jungen Mann, der zu Beginn knapp neunzehn und am Ende 24 Jahre alt ist, lässt sich unschwer der John aus „Boyhood” erkennen, der seinen Vater nicht achten und seine Mutter nicht lieben kann. Der inneren Distanz zur Familie hat sich inzwischen die äußere zugesellt: John lebt sparsam in einer eigenen Einzimmerwohnung, hält sich mit kleinen Jobs über Wasser. Er umgibt das Studium an der „Fakultät des reinen Denkens”, der Mathematik, mit Veranstaltungen in Englisch, Philosophie und klassischer Philologie. Er will etwas beweisen. Erstens: „dass jeder Mensch eine Insel ist; dass man keine Eltern braucht.” Zweitens: dass er das Zeug hat, ein großer Künstler zu werden.
Alles, was der junge Mann tut und unterlässt, ist diesen Zielen untergeordnet. Der Kompass seines Lebens ist auf einen doppelten Pol geeicht: Ezra Pound und T.S. Eliot, die strengen Zuchtmeister der Sprache und der Form. Wer wie sie sein will, muss sein Land, muss die Provinz verlassen, um in der Fremde, im Zentrum europäischer Kultur, zum Künstler zu werden. Schon nach fünfzig Seiten, nach den Rassenunruhen des Jahres 1959, geht der junge Mann aus der sich eben lösenden Kolonie Südafrika ins Herz des Commonwealth, nach London.
In Joyce- Urmodell des „Portrait of the Artist as a young Man” liegt über dem hinreißend unverschämten, schlagfertig-souveränen Helden der Glanz des Aufbruchs. Coetzee liefert dazu das exakte Gegenstück. „Youth” heißt das Buch im Original. Anders als der deutsche Titel markiert das eher einen Zustand als einen Lebensabschnitt, gar eine Entwicklung. Hier wird einer älter, ohne zu reifen, mal fühlt er sich wie ein Kind von acht oder zehn, mal wie ein Greis. Es ist konstitutionell unfähig, für irgend etwas außerhalb seiner selbst und seines erhofften Künstlertums Verantwortung zu übernehmen.
Noch in Südafrika schwängert er eines der Mädchen, mit denen er lustlos schläft. Die verlegen ertragene Abtreibung legt Coetzee wie später in London eine nicht minder verlegene Entjungferung unter sein Präsens-Skalpell, ohne „John” zu entschuldigen, aber auch, ohne ihm die Aura stolzer Amoralität zuzugestehen. Überscharf lässt er den Untergrund der moralischen Indifferenz hervortreten: Hier lebt einer unter einem Gesetz, das vom Leben verlangt, der Kunst zum Opfer gebracht zu werden.
Selten ist die Innenwelt dieses Kunstrigorismus, des dunklen Gegenpols zur bunten Mythologie der Bohème eindringlicher dargestellt worden als in diesem Buch. Die Theorie vom langweiligen Leben als Tarnkappe und notwendiger List des Künstlers exekutiert es grimmig wie eine schwarze Messe: „T.S. Eliot hat für eine Bank gearbeitet. Wallace Stevens und Franz Kafka haben für Versicherungsanstalten gearbeitet. Auf ihre besondere Weise litten Eliot und Stevens und Kafka nicht weniger als Poe oder Rimbaud. Es ist nichts Ehrenrühriges daran, wenn man sich entschließt, Eliot und Stevens und Kafka zu folgen.
Er hat sich entschieden, wie sie einen schwarzen Anzug zu tragen, ihn wie ein Nessushemd zu tragen, niemanden auszubeuten, niemanden zu betrügen, seine Rechnungen zu begleichen. In der Romantik wurden Künstler im großen Stil wahnsinnig. Diese Ära ist vorbei: sein eigener Wahnsinn, wenn ihm bestimmt ist, wahnsinnig zu sein, wird anders sein – still, diskret. Er wird in einer Ecke sitzen, wie der Mann mit dem langen Gewand in Dürers Kupferstich, und geduldig harren, dass seine Zeit in der Hölle endet. Und wenn sie geendet hat, wird er umso stärker sein, weil er ausgeharrt hat.”
