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Wie kommt eine dreißigjährige Frau aus dem viktorianischen England, die keine Ausbildung genossen und sich ihr Leben lang um die kranke Mutter gekümmert hat, auf die Idee, allein nach Westafrika zu reisen und dort die Riten wilder Kannibalenstämme im Landesinneren zu erforschen? Menschen, die selbst die kaltblütigsten europäischen Händler fürchteten? An ihrem 14. Geburtstag stößt Lily Austin in einem Buch über berühmte Forscher zum erstenmal auf den Namen Mary Kingsley. In derselben Nacht, während draußen ein Eissturm die Stadt Washington lahmlegt, geschieht etwas, das Lilys kindliches…mehr

Produktbeschreibung
Wie kommt eine dreißigjährige Frau aus dem viktorianischen England, die keine Ausbildung genossen und sich ihr Leben lang um die kranke Mutter gekümmert hat, auf die Idee, allein nach Westafrika zu reisen und dort die Riten wilder Kannibalenstämme im Landesinneren zu erforschen? Menschen, die selbst die kaltblütigsten europäischen Händler fürchteten?
An ihrem 14. Geburtstag stößt Lily Austin in einem Buch über berühmte Forscher zum erstenmal auf den Namen Mary Kingsley. In derselben Nacht, während draußen ein Eissturm die Stadt Washington lahmlegt, geschieht etwas, das Lilys kindliches Vertrauen in die Welt zutiefst erschüttert. Immer wieder kehrt sie in den folgenden Jahren zu den Schriften und Gedanken dieser unerschrockenen Frau zurück, sie wird ihr zum Fixpunkt in einer unwägbaren Welt, und indem sie über sie schreibt, legt sie über ihr eigenes Leben Rechenschaft ab. Ein Leben, das ihr zusehends entgleitet - sie bricht das Studium ab, heiratet überstürzt ihre erste große Liebe und zieht zur Familie ihres Mannes in den Süden der USA, wo sich ein Drama von Tennessee Williams'schem Ausmaß anbahnt.
Authentisch und überzeugend verwebt Richard Bausch beide Frauenschicksale, umspannt souverän ein ganzes Jahrhundert und mehrere Kontinente und erweist sich als der große Realist und Menschenkenner, als den ihn seine Leser schätzen.
Autorenporträt
Richard Bausch wurde 1945 in Georgia geboren, hat Literatur studiert und mehrere Romane und Erzählungen verfasst sowie zahlreiche Preise und Stipendien erhalten. Richard Bausch lebt mit seiner Frau und fünf Kindern in Virginia auf dem Land.
Rezensionen
"Die schlimmsten Kannibalen sitzen nach Bausch in uns selbst und fressen uns von innen her auf ... Eine starke Behauptung - und noch dazu wahr!"
(Los Angeles Times)

"In 'Die Kannibalen' lernt Bauschs Heldin, sich der 'Wildnis' der menschlichen Seele zu stellen ... Mit seiner wunderbaren Sensibilität beweist Bausch, daß das Gelände der Ehe, auf dem so viele von uns schachern und feilschen, ebenso extrem ist (wie der afrikanische Urwald), und führt uns die 'herrlichen, herzerfrischenden, wunderschönen' Aspekte der menschlichen Natur vor Augen, die wir in den Niederungen des Alltags so leicht vergessen."
(Washington Post)

"Ein Großteil der Handlung spielt im Faulkner-Land, in Oxford, Mississippi. Aber die Geschichte ist Tennessee Williams pur: Steck ein paar Leute zusammen in ein Haus, dreh die Heizung auf und klapp den Deckel zu. ... Wieder einmal hat der Autor seine Leser durch das oft trügerische Gelände der Seele geführt und uns auf seine Weise unsere eigene Geschichte erzählt."
(Fort Worth Morning Star)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2004

Das Gewimmer der Wildnis
Richard Bausch erforscht den Schwarzen Kontinent der Frauenseele

