Der sowjetische Vorschlag einer Gipfelkonferenz und das Berlin-Ultimatum Chruschtschows bildeten vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Ost-West-Konflikts im Jahre 1958 den Rahmen für die Bemühungen der Bundesregierung um eine Lösung der deutschen Frage. Gleichzeitig kennzeichneten der Aufbau der europäischen Institutionen und die wachsenden Verpflichtungen der Bundesrepublik im westlichen Verteidigungsbündnis den fortschreitenden Prozess ihrer Westintegration. Dazu gehörten auch die Bestrebungen der Bundesregierung, einen Ausgleich in den durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges immer noch belasteten Beziehungen zu den westlichen Nachbarstaaten zu finden. Zu den innenpolitisch vorherrschenden Themen dieses Jahres zählte die Auseinandersetzung um die Frage der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr, die in der Anti-Atomtod-Bewegung ihren deutlichen Ausdruck fand. Unruhe in der Bevölkerung verursachte auch die Kohlenkrise, die die Bundesregierung durch ein Bündel von Maßnahmen einzudämmen suchte. Daneben nahm sie umfangreiche Reformvorhaben in Angriff, die u. a. das Steuer- und Aktienrecht, die Notstands- und Parteiengesetzgebung, das Rundfunkwesen und die soziale Krankenversicherung betrafen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2007Mit Blick auf Wähler und Wahlen
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung im Jahr des Kanzlerwechsels von Adenauer zu Erhard
Im April 1963 stand die Personalentscheidung für den ersten Wechsel im Bonner Kanzleramt an: die Kür von Konrad Adenauers Nachfolger, den der Amtsinhaber so vehement zu verhindern versucht hatte. "Er habe nichts persönlich gegen Minister Erhard, seine Bedenken seien vielmehr ausschließlich politischer Natur" - in dieser Äußerung Adenauers zu Beginn der Kabinettssitzung am Tag nach der entscheidenden Fraktionsbesprechung scheint die Tiefe der Auseinandersetzung auch durch die Dämpfung des Kabinettsprotokolls hindurch. Er sei aber - auch dies kein Vertrauensbeweis - "Demokrat genug, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren". Dennoch dankte Erhard dem nunmehr endgültig auf Abruf regierenden Kanzler "für die versöhnlichen Worte" und erklärte, "dass er bis zum Tage des Rücktritts des Bundeskanzlers nichts anderes sei und nichts anderes sein wolle als bisher, d. h. Wirtschaftsminister".
In dieser Eigenschaft wurde Erhard immer mehr zum einsamen Mahner zugunsten der marktwirtschaftlichen Komponente innerhalb der labilen Balance namens "Soziale Marktwirtschaft". Immer wieder artikulierte er seine Skepsis gegenüber sozialpolitischer Maßnahmen, die in zunehmender Zahl beschlossen wurden: gegenüber dem Umfang der Rentenerhöhung, dem "Sozialpaket", der Fünf-Tage-Woche und der Arbeitszeitverkürzung, "weil ohnehin in der Bundesrepublik im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zu wenig gearbeitet werde. Man solle vielmehr Anreize schaffen, die zu einer Ausdehnung der Arbeitszeit über 45 Stunden führen könnten." Wie isoliert Erhard mit seiner Haltung war, zeigte sich in der Kabinettssitzung vom 7. März, als die "Situation auf dem Energiemarkt" diskutiert wurde. Vor dem Hintergrund der "Kohlenkrise" seit 1957/58 und der zunehmenden Bedeutung des Erdöls als Energieträger stellte Adenauer die Grundsatzfrage, "ob eine Förderung von 140 Mio. to. Steinkohle gesichert werden solle oder ob sich die Bundesrepublik vom Öl überschwemmen lassen wolle". Auch Erhard sah im "Verhältnis von Kohle und Öl ein gesamtwirtschaftliches Problem erster Ordnung", und auch er hielt Subventionen für erforderlich - gebunden aber an Wettbewerb und Effizienz. Schutzmaßnahmen und weitere Subventionen für den Kohlenbergbau lehnte er ab.