Mit großer Meisterschaft hält Coetzee die Darstellung dieser Kunstreligion im Schwebezustand. Er zeigt ihre monströsen Züge, ohne sie zu denunzieren, während er vom Angestelltenleben des jungen Mannes als Computerfachmann zunächst bei IBM, dann bei einem englischen Unternehmen berichtet. Hier entdeckt einer im Kino Antonionis „L-Eclisse”, aber er kommt nie in der Welt von „Blow Up” an. Dem London der sechziger Jahre, der beginnenden Pop-Ära, steht er so fremd gegenüber wie Eliot selbst: „Männer mit schulterlangen Mähnen schreien und heulen mit pseudoamerikanischem Akzent und zertrümmern dann ihre Gitarren.” Stattdessen hört er in den dritten Programmen, übrigens auch deutschen, klassische und moderne Musik, entdeckt Joseph Brodskys Lyrik und die Romane von Beckett.
Von der untergründigen Komik, die er in Becketts „Watt” spürt, sind sein Liebesungeschick und halsstarriges Junggesellentum nicht frei. Picasso und Henry Miller stehen ihm als Heroren der Entzündung des Genius durch den Sexus vor Augen, aber er bringt es nur zur verzweifelten Parodie. Aber – er findet aus der eisigen Höhenluft der Pound-Eliot-Poesie zur Prosa, auf dem slapstickartigen Umweg einer scheiternden Dissertation über den Romancier Ford Madox Ford.
Vor allem aber: Anders als Eliot, der zum Engländer wurde, bleibt der junge John über das ganze Buch hinweg der Fremde aus der Provinz, aus der Kolonie, ein Außenseiter unter den englischen Angestellten, der allenfalls von einem Inder eingeladen wird und dessen Skepsis gegen die englisch- amerikanische Allianz wächst, als seine Computerprogramme kriegsrelevant werden. Da tritt aus dem Mann mit der Tarnkappe ein Sympathisant des Vietcong heraus.
Nichts deutet am Ende darauf hin, dass aus John, diesem Tragikomiker des Ungeschicks, je ein großer Künstler werden wird. Doch, eines: im Lesesaal legt er Ford Madox Ford zugunsten von Reiseberichten über Südafrika im 19. Jahrhundert beiseite. damit ist en passant die Konstellation bezeichnet, aus der in den siebziger Jahren die ersten Werke des großen Romanciers John Coetzee hervorgingen.
LOTHAR MÜLLER
J.M. COETZEE: Die jungen Jahre. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Auch Erschöpfung kann zur Droge werden
Lehrjahre am Tintenfaß: J. M. Coetzees Londoner Zeit / Von Felicitas von Lovenberg
Wie wird man Schriftsteller? Wie muß man leben, wen darf man lieben, als was soll man arbeiten, bis künftiger Ruhm die Rechnungen bezahlt? Wird man zum Literaten geboren, oder kann man sich selbst dazu erziehen? Diese Fragen bewegen John ungemein; eigentlich sind sie das einzige, was ihn überhaupt zu bewegen vermag. Denn im Grunde lassen Begegnungen, Gefühle, Umstände ihn völlig kalt. Das ist auch seine größte Sorge: sein Naturell. Was, wenn es dem eines wahren Schriftstellers einfach nicht entspricht? "Was stimmt mit ihm nicht? Wenn die Antwort lautet, daß es sein Naturell ist, wozu ist ein solches Naturell gut? Warum sollte er nicht sein Naturell ändern?"
Wie sich jedoch herausstellt, ist er dieser schwierigsten aller Aufgaben nicht gewachsen. Sein Naturell vermag der Protagonist in "Die jungen Jahre", dem zweiten Band von Coetzees romanhafter Autobiographie, nicht zu ändern. Was sich verändert, ist allein der Horizont seiner Erfahrungen. Der treffendere Originaltitel lautet "Youth", Jugend, was eher einen Zustand als einen Zeitraum meint. Wie schon zuvor in "Der Junge" (1998) nimmt Coetzee erneut den größtmöglichen Abstand zu seiner Figur ein, die dem Leser als südafrikanischer Burensohn, der nach dem Studium der Mathematik und Literatur in Kapstadt 1962 nach London geht, nur notdürftig verschleiert als der zweiundzwanzigjährige Autor selbst entgegentritt. Vordergründig handelt das Buch vom England der frühen Sechziger, von der Büroarbeit bei IBM, von verpaßten Gelegenheiten und unzureichenden Beziehungen. Doch eigentlich geht es bei Coetzees ereignisarmer und doch faszinierender Alltagsbeschreibung und ihrer chronologischen Berichtstreue einzig um einen, der auszog, das Schreiben zu lernen.