Der Torwart fürchtet sich vor dem Elfmeter, das Karnickel vor der Schlange, aber Lily hat einfach bloß Angst, sobald sie die Augen aufschlägt; und vorher auch. In jedem dritten Satz. "Nackte Angst vor den Gegebenheiten des Daseins packt sie" an ihrem vierzehnten Geburtstag, den sie im Haus einer Freundin feiert. Denn ihre Eltern lassen auf sich warten. "Seltsam verängstigt" bleibt sie selbst dann, als sich die Verspätung mit einem schlichten Blechschaden erklärt. Bald wird dem altklugen Teenie klar, "wie sonderbar sich doch alles mischt in den Menschen, Zärtlichkeit und Brutalität, Wut und Gelächter und Trauer, und alles so beängstigend, daß es nicht zu ertragen ist".

Der Prolog des rund 850 Seiten langen Romans "Die Kannibalen" von Richard Bausch ist gelungen: In stimmungsvoll kolorierten Kulissen, komplett samt dräuendem Schneesturm, machen die Protagonisten ihren Diener und servieren den Stoff, aus dem Bauschs Phantasien sind. "Hello to the Cannibals" (im Original 2002 erschienen) geht mit den Menschenfressern des Schwarzen Kontinents und mit denen der schwarzen Seelenterritorien auf Tuchfühlung.

Lily bekommt zu ihrem besagten Geburtstag im Jahr 1982 den Band "Große Entdecker" geschenkt - und entdeckt darin noch am selben Abend die (historische) Reiseschriftstellerin Mary Kingsley. Später, als College-Studentin, wird Lily an einem Theaterstück über die viktorianische Forscherin arbeiten. Der 1945 geborene amerikanische Autor hat für seine wagemutige, weltoffene Kollegin aus einem anderen Jahrhundert und einem anderen Kontinent - Mary Henrietta Kingsley wurde 1862 in London geboren - ein Memorial aus der Feder eines verklemmten, verschüchterten all american girl schaffen lassen. Warum? Diese Frage bleibt trotz aller raffinierten Engführung offen, trotz der Parallelen in der Entwicklung der beiden jungen Frauen und trotz der Überschneidungen im Bekanntenkreis: Lily lernt endlich sogar jemanden kennen, der jemanden gekannt hat, der die Kingsley kannte.

Auf der einen Seite Mary Kingsley: Sie hatte keine höhere Schule besuchen dürfen, sondern pflegte ihre kranke Mutter, versorgte ihren jüngeren Bruder und las sich ihr breites Wissen an. Erst mit dreißig Jahren konnte sie in See stechen. Für viktorianische Verhältnisse eine alte Jungfer, erforschte sie als erste Europäerin Folklore, Flora und Fauna Westafrikas, fand Freunde auch unter den kannibalischen Fang, bezwang morastige Dschungellandschaften und steile Berge und stand als eiserne Lady im langen, zugeknöpften Schwarzen stets ihren Mann. Sie schrieb, weil sie liebte; Afrika liebte ("Travels in West Africa" wurde ein Bestseller ihrer Zeit). Missionieren und belehren war ihre Sache nicht. Richard Bausch wird ihr Leben teilweise in fiktionalen Tagebuchbriefen rekapitulieren, in Nachrichten an die Zukunft. Das ist keine Aktion, die zu der nüchternen Dame - no nonsense, but lots of humour - passen würde, sondern ein Konstruktionskniff für einen arg ambitionierten Roman.

Auf der anderen Seite Lily Austin: Einzelkind, Augapfel ihrer schauspielernden Eltern, erfolgreiche Studentin, aber verschlossen, verhärmt, freudlos. An ihrem vierzehnten Geburtstag wäre sie beinahe von einem besoffenen Greis vergewaltigt worden, und seither ist sie verstört. Daß ihre Eltern sich, Jahre später, scheiden lassen, wirft die junge Frau vollends aus der Bahn. Trotz ihrer Begabung und ihrer Beziehungen verzichtet sie auf eine Bühnenlaufbahn und bastelt statt dessen an ihrem - für den unbeteiligten Leser nicht gerade vielversprechenden - Drama über die Kingsley herum, schreibt adorierende (Antwort-)Briefe an die lang Verstorbene.

