Samantha ist neu am College in Oxford. Da das Wohnheim angeblich hoffnungslos überfüllt ist, wird sie allein in einem abgeschiedenen Turm von 1316 – einer ehemaligen Quarantänestation für Pestopfer – untergebracht. Ihr Zimmer ist unheimlich. Die Wandfarbe rot wie Blut und dann hängt da dieses
schreckliche düstere und bedrückende Gemälde der „Gouvernante“. Andererseits ist ihr diese abgeschiedene…mehrSamantha ist neu am College in Oxford. Da das Wohnheim angeblich hoffnungslos überfüllt ist, wird sie allein in einem abgeschiedenen Turm von 1316 – einer ehemaligen Quarantänestation für Pestopfer – untergebracht. Ihr Zimmer ist unheimlich. Die Wandfarbe rot wie Blut und dann hängt da dieses schreckliche düstere und bedrückende Gemälde der „Gouvernante“. Andererseits ist ihr diese abgeschiedene Lage ganz recht, denn nach dem Tod ihres Vaters ist sie die letzte Nachfahrin der berühmten Brontë-Schwestern und die Presse sowie diverse Forscher sind hinter ihr her. Zu letzteren gehört der Intimfeind ihres Vaters, Sir John Booker, einer mehrfach ausgezeichneten Koryphäe auf dem Gebiet der Brontë-Forschung „Keiner konnte Sir John das Wasser reichen, nicht einmal er selbst.“ (S. 122)
Samantha, Sam, studiert Literaturwissenschaften. Ihr Tutor James Orville ist nur ca. 10 Jahre älter als sie und ihre Streitgespräche über den Unterrichtsstoff sind sehr explosiv. Sie erhofft sich von ihm das Studium der Werke der Brontës, um hinter das kryptische Erbe ihres Vaters zu kommen, aber er weißt dies kategorisch ab. Er mag die Brontës nicht besonders! Außerdem fühlt sich Sam von Beginn zu ihm hingezogen ...
Ich bin ehrlich, ich hatte etwas anderes erwartet. Eine Familiengeschichte, dunkle Geheimnisse, Rätsel, eine sich zart anbahnende Liebesgeschichte. Und der Beginn des Buches hat meine Erwartungen auch erfüllt. Sams Kindheit und Jugend mit ihrem Vater wird beleuchtet, ihre Rituale, die Bildung, die er ihr angedeihen lies, da er sie zu Hause unterrichtet hat.
Aber dann kommt Sam in Oxford an und es wird stellenweise surreal. Orville ist ihr einziger Tutor. Sie studiert ausschließlich bei ihm und der Unterricht besteht aus genau einer Einzelstunde in der Woche, in der sie über die Hausaufgaben und Aufsätze der Vorwoche diskutieren. Ansonsten lebt sie zurückgezogen in ihrem Turm, scheint nur einmal im Monat in den gemeinsamen Ess-Saal der Studenten zu gehen. Orville ist ihr einziger sozialer Kontakt! Ist das glaubwürdig? Also mein Studium war damals vielfältiger. In ihrer Einsamkeit wird sie der Gouvernante auf dem Bild und der Figur aus „Jane Eyre“ immer ähnlicher: bleich, dünn, unverheiratet und Orvilles Schutzbefohlene ... Die Anspielungen an die Brontës finden sich immer wieder im Roman.
Und dann setzt sich Sam eben doch fast ausschließlich mit den Werken der Brontës und den Erinnerungen an ihren Vater auseinandersetzen – sind ihre Vorstellungen und ihr Wissen (die ja von ihm geprägt wurden) alle falsch? Wurde sie von ihm beeinflusst, manipuliert?! „Liebe hinterlässt immer Narben." (S. 27)
An einigen Stellen hatte ich das Gefühl, eine Interpretationshilfe für die Romane der Brontë-Schwestern zu lesen. Es war sehr wissenschaftlich und die Bücher wurden durch die immer wiederkehrenden Streitgespräche vielfältig hinsichtlich ihrer Deutung beleuchtet. Sam spielt hier m.E. nur eine Nebenrolle, um das Leben und Schaffen der Brontës zu beleuchten. Dabei gibt es viele Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
Trotz meiner vorangegangen leichten Kritik ist das Buch spannend, mystisch, arbeitet mit Verweisen und ist unterhaltsam geschrieben.
Ich denke, wer die Brontës mag, mag auf jeden Fall auch das Buch, beim normalen Leser bin ich da unsicher. Zumal ja der Klappentext nicht 100 % zum Inhalt passt und evtl. falsche Vorstellungen weckt.
4 Sterne für diese literarische Schatzsuche, auch wenn sie sicher nicht alle Leser begeistern wird.