Diesen Blick zurück trübt keine Sentimentalität. In der dritten Person schreibt Coetzee über den jungen Mann, den eine Frau erst nach einigen Seiten beiläufig vorstellt: "Ich fahre John nach Hause." Hallo John, nett, Sie kennenzulernen: Nein, so einfach macht Coetzee es uns nicht. John heißt nur für andere John: für die Mutter, die ihn zu Hause in Südafrika mit Fürsorge schier erdrückt hat und ihm nun jede Woche einen Brief schreibt; für die Mädchen, mit denen er schläft, wenn sie es zulassen; für die Kollegen bei IBM, wo er als Computerprogrammierer eine eintönige Arbeit findet. Für Coetzee, für uns bleibt es bei "er".
Er ist ein Asket, der sich die ganze Woche über von einem Topf dünner Suppe ernährt, die er sich jeden Sonntag kocht - "eine Diät, mit der Rousseau einverstanden wäre, oder Plato". Aber ist er nicht mal eitel genug, um dieses Bild von sich zu kultivieren. Er will um keinen Preis auffallen, auch nicht durch Exzentrizität. Statt durch Revolte will er durch anständigen, biederen Trott beweisen, "daß jeder Mensch eine Insel ist; daß man keine Eltern braucht". Währenddessen wartet er auf seine Initiation, auf jenes Ereignis, daß aus dem Jungen endlich einen Mann machen wird. Mit der sexuellen Erfahrung, das hat er schon festgestellt, ändert sich nichts: ein körperliches Bedürfnis wie andere auch. Daß Frauen damit häufig Gefühle verbinden, ist ihm lästig. Seinen kindlichen Glauben an die grundsätzliche, alles verändernde Kraft der Liebe jedoch vermag dies nicht zu erschüttern: "Befreien wird ihn, wenn es soweit ist, die Liebe. Die Geliebte, die ihm Bestimmte, wird sofort das wunderliche Äußere, das er zur Schau trägt, durchschauen und das Feuer sehen, das in ihm brennt."
Das Feuer, das einstweilen höchstens als Flämmchen in ihm flackert, braucht Poesie, um sich auszubreiten. Johns Vorbilder sind vor allem die Dichter T. S. Eliot und Ezra Pound, doch je mehr er liest, desto entmutigter ist er von seinen eigenen literarischen Versuchen. Er führt Tagebuch, aber erlebt wenig; er schreibt Sonette nach dem Vorbild Rilkes - sie bewegen nicht einmal sein eigenes Herz. Er sitzt er an einer Dissertation über die Romane von Ford Madox Ford, hat sich aber damit abgefunden, daß er "nichts Neues über Ford zu sagen" hat. Nur einmal zitiert er ein eigenes Gedicht - und fügt hinzu, daß seine Lyrikversuche generell "substanzlos" seien. Da hat man die Vermutung, daß es sich bei solchen Bemerkungen um übertriebene Bescheidenheit handeln könnte, längst aufgegeben.
Seine Unfähigkeit in Beziehungsdingen erklärt er sich an guten Tagen mit einem künstlerischen Bedürfnis nach innerer Einsamkeit. An anderen quält ihn die Vorstellung, daß er allein bleiben wird: "Was ist wirklich - das Glücklichsein, das Unglücklichsein oder etwas dazwischen?" Doch zum Glück fehlt ihm offenbar die Begabung. Statt sich zu freuen, daß er seine Ziele erreicht hat - er ist Südafrika entronnen, er ist in London, er hat eine Arbeit -, fühlt er sich im Innersten bedroht: Der Alltag bei IBM ist im Begriff, "ihn in einen Zombie zu verwandeln". Den Leser läßt das kalt: Zu zombiehaft erscheint ihm John seit Beginn ihrer Bekanntschaft.
