Eine literarische Wiederentdeckung im besten Sinne, zum hundertjährigen Erscheinungsjubiläum neu aufgelegt!Als Toni Muhr im Herbst 1916 aus dem Krieg nach Wien zurückkehrt, wird gerade Kaiser Franz Joseph I. feierlich zu Grabe getragen. Auch sonst scheint Tonis Welt aus den Fugen zu geraten: Sein Arbeitgeber hat ganz offensichtlich das chemische Patent, das er ihm kurz vor seinem Einzug zum Wehrdienst vergebens zum Kauf angeboten hatte, einfach selbst angemeldet und damit während Tonis zweijähriger Abwesenheit einen sagenhaften Reichtum erwirtschaftet. Und Tonis Ehefrau Lauretta verhält sich zunehmend merkwürdig - betrügt sie ihn etwa mit seinem Chef?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Eine lohnenswerte Wiederentdeckung, freut sich Rezensent Alexander Kosenina über die hundert Jahre alte k.u.k-Untergangsgeschichte von Paul Zifferer. Der Sohn einer jüdischen Familie aus Mähren verfasste eine Parodie auf das Ende von Österreich-Ungarn, die mit Heinrich Manns Untergangs-Romanen des deutschen Kaiserreichs vergleichbar ist, lobt der Kritiker. Die Stärke Zifferers liegt für ihn in der feinen Analyse gesellschaftlicher Antagonismen, die der Autor besonders im wachsenden Antisemitismus spiegele. Wie gespannt im multikulturellen Habsburger Staatengebilde 1916 das Verhältnis zwischen Bourgeoisie und Bürgertum war, legt Zifferer mit dem Dreh zur Rolle des Journalismus präzise offen, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2023Ein wienerischer Kohlhaas?
Paul Zifferers Roman "Die Kaiserstadt"
Den Verfall des deutschen Kaiserreichs gestaltet Heinrich Mann in den Romanen "Im Schlaraffenland" und "Der Untertan" als persönliche wie unternehmerische Selbstparodien. Eine Entsprechung zum Niedergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ist jetzt mit Paul Zifferers Roman "Die Kaiserstadt" neu erschienen. Der Verfasser wurde gänzlich vergessen, obwohl er mit Hofmannsthal und Schnitzler befreundet war und Karl Kraus diesen "Feuilletonbuben" und Balkan-Kriegskorrespondenten der "Neuen Freien Presse" in der "Fackel" immer wieder beachtete.
Tatsächlich hat Zifferer sich in den Kriegsjahren in Wien einen Namen gemacht. Ursprünglich stammte er aus einer jüdischen Familie von Branntweinbrennern in Mähren, kam zu seinem gesellschaftlich einflussreichen Onkel und Vormund nach Wien, studierte - wie auch an der Sorbonne - Rechtswissenschaften und wurde promoviert. Er hatte viele Verbindungen in die bessere, auch adlige Gesellschaft, nicht zuletzt als Sekretär des Grafen Foucher de Careil und des Baron de Caze. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte er es dann zum Attaché für Presse und Kultur in Paris und wurde dort später zum Chevalier und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Nur in den literarischen Kreisen fand er als Nachhut des Jungen Wiens lediglich höfliche Anerkennung: Hofmannsthal, mit dem Zifferer viel korrespondierte (Briefe 1983 ediert) und die "Revue D'Autriche" herausgab, lobte verhalten den "menschlichen Blick", und Schnitzler sprach herablassend von einem "correcten Roman" - trotz mangelnder Begabung.
Heute, hundert Jahre nach der Erstausgabe, mag man das etwas anders einschätzen. Die Stärke des damals erfolgreichen Gesellschaftsromans besteht in der genauen Beobachtung widerstreitender gesellschaftlicher Kräfte, insbesondere im Zeichen des zunehmenden Antisemitismus. Katharina Prager hebt in ihrem vorzüglichen Nachwort hervor, dass die Hauptfigur Toni Muhr "auf geradezu satirische Weise nicht-jüdisch ist." Er kehrt als Austauschinvalide vorzeitig aus dem Krieg zurück, just zur Grablegung Kaiser Franz Josephs am 30. November 1916 in Wien. Mit Schrecken muss der promovierte Chemiker aber feststellen, dass die jüdischen Unternehmer Katlein während des Feldeinsatzes die Arglosigkeit seiner Frau ausnutzten und wichtige Forschungsunterlagen an sich nahmen. Toni Muhr wird dadurch um seine Entwicklung medizinischer Kohle zur Darmbehandlung gebracht, die 1914 zum Patent angemeldet und 1916 von der Militärverwaltung für eine hohe Summe übernommen wurde. Die Hälfte des Erlöses beansprucht Muhr nun für sich.