Damit stand Erhard indessen ziemlich allein - und nicht zuletzt gegen Adenauer, der eine ganz korporatistische Direktion verfolgte. Nachdrücklich unterstützte der Noch-Kanzler "den Wunsch des Unternehmensverbandes und der I.G. Bergbau, die Genehmigungspflicht für den Bau von Raffinerien" einzuführen - nicht zuletzt mit Blick auf die Wahlen. Zechenstilllegungen, wie sie aus Erhards Energiepolitik resultieren würden, "müssten im Wahljahr erhebliche Unruhen erzeugen. Falls das Öl sich weiter so ausdehnen würde wie bisher und bis 1965 30-35 Zechen geschlossen werden müssten, würden die Wahlen in Nordrhein-Westfalen verlorengehen und die Wirtschaftspolitik des Wirtschaftsministers" - diesen Hieb konnte Adenauer sich nicht verkneifen - würde "ihr Ende finden".
Adenauers gesamte Argumentation ist von einem Trend durchzogen, der die Geschichte der Bundesrepublik auf ihrem Weg in die Gegenwart so nachhaltig geprägt hat und der bereits tief in der Ära Adenauer angelegt ist: zunehmender sozialstaatlicher Interventionismus, pazifizierende Sozialpolitik und vielfältige Subventionierungen mit Blick auf Wähler und Wahlen anstelle der Mechanismen des Marktes. 1963 stand dies alles noch unter den Vorzeichen von Wachstum und ausgeglichenem Haushalt; einmal beschritten, erwies sich der Pfad der sozialstaatlichen Expansion und Durchdringung unterdessen als nicht mehr umkehrbar, als seit den siebziger Jahren die ökonomischen und demographischen Grundlagen porös zu werden begannen.
44 reguläre Kabinettssitzungen und sieben Sondersitzungen sind in diesem Band dokumentiert und auf hohem Niveau ediert. Die Kommentierung macht es möglich, einzelne Vorgänge stringent und im Zusammenhang zu verfolgen, und zudem die detaillierten Register (insbesondere zwei biographische Register der Teilnehmer der Kabinettssitzungen sowie der Personen, die in den Protokollen namentlich erwähnt werden) machen die Kabinettsprotokolle erkenntnisreich benutzbar. Dass die Sondersitzungen vor allem internationalen Fragen wie dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom Januar und seinen turbulenten Nachwirkungen oder dem amerikanisch-sowjetischen Atom-Teststopp-Abkommen im Juli galten, macht die Bedeutung der Außenpolitik auch am Ende der Ära Adenauer deutlich. Einem Vermächtnis ähnlich, hatte der scheidende Kanzler am Tag nach Erhards Designation zuerst und ganz besonders betont, "dass die Stetigkeit in der deutschen Außenpolitik die Voraussetzung für die deutsche Geltung in der Welt und für das Vertrauen zu Deutschland sei".
Der weltpolitische Wandel hin zur Entspannungspolitik brachte die bundesdeutsche Außenpolitik unterdessen unter Anpassungsdruck, weil die sicherheitspolitischen Interessen - die Übereinstimmung mit dem westlichen Bündnis - und die nationalen Interessen zunehmend auseinandertraten. Im März diskutierte das Kabinett die Frage, wie sich die Teilnehmer der westdeutschen Eishockey-Nationalmannschaft verhalten würden, wenn sie das Weltmeisterschaftsspiel gegen die DDR in Stockholm verlören und nach den Statuten des Internationalen Eishockey-Verbandes der Flagge und der Hymne des Siegers die Reverenz zu erweisen hatten. Für diesen Fall sprach Innenminister Höcherl die Erwartung aus, dass die bundesdeutschen Spieler "sich für ihre staatsbürgerlichen Pflichten entscheiden werden". Mit einem denkbar knappen Sieg bewahrte die westdeutsche Mannschaft schließlich vor deutschlandpolitischen Verlegenheiten. Die irreversible Bindung der Bundesrepublik an den Westen war das außenpolitische Vermächtnis der Ära Adenauer. Ihre Deutschland-Politik im Zeichen von Alleinvertretungsanspruch und Magnettheorie hatte indessen 1963 keine Zukunft mehr. Es zählt zu den großen Ironien der deutschen Geschichte, dass es eben ihr Wiedervereinigungsszenario war, das - als diese Politik längst obsolet geworden war - schließlich Realität wurde.