Einzig Routine gibt ihm Sicherheit, und so tut er alles, um sie zu schaffen. Unter der Woche arbeitet er, am Samstag geht er in Buchhandlungen, Galerien, Museen, Kinos. Am Sonntag liest er den "Observer" und macht einen Spaziergang. Doch an den Abenden "verschlingt ihn die Einsamkeit, die er sonst im Zaum halten kann". Der Plan, richtig zu leben, um sich dann ernsthaft ans Schreiben zu machen, schlägt immer wieder fehl. Fast scheint es, als habe er Angst davor, daß seine Erwartungen sich je erfüllen könnten. Bei jeder Frau, der er begegnet, fragt er sich, ob es die Richtige ist - und hofft zugleich, sie möge es nicht sein: Die meisten sind ihm zu häßlich. Die Bücher, die er liest, beeindrucken ihn, aber nicht genug, um mit einem Leben aus zweiter Hand zufrieden zu sein. Sie reißen ihn allerdings auch nicht aus seiner Apathie. Er steckt in der Sackgasse, doch fehlt ihm die Kraft oder der Wille, umzukehren. So schwelgt er weiterhin in Einsamkeit und Misanthropie.
Coetzee sucht keine Entschuldigungen für seinen kraftlosen Held, macht keine Ausflüchte. Er scheint selbst nicht zu wissen, welchen Grad der Verzweiflung dieser erreichen muß, bevor er sich aus seiner Starre löst. Wenn es stimmt, daß Literatur ihre Leser im Guten wie im Schlechten beeinflussen kann, liest John die falschen Bücher. Und auch seine autodidaktischen Versuche schlagen fehl: Die monotone Büroarbeit macht ihn jedenfalls nicht zu einem zweiten Franz Kafka oder Wallace Stevens. Grenzerfahrungen mit Drogen oder Alkohol sind ihm unheimlich: "Sind Erschöpfung und Elend nicht in der Lage, dasselbe zu leisten?" Johns Wahnsinn ist von der stillen, diskreten Sorte. Doch immerhin fürchtet er, seinen "poetischen Impuls" durch die Eintönigkeit zu verlieren.
Coetzee schildert die Leiden des jungen John ausführlich, mit bitterem, humorlosem Sarkasmus. Obwohl er nichts zu beschönigen, keine Niederlage auszulassen scheint, entsteht nie der Eindruck, daß ihm diese Selbsterniedrigung schwerfällt oder daß die Erinnerung an manche Episoden, etwa an die Abtreibung eines Kinds, das John mit einer seiner Bekanntschaften gezeugt hat, ihn schmerzt. Dem Autor liegt nicht daran, Erfahrungen existentieller zu schildern, als sie damals offenbar waren. Er ist einfach froh, ihnen entkommen zu sein.
Endlich, nach vielen quälenden Monaten, erlebt John so etwas wie eine Katharsis. Sie erreicht ihn an einem Frühsommertag in der Hampstead Heath, wo er in einen Schlaf sinkt, "in dem das Bewußtsein nicht schwindet, sondern über ihm schwebt. Das ist ein Zustand, der ihm bisher unbekannt gewesen ist: bis in sein Blut hinein scheint er das unablässige Kreisen der Erde zu spüren. Das Herz wird ihm weit. Endlich!, denkt er. Endlich ist er da, der Moment der ekstatischen Einheit mit dem All!" Als er aufsteht, erfüllt ihn die Gewißheit, "daß er auf diese Erde gehört".
Die Zuversicht hält nicht lange vor. Coetzees unbarmherzige Roßkur für den Schriftstellernovizen heißt scheitern, scheitern, scheitern. Sein eigener Triumph liegt in seiner unmittelbar ergreifenden Plausibilität und Authentizität dieses Buchs, in der "Aura der Wahrheit", wie John es jugendlich hochtrabend nennt. Dafür zieht er - von dem man allzuoft vergißt, daß es Coetzee selbst ist, der hier spricht - sich zurück auf die Erfahrung: "Der Künstler muß jede Erfahrung auskosten, von der edelsten bis zur erbärmlichsten." So gelingt es ihm, sich und uns seine Zeit in London als "nichts weiter als eine Etappe auf seiner Reise in die Tiefe" zu verkaufen. Kaum ausgesprochen, wird diese Rechtfertigung wieder zurückgenommen. Denn wichtiger als Ansehen ist schonungslose Ehrlichkeit, im Leben wie in der Literatur - Coetzee zufolge "die einfachste Sache der Welt".