Dazu werden alle juristischen und politischen Mittel genutzt, nicht zuletzt auch die Macht der Öffentlichkeit und der Presse. Ein Interview bei einem großen Blatt gehört zu den rasantesten Kapiteln des ersten Romanteils. Unter der Devise "Ohne Zeitungen kann man nicht Krieg führen" arrangiert Toni Muhrs Schwager einen Termin beim Chefredakteur, der hoch über den rührigen Stenographen, klappernden Setzmaschinen, rumpelnden Rotationspressen thront. Vermutlich wird "von hier aus Österreich regiert": Telefone klingeln, Nachrichten in den acht Amtssprachen des Reiches laufen ein, Diener mit Bürstenabzügen rennen kurz vor Andruck umher, überall ist reges Kommen und Gehen. Natürlich interessiert man sich hier mehr für sensationelle Kriegserlebnisse in Albanien als für Patentstreitigkeiten.
Auf den verschlungenen Wegen der Rechtsfindung, die der Jurist Zifferer bestens kennt, muss der Held dieser Geschichte begreifen, dass Gerechtigkeit oder Gleichheit vor dem Gesetz selten sind. Die diplomatischen Bestrebungen einer zugewandten Fürstin hätten wenigstens einen lukrativen Vergleich ermöglicht. Der Trotz Toni Muhrs, der eine "Art wienerischer Kohlhaas" ist, führt aber zum Scheitern. Im Gerichtsverfahren kann seine einst unbesonnene Bemerkung, um der Sache und nicht des Ertrags willen zu forschen, zur Verzichtserklärung umgedeutet werden.
Doch zum Schluss wendet sich das Blatt. Die Albumin-Werke der Brüder Katlein verlegen sich - antijüdische Stereotype bedienend - auf gewinnbringende Sprengstoffe. Muhr wird wieder eingestellt und bewährt sich nicht nur bei der Synthese von Nitroglycerin. Vielmehr stellt er sich auf die Seite seiner einstigen Feinde und wird Geschäftsführer, als der Stern der Katleins zur Zeit der Arbeiteraufstände 1918 sinkt. Zifferer, der 1913 nach jüdischem Ritus heiratet und nicht den von Hermann Broch am Beispiel der Familie Hofmannsthal dargestellten Weg von Assimilation und Konversion geht, hat mit seinem Roman die Spannungen im habsburgischen Vielvölkerstaat zwischen Unternehmertum, altösterreichischem Adel, "Freunderlwirtschaft" und Journalismus prägnant offengelegt. Zusammen prägen sie "Die Kaiserstadt" Wien bis 1918. ALEXANDER KOSENINA
Paul Zifferer:
"Die Kaiserstadt". Roman.
Reclam Verlag, Ditzingen 2023. 397 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Zifferers Roman "Die Kaiserstadt"
Den Verfall des deutschen Kaiserreichs gestaltet Heinrich Mann in den Romanen "Im Schlaraffenland" und "Der Untertan" als persönliche wie unternehmerische Selbstparodien. Eine Entsprechung zum Niedergang der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ist jetzt mit Paul Zifferers Roman "Die Kaiserstadt" neu erschienen. Der Verfasser wurde gänzlich vergessen, obwohl er mit Hofmannsthal und Schnitzler befreundet war und Karl Kraus diesen "Feuilletonbuben" und Balkan-Kriegskorrespondenten der "Neuen Freien Presse" in der "Fackel" immer wieder beachtete.
Tatsächlich hat Zifferer sich in den Kriegsjahren in Wien einen Namen gemacht. Ursprünglich stammte er aus einer jüdischen Familie von Branntweinbrennern in Mähren, kam zu seinem gesellschaftlich einflussreichen Onkel und Vormund nach Wien, studierte - wie auch an der Sorbonne - Rechtswissenschaften und wurde promoviert. Er hatte viele Verbindungen in die bessere, auch adlige Gesellschaft, nicht zuletzt als Sekretär des Grafen Foucher de Careil und des Baron de Caze. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte er es dann zum Attaché für Presse und Kultur in Paris und wurde dort später zum Chevalier und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Nur in den literarischen Kreisen fand er als Nachhut des Jungen Wiens lediglich höfliche Anerkennung: Hofmannsthal, mit dem Zifferer viel korrespondierte (Briefe 1983 ediert) und die "Revue D'Autriche" herausgab, lobte verhalten den "menschlichen Blick", und Schnitzler sprach herablassend von einem "correcten Roman" - trotz mangelnder Begabung.