ANDREAS RÖDDER
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Herausgegeben für das Bundesarchiv von Hartmut Weber. Band 16: 1963. Bearbeitet von Ulrich Enders und Christoph Seemann unter Mitwirkung von Ralf Behrendt, Josef Henke und Uta Rössel. Oldenbourg-Verlag, München 2006. 637 S., 64,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung im Jahr des Kanzlerwechsels von Adenauer zu Erhard
Im April 1963 stand die Personalentscheidung für den ersten Wechsel im Bonner Kanzleramt an: die Kür von Konrad Adenauers Nachfolger, den der Amtsinhaber so vehement zu verhindern versucht hatte. "Er habe nichts persönlich gegen Minister Erhard, seine Bedenken seien vielmehr ausschließlich politischer Natur" - in dieser Äußerung Adenauers zu Beginn der Kabinettssitzung am Tag nach der entscheidenden Fraktionsbesprechung scheint die Tiefe der Auseinandersetzung auch durch die Dämpfung des Kabinettsprotokolls hindurch. Er sei aber - auch dies kein Vertrauensbeweis - "Demokrat genug, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren". Dennoch dankte Erhard dem nunmehr endgültig auf Abruf regierenden Kanzler "für die versöhnlichen Worte" und erklärte, "dass er bis zum Tage des Rücktritts des Bundeskanzlers nichts anderes sei und nichts anderes sein wolle als bisher, d. h. Wirtschaftsminister".
In dieser Eigenschaft wurde Erhard immer mehr zum einsamen Mahner zugunsten der marktwirtschaftlichen Komponente innerhalb der labilen Balance namens "Soziale Marktwirtschaft". Immer wieder artikulierte er seine Skepsis gegenüber sozialpolitischer Maßnahmen, die in zunehmender Zahl beschlossen wurden: gegenüber dem Umfang der Rentenerhöhung, dem "Sozialpaket", der Fünf-Tage-Woche und der Arbeitszeitverkürzung, "weil ohnehin in der Bundesrepublik im Vergleich mit anderen europäischen Ländern zu wenig gearbeitet werde. Man solle vielmehr Anreize schaffen, die zu einer Ausdehnung der Arbeitszeit über 45 Stunden führen könnten." Wie isoliert Erhard mit seiner Haltung war, zeigte sich in der Kabinettssitzung vom 7. März, als die "Situation auf dem Energiemarkt" diskutiert wurde. Vor dem Hintergrund der "Kohlenkrise" seit 1957/58 und der zunehmenden Bedeutung des Erdöls als Energieträger stellte Adenauer die Grundsatzfrage, "ob eine Förderung von 140 Mio. to. Steinkohle gesichert werden solle oder ob sich die Bundesrepublik vom Öl überschwemmen lassen wolle". Auch Erhard sah im "Verhältnis von Kohle und Öl ein gesamtwirtschaftliches Problem erster Ordnung", und auch er hielt Subventionen für erforderlich - gebunden aber an Wettbewerb und Effizienz. Schutzmaßnahmen und weitere Subventionen für den Kohlenbergbau lehnte er ab.
Damit stand Erhard indessen ziemlich allein - und nicht zuletzt gegen Adenauer, der eine ganz korporatistische Direktion verfolgte. Nachdrücklich unterstützte der Noch-Kanzler "den Wunsch des Unternehmensverbandes und der I.G. Bergbau, die Genehmigungspflicht für den Bau von Raffinerien" einzuführen - nicht zuletzt mit Blick auf die Wahlen. Zechenstilllegungen, wie sie aus Erhards Energiepolitik resultieren würden, "müssten im Wahljahr erhebliche Unruhen erzeugen. Falls das Öl sich weiter so ausdehnen würde wie bisher und bis 1965 30-35 Zechen geschlossen werden müssten, würden die Wahlen in Nordrhein-Westfalen verlorengehen und die Wirtschaftspolitik des Wirtschaftsministers" - diesen Hieb konnte Adenauer sich nicht verkneifen - würde "ihr Ende finden".
Adenauers gesamte Argumentation ist von einem Trend durchzogen, der die Geschichte der Bundesrepublik auf ihrem Weg in die Gegenwart so nachhaltig geprägt hat und der bereits tief in der Ära Adenauer angelegt ist: zunehmender sozialstaatlicher Interventionismus, pazifizierende Sozialpolitik und vielfältige Subventionierungen mit Blick auf Wähler und Wahlen anstelle der Mechanismen des Marktes. 1963 stand dies alles noch unter den Vorzeichen von Wachstum und ausgeglichenem Haushalt; einmal beschritten, erwies sich der Pfad der sozialstaatlichen Expansion und Durchdringung unterdessen als nicht mehr umkehrbar, als seit den siebziger Jahren die ökonomischen und demographischen Grundlagen porös zu werden begannen.