"Dichten heißt nicht, seiner Gefühlwelt freien Lauf zu lassen, wohl aber: sich von seinen Gefühlen befreien", sagt T. S. Eliot. Was aber, wenn man gar keine Gefühle hat? Genügt es da zu wissen, daß auch Rimbaud und Baudelaire keine warmherzigen Menschen waren? Bei Coetzee erscheint Kunst nicht als Kompensation, sondern als Tatsache, genauso wie Charakter. Was bleibt von seinem Porträt des Künstlers als jungem Mann, ist neben der gewohnten stilistischen Brillanz die große Ehrlichkeit, gleichermaßen beeindruckend wie abstoßend, und die erstaunlich klare literarische Entwicklungslinie, die ihn in London von Eliot über Ford bis zu Beckett führt, und die der Leser in Gedanken weiterzieht zu Coetzees Romanen "Zeit und Leben des Michael K.", "Warten auf die Barbaren" und, vor allem, zu "Schande". So hat Coetzee die eigene Zeit der Starre vierzig Jahre später in ein beeindruckendes Memoir verwandelt.
J. M. Coetzee: "Die jungen Jahre". Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lehrjahre am Tintenfaß: J. M. Coetzees Londoner Zeit / Von Felicitas von Lovenberg
Wie wird man Schriftsteller? Wie muß man leben, wen darf man lieben, als was soll man arbeiten, bis künftiger Ruhm die Rechnungen bezahlt? Wird man zum Literaten geboren, oder kann man sich selbst dazu erziehen? Diese Fragen bewegen John ungemein; eigentlich sind sie das einzige, was ihn überhaupt zu bewegen vermag. Denn im Grunde lassen Begegnungen, Gefühle, Umstände ihn völlig kalt. Das ist auch seine größte Sorge: sein Naturell. Was, wenn es dem eines wahren Schriftstellers einfach nicht entspricht? "Was stimmt mit ihm nicht? Wenn die Antwort lautet, daß es sein Naturell ist, wozu ist ein solches Naturell gut? Warum sollte er nicht sein Naturell ändern?"
Wie sich jedoch herausstellt, ist er dieser schwierigsten aller Aufgaben nicht gewachsen. Sein Naturell vermag der Protagonist in "Die jungen Jahre", dem zweiten Band von Coetzees romanhafter Autobiographie, nicht zu ändern. Was sich verändert, ist allein der Horizont seiner Erfahrungen. Der treffendere Originaltitel lautet "Youth", Jugend, was eher einen Zustand als einen Zeitraum meint. Wie schon zuvor in "Der Junge" (1998) nimmt Coetzee erneut den größtmöglichen Abstand zu seiner Figur ein, die dem Leser als südafrikanischer Burensohn, der nach dem Studium der Mathematik und Literatur in Kapstadt 1962 nach London geht, nur notdürftig verschleiert als der zweiundzwanzigjährige Autor selbst entgegentritt. Vordergründig handelt das Buch vom England der frühen Sechziger, von der Büroarbeit bei IBM, von verpaßten Gelegenheiten und unzureichenden Beziehungen. Doch eigentlich geht es bei Coetzees ereignisarmer und doch faszinierender Alltagsbeschreibung und ihrer chronologischen Berichtstreue einzig um einen, der auszog, das Schreiben zu lernen.
Diesen Blick zurück trübt keine Sentimentalität. In der dritten Person schreibt Coetzee über den jungen Mann, den eine Frau erst nach einigen Seiten beiläufig vorstellt: "Ich fahre John nach Hause." Hallo John, nett, Sie kennenzulernen: Nein, so einfach macht Coetzee es uns nicht. John heißt nur für andere John: für die Mutter, die ihn zu Hause in Südafrika mit Fürsorge schier erdrückt hat und ihm nun jede Woche einen Brief schreibt; für die Mädchen, mit denen er schläft, wenn sie es zulassen; für die Kollegen bei IBM, wo er als Computerprogrammierer eine eintönige Arbeit findet. Für Coetzee, für uns bleibt es bei "er".