Heute, hundert Jahre nach der Erstausgabe, mag man das etwas anders einschätzen. Die Stärke des damals erfolgreichen Gesellschaftsromans besteht in der genauen Beobachtung widerstreitender gesellschaftlicher Kräfte, insbesondere im Zeichen des zunehmenden Antisemitismus. Katharina Prager hebt in ihrem vorzüglichen Nachwort hervor, dass die Hauptfigur Toni Muhr "auf geradezu satirische Weise nicht-jüdisch ist." Er kehrt als Austauschinvalide vorzeitig aus dem Krieg zurück, just zur Grablegung Kaiser Franz Josephs am 30. November 1916 in Wien. Mit Schrecken muss der promovierte Chemiker aber feststellen, dass die jüdischen Unternehmer Katlein während des Feldeinsatzes die Arglosigkeit seiner Frau ausnutzten und wichtige Forschungsunterlagen an sich nahmen. Toni Muhr wird dadurch um seine Entwicklung medizinischer Kohle zur Darmbehandlung gebracht, die 1914 zum Patent angemeldet und 1916 von der Militärverwaltung für eine hohe Summe übernommen wurde. Die Hälfte des Erlöses beansprucht Muhr nun für sich.
Dazu werden alle juristischen und politischen Mittel genutzt, nicht zuletzt auch die Macht der Öffentlichkeit und der Presse. Ein Interview bei einem großen Blatt gehört zu den rasantesten Kapiteln des ersten Romanteils. Unter der Devise "Ohne Zeitungen kann man nicht Krieg führen" arrangiert Toni Muhrs Schwager einen Termin beim Chefredakteur, der hoch über den rührigen Stenographen, klappernden Setzmaschinen, rumpelnden Rotationspressen thront. Vermutlich wird "von hier aus Österreich regiert": Telefone klingeln, Nachrichten in den acht Amtssprachen des Reiches laufen ein, Diener mit Bürstenabzügen rennen kurz vor Andruck umher, überall ist reges Kommen und Gehen. Natürlich interessiert man sich hier mehr für sensationelle Kriegserlebnisse in Albanien als für Patentstreitigkeiten.
Auf den verschlungenen Wegen der Rechtsfindung, die der Jurist Zifferer bestens kennt, muss der Held dieser Geschichte begreifen, dass Gerechtigkeit oder Gleichheit vor dem Gesetz selten sind. Die diplomatischen Bestrebungen einer zugewandten Fürstin hätten wenigstens einen lukrativen Vergleich ermöglicht. Der Trotz Toni Muhrs, der eine "Art wienerischer Kohlhaas" ist, führt aber zum Scheitern. Im Gerichtsverfahren kann seine einst unbesonnene Bemerkung, um der Sache und nicht des Ertrags willen zu forschen, zur Verzichtserklärung umgedeutet werden.
Doch zum Schluss wendet sich das Blatt. Die Albumin-Werke der Brüder Katlein verlegen sich - antijüdische Stereotype bedienend - auf gewinnbringende Sprengstoffe. Muhr wird wieder eingestellt und bewährt sich nicht nur bei der Synthese von Nitroglycerin. Vielmehr stellt er sich auf die Seite seiner einstigen Feinde und wird Geschäftsführer, als der Stern der Katleins zur Zeit der Arbeiteraufstände 1918 sinkt. Zifferer, der 1913 nach jüdischem Ritus heiratet und nicht den von Hermann Broch am Beispiel der Familie Hofmannsthal dargestellten Weg von Assimilation und Konversion geht, hat mit seinem Roman die Spannungen im habsburgischen Vielvölkerstaat zwischen Unternehmertum, altösterreichischem Adel, "Freunderlwirtschaft" und Journalismus prägnant offengelegt. Zusammen prägen sie "Die Kaiserstadt" Wien bis 1918. ALEXANDER KOSENINA
Paul Zifferer:
"Die Kaiserstadt". Roman.
Reclam Verlag, Ditzingen 2023. 397 S., geb., 28,- Euro.
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