Sie schmeißt ihr Studium, heiratet (in beträchtlicher Verblendung), gebiert ein Kind, erleidet eine Scheidung (aus beträchtlicher Verblendung) und auch sonst allerlei zwischenmenschliche Unbill. Angst haben, am Leben leiden, Tränen vergießen - das sind die Grundkonstanten dieser amerikanischen Existenz gegen Ende des letzten Jahrtausends. Am Schluß des Romans hat Lily das fertige Stück in der Schublade, das Entdeckerbuch auf dem Tisch und Mary Kingsleys Stimme im Kopf. "Die Seele eines anderen Menschen ist eine Wildnis für sich, und um sie zu erforschen, mußt du auch tapfer sein."

Tapfer ist jedenfalls, wer bis dahin gekommen ist. Der wiederholt ausgezeichnete Schriftsteller Bausch ist ein kunstreicher Kurzgeschichtenerzähler. Und auch in "Die Kannibalen" versteht er es, in kleinen Szenen am Pool, genuschelten Unterhaltungen in der Küche ganze Romane anzulegen. Schade, daß ein Haufen von Anlagen noch keinen Roman ausmacht. Was darunter hervorlugt, sind zwei ausgewachsene Novellen, über zeitgenössische amerikanische Décadence und ihre merkwürdigen Prüderien die eine, die andere über vergangene, sehr britische Courage und ihre Liberalität. Mit großer Lust am Detail - und bemerkenswertem Können - malt Bausch historische und gegenwärtige Kosmen en miniature. Laternen in London, verbrannte Erde in Oxford, Mississippi, alles deutet Geschichten an.

Sie hätten freilich nicht alle ausbuchstabiert werden müssen. So manche Weitschweifigkeit windet sich um den Text wie eine Boa constrictor; etwa das ausführliche Geburtsprotokoll aus Lilys Sicht, das vom "zylindrischen Abfalleimerchen" für Gummihandschuhe übers mehrfache Muttermundabtasten bis zu Lilys unvermeidlichem "Grauen" nichts ausläßt. Wir erfahren von ihrer "Ahnung", daß der Schmerz "die Macht hatte, sie zu brechen, ja, sie zu töten". Und Lily fängt, wieder einmal, "zu weinen an. Es war ein Weinen ohne Schluchzer, ohne Krampf in der Kehle, nur die Tränen strömten ihr über die Wangen" - und so weiter ad libitum. Zum Heulen.

ALEXANDRA KEDVES

Richard Bausch: "Die Kannibalen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ahlers und Sabine Roth. Luchterhand Verlag, München 2004. 845 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Der Prolog des rund 850 Seiten langen Romans 'Die Kannibalen' von Richard Bausch ist gelungen." Damit lässt Alexandra Kedves keine Zweifel, was sie vom Rest des Buches hält. Bausch, schreibt sie, ist ein "kunstreicher Kurzgeschichtenerzähler", nun habe ihn leider der Ehrgeiz dazu gebracht, zwei Geschichten miteinander zu verschränken, die nichts miteinander zu tun haben: die von Mary Kingsley, der wagemutigen viktorianischen Reiseschriftstellerin und Afrikaforscherin, und die von Lily Austin, "Einzelkind, Augapfel ihrer schauspielernden Eltern, erfolgreiche Studentin, aber verschlossen, verhärmt, freudlos". Lily ist Amerikanerin und hat Angst vor dem Leben - was, bitte schön, soll uns ihr Leben über das von Kingsley sagen und umgekehrt? Kedves kann es sich nicht erklären und wünschte sich, Bausch hätte zwei Novellen geschrieben - dann wäre auch sein Talent für "historische und gegenwärtige Kosmen en miniature" besser zur Geltung gekommen.

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