Er ist ein Asket, der sich die ganze Woche über von einem Topf dünner Suppe ernährt, die er sich jeden Sonntag kocht - "eine Diät, mit der Rousseau einverstanden wäre, oder Plato". Aber ist er nicht mal eitel genug, um dieses Bild von sich zu kultivieren. Er will um keinen Preis auffallen, auch nicht durch Exzentrizität. Statt durch Revolte will er durch anständigen, biederen Trott beweisen, "daß jeder Mensch eine Insel ist; daß man keine Eltern braucht". Währenddessen wartet er auf seine Initiation, auf jenes Ereignis, daß aus dem Jungen endlich einen Mann machen wird. Mit der sexuellen Erfahrung, das hat er schon festgestellt, ändert sich nichts: ein körperliches Bedürfnis wie andere auch. Daß Frauen damit häufig Gefühle verbinden, ist ihm lästig. Seinen kindlichen Glauben an die grundsätzliche, alles verändernde Kraft der Liebe jedoch vermag dies nicht zu erschüttern: "Befreien wird ihn, wenn es soweit ist, die Liebe. Die Geliebte, die ihm Bestimmte, wird sofort das wunderliche Äußere, das er zur Schau trägt, durchschauen und das Feuer sehen, das in ihm brennt."
Das Feuer, das einstweilen höchstens als Flämmchen in ihm flackert, braucht Poesie, um sich auszubreiten. Johns Vorbilder sind vor allem die Dichter T. S. Eliot und Ezra Pound, doch je mehr er liest, desto entmutigter ist er von seinen eigenen literarischen Versuchen. Er führt Tagebuch, aber erlebt wenig; er schreibt Sonette nach dem Vorbild Rilkes - sie bewegen nicht einmal sein eigenes Herz. Er sitzt er an einer Dissertation über die Romane von Ford Madox Ford, hat sich aber damit abgefunden, daß er "nichts Neues über Ford zu sagen" hat. Nur einmal zitiert er ein eigenes Gedicht - und fügt hinzu, daß seine Lyrikversuche generell "substanzlos" seien. Da hat man die Vermutung, daß es sich bei solchen Bemerkungen um übertriebene Bescheidenheit handeln könnte, längst aufgegeben.
Seine Unfähigkeit in Beziehungsdingen erklärt er sich an guten Tagen mit einem künstlerischen Bedürfnis nach innerer Einsamkeit. An anderen quält ihn die Vorstellung, daß er allein bleiben wird: "Was ist wirklich - das Glücklichsein, das Unglücklichsein oder etwas dazwischen?" Doch zum Glück fehlt ihm offenbar die Begabung. Statt sich zu freuen, daß er seine Ziele erreicht hat - er ist Südafrika entronnen, er ist in London, er hat eine Arbeit -, fühlt er sich im Innersten bedroht: Der Alltag bei IBM ist im Begriff, "ihn in einen Zombie zu verwandeln". Den Leser läßt das kalt: Zu zombiehaft erscheint ihm John seit Beginn ihrer Bekanntschaft.
Einzig Routine gibt ihm Sicherheit, und so tut er alles, um sie zu schaffen. Unter der Woche arbeitet er, am Samstag geht er in Buchhandlungen, Galerien, Museen, Kinos. Am Sonntag liest er den "Observer" und macht einen Spaziergang. Doch an den Abenden "verschlingt ihn die Einsamkeit, die er sonst im Zaum halten kann". Der Plan, richtig zu leben, um sich dann ernsthaft ans Schreiben zu machen, schlägt immer wieder fehl. Fast scheint es, als habe er Angst davor, daß seine Erwartungen sich je erfüllen könnten. Bei jeder Frau, der er begegnet, fragt er sich, ob es die Richtige ist - und hofft zugleich, sie möge es nicht sein: Die meisten sind ihm zu häßlich. Die Bücher, die er liest, beeindrucken ihn, aber nicht genug, um mit einem Leben aus zweiter Hand zufrieden zu sein. Sie reißen ihn allerdings auch nicht aus seiner Apathie. Er steckt in der Sackgasse, doch fehlt ihm die Kraft oder der Wille, umzukehren. So schwelgt er weiterhin in Einsamkeit und Misanthropie.