44 reguläre Kabinettssitzungen und sieben Sondersitzungen sind in diesem Band dokumentiert und auf hohem Niveau ediert. Die Kommentierung macht es möglich, einzelne Vorgänge stringent und im Zusammenhang zu verfolgen, und zudem die detaillierten Register (insbesondere zwei biographische Register der Teilnehmer der Kabinettssitzungen sowie der Personen, die in den Protokollen namentlich erwähnt werden) machen die Kabinettsprotokolle erkenntnisreich benutzbar. Dass die Sondersitzungen vor allem internationalen Fragen wie dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom Januar und seinen turbulenten Nachwirkungen oder dem amerikanisch-sowjetischen Atom-Teststopp-Abkommen im Juli galten, macht die Bedeutung der Außenpolitik auch am Ende der Ära Adenauer deutlich. Einem Vermächtnis ähnlich, hatte der scheidende Kanzler am Tag nach Erhards Designation zuerst und ganz besonders betont, "dass die Stetigkeit in der deutschen Außenpolitik die Voraussetzung für die deutsche Geltung in der Welt und für das Vertrauen zu Deutschland sei".
Der weltpolitische Wandel hin zur Entspannungspolitik brachte die bundesdeutsche Außenpolitik unterdessen unter Anpassungsdruck, weil die sicherheitspolitischen Interessen - die Übereinstimmung mit dem westlichen Bündnis - und die nationalen Interessen zunehmend auseinandertraten. Im März diskutierte das Kabinett die Frage, wie sich die Teilnehmer der westdeutschen Eishockey-Nationalmannschaft verhalten würden, wenn sie das Weltmeisterschaftsspiel gegen die DDR in Stockholm verlören und nach den Statuten des Internationalen Eishockey-Verbandes der Flagge und der Hymne des Siegers die Reverenz zu erweisen hatten. Für diesen Fall sprach Innenminister Höcherl die Erwartung aus, dass die bundesdeutschen Spieler "sich für ihre staatsbürgerlichen Pflichten entscheiden werden". Mit einem denkbar knappen Sieg bewahrte die westdeutsche Mannschaft schließlich vor deutschlandpolitischen Verlegenheiten. Die irreversible Bindung der Bundesrepublik an den Westen war das außenpolitische Vermächtnis der Ära Adenauer. Ihre Deutschland-Politik im Zeichen von Alleinvertretungsanspruch und Magnettheorie hatte indessen 1963 keine Zukunft mehr. Es zählt zu den großen Ironien der deutschen Geschichte, dass es eben ihr Wiedervereinigungsszenario war, das - als diese Politik längst obsolet geworden war - schließlich Realität wurde.
ANDREAS RÖDDER
Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung. Herausgegeben für das Bundesarchiv von Hartmut Weber. Band 16: 1963. Bearbeitet von Ulrich Enders und Christoph Seemann unter Mitwirkung von Ralf Behrendt, Josef Henke und Uta Rössel. Oldenbourg-Verlag, München 2006. 637 S., 64,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr detaillierte Auskünfte über politische Entscheidungen der Bundesregierung im Jahr 1958 erteilt nicht nur der Band mit den Protokollen von 43 Kabinettssitzungen, sondern auch Rezensent Rudolf Morsey, der in seiner langen Besprechung zahlreiche Beschlüsse und Ereignisse aufführt. Den Band, vor allem aber die Einleitung von Ulrich Enders hält er für ein "unentbehrliches" Dokument der Zeitgeschichte. Die Protokolle spielten, so Morsey, eine zentrale Rolle für das Verständnis der Nachkriegszeit und des Kalten Krieges und der wichtige Sachkommentar ergänze die oft unergiebigen Protokolle mit präzisen und abgewogenen Auslegungen. Und am Rande, so der Rezensent, erfährt der Leser auch noch, warum sich Adenauer lieber im Mercedes als im BMW befördern ließ: Diese Entscheidung beruhte nicht auf Absprachen mit dem Konzern, sondern die hatte anscheinend Adenauers Chauffeur getroffen, berichtet Morsey.
© Perlentaucher Medien GmbH
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