Coetzee sucht keine Entschuldigungen für seinen kraftlosen Held, macht keine Ausflüchte. Er scheint selbst nicht zu wissen, welchen Grad der Verzweiflung dieser erreichen muß, bevor er sich aus seiner Starre löst. Wenn es stimmt, daß Literatur ihre Leser im Guten wie im Schlechten beeinflussen kann, liest John die falschen Bücher. Und auch seine autodidaktischen Versuche schlagen fehl: Die monotone Büroarbeit macht ihn jedenfalls nicht zu einem zweiten Franz Kafka oder Wallace Stevens. Grenzerfahrungen mit Drogen oder Alkohol sind ihm unheimlich: "Sind Erschöpfung und Elend nicht in der Lage, dasselbe zu leisten?" Johns Wahnsinn ist von der stillen, diskreten Sorte. Doch immerhin fürchtet er, seinen "poetischen Impuls" durch die Eintönigkeit zu verlieren.
Coetzee schildert die Leiden des jungen John ausführlich, mit bitterem, humorlosem Sarkasmus. Obwohl er nichts zu beschönigen, keine Niederlage auszulassen scheint, entsteht nie der Eindruck, daß ihm diese Selbsterniedrigung schwerfällt oder daß die Erinnerung an manche Episoden, etwa an die Abtreibung eines Kinds, das John mit einer seiner Bekanntschaften gezeugt hat, ihn schmerzt. Dem Autor liegt nicht daran, Erfahrungen existentieller zu schildern, als sie damals offenbar waren. Er ist einfach froh, ihnen entkommen zu sein.
Endlich, nach vielen quälenden Monaten, erlebt John so etwas wie eine Katharsis. Sie erreicht ihn an einem Frühsommertag in der Hampstead Heath, wo er in einen Schlaf sinkt, "in dem das Bewußtsein nicht schwindet, sondern über ihm schwebt. Das ist ein Zustand, der ihm bisher unbekannt gewesen ist: bis in sein Blut hinein scheint er das unablässige Kreisen der Erde zu spüren. Das Herz wird ihm weit. Endlich!, denkt er. Endlich ist er da, der Moment der ekstatischen Einheit mit dem All!" Als er aufsteht, erfüllt ihn die Gewißheit, "daß er auf diese Erde gehört".
Die Zuversicht hält nicht lange vor. Coetzees unbarmherzige Roßkur für den Schriftstellernovizen heißt scheitern, scheitern, scheitern. Sein eigener Triumph liegt in seiner unmittelbar ergreifenden Plausibilität und Authentizität dieses Buchs, in der "Aura der Wahrheit", wie John es jugendlich hochtrabend nennt. Dafür zieht er - von dem man allzuoft vergißt, daß es Coetzee selbst ist, der hier spricht - sich zurück auf die Erfahrung: "Der Künstler muß jede Erfahrung auskosten, von der edelsten bis zur erbärmlichsten." So gelingt es ihm, sich und uns seine Zeit in London als "nichts weiter als eine Etappe auf seiner Reise in die Tiefe" zu verkaufen. Kaum ausgesprochen, wird diese Rechtfertigung wieder zurückgenommen. Denn wichtiger als Ansehen ist schonungslose Ehrlichkeit, im Leben wie in der Literatur - Coetzee zufolge "die einfachste Sache der Welt".
"Dichten heißt nicht, seiner Gefühlwelt freien Lauf zu lassen, wohl aber: sich von seinen Gefühlen befreien", sagt T. S. Eliot. Was aber, wenn man gar keine Gefühle hat? Genügt es da zu wissen, daß auch Rimbaud und Baudelaire keine warmherzigen Menschen waren? Bei Coetzee erscheint Kunst nicht als Kompensation, sondern als Tatsache, genauso wie Charakter. Was bleibt von seinem Porträt des Künstlers als jungem Mann, ist neben der gewohnten stilistischen Brillanz die große Ehrlichkeit, gleichermaßen beeindruckend wie abstoßend, und die erstaunlich klare literarische Entwicklungslinie, die ihn in London von Eliot über Ford bis zu Beckett führt, und die der Leser in Gedanken weiterzieht zu Coetzees Romanen "Zeit und Leben des Michael K.", "Warten auf die Barbaren" und, vor allem, zu "Schande". So hat Coetzee die eigene Zeit der Starre vierzig Jahre später in ein beeindruckendes Memoir verwandelt.
J. M. Coetzee: "Die jungen Jahre". Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 220 S., geb., 18,90 [Euro].
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