»Gib Aids keine Chance« - fast jeder Deutsche über dreißig kennt den Slogan dieser 1987 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gestarteten Kampagne. »Truvada« heißt das Wundermittel, mit dem sich diese Forderung nun erfüllen soll. Die Kapsel, die HIV-Infizierten schon seit einiger Zeit zu Therapiezwecken verschrieben wird, dient mittlerweile auch der Prophylaxe. Was die Mehrheit der Deutschen nicht kennt, sind der Schmerz und die Isolation, die viele Menschen vor der Aufklärungs- und Präventionsarbeit sowie der Entwicklung effektiver Medikamente erfahren mussten.
Anhand zahlreicher Begegnungen mit Betroffenen und Zeitzeugen erzählt Martin Reichert die Geschichte dieser Menschen, etwa jener homosexueller Männer, die, abgekapselt von der Gesellschaft, allein mit dem Verlust ihres Partners zurechtkommen mussten: enterbt von der pfälzischen Familie, ausgeladen von der Beerdigung im Schwarzwald und von ihren Mitmenschen stigmatisiert. Aids hat die Art und Weise, wie wir leben und wie wir lieben, tiefgreifend verändert. Die Kapsel berichtet davon, wie die Krankheit ihren Weg ins Bewusstsein der Bundesrepublik fand.
Anhand zahlreicher Begegnungen mit Betroffenen und Zeitzeugen erzählt Martin Reichert die Geschichte dieser Menschen, etwa jener homosexueller Männer, die, abgekapselt von der Gesellschaft, allein mit dem Verlust ihres Partners zurechtkommen mussten: enterbt von der pfälzischen Familie, ausgeladen von der Beerdigung im Schwarzwald und von ihren Mitmenschen stigmatisiert. Aids hat die Art und Weise, wie wir leben und wie wir lieben, tiefgreifend verändert. Die Kapsel berichtet davon, wie die Krankheit ihren Weg ins Bewusstsein der Bundesrepublik fand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2018Dunkle Zeit, die alle angeht
Martin Reichert über die deutsche Aids-Geschichte
Nicht "Glasnost" und "Perestrojka" waren 1987 die "Worte des Jahres", sie schafften es nur auf Platz zwei. Vorne landeten "Aids" und "Kondom", die nicht minder zusammenzugehören scheinen. 1987 war auch das Jahr, in dem Rita Süssmuth, die damalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, ein Buch herausgab mit dem Titel: "Aids - Wege aus der Angst". Fünf Jahre gab es damals Aids in der Bundesrepublik, eine Zeit, in der vor allem Angst geschürt worden war, auch vom "Spiegel": Das Nachrichtenmagazin zeigte 1983 auf dem Titel zwei nackte Männer und schrieb dazu: "Tödliche Seuche Aids".
Wer schwul war, galt als möglicher Virusträger. Zwangstesten und am besten gleich ganz wegsperren wollten darum nicht wenige Politiker alle männlichen Homosexuellen. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler forderte gar die "Absonderung" von Infizierten. So waren die achtziger und neunziger Jahre für mindestens eine Generation von Schwulen eine Zeit, die zu Traumatisierungen führte. "Ihre Erlebnisse haben die meisten von ihnen jedoch fest in einer Kapsel verschlossen, die sie mit sich herumtragen." Und das seit bald dreißig Jahren.
Martin Reichert, der seit 2004 für die "taz" arbeitet, hat einige aus dieser Generation gebeten, ihre Kapseln zu öffnen und Einblicke in ihre damalige und heutige Gefühlslage zu geben, den Verleger Bruno Gmünder zum Beispiel, den Schauspieler Wieland Speck und den Sexualforscher Martin Dannecker, aber auch Rita Süssmuth als beteiligte Beobachterin und wichtigste Akteurin auf Seiten der "Mehrheitsgesellschaft". Um deren Schutz sei es vor allem gegangen, die Seuche habe ja nur eine Randgruppe betroffen, so das bittere Fazit von Gmünder.
Auch Gmünder verlor seinen Lebensgefährten an Aids, nach einer zwanzigjährigen Beziehung. Stolz hatte Christian von Maltzahn sich 1978 mit 682 Männern im "Stern" mit der Aktion "Wir sind schwul" geoutet, seine HIV-Infektion indes verheimlichte er. Von Maltzahn starb 1997 an der Immunschwächekrankheit, zu einem Zeitpunkt, als es schon Hoffnung gab.
Martin Reichert bettet die Erinnerungen seiner Protagonisten in die Zeitkontexte ein. Sie reichen von der Befreiung der Schwulen in den Siebzigern - man denke nur an Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" - über Rock Hudsons Aidstod 1985 bis hin zum großen medizinischen Wendepunkt 1996. Auf der elften Welt-Aidskonferenz in Vancouver wurde die wissenschaftliche Sensation verkündet: Bei sechundzwanzig Patienten, die einen neuen "Medikamentencocktail" getestet hatten, war nach vier Monaten das Virus im Blut nicht mehr nachweisbar. Der Siegeszug der Kombinationstherapie begann. Die Lebenserwartung der HIV-Infizierten stieg mit ihr stetig an.
Reichert geht es aber in seinem Buch besonders um die "dunkle Zeit", als Schwule durch Aids nicht nur ihre Partner, ihre Freunde und ihr Leben, sondern oftmals auch ihre Sexualität verloren. Dabei war sie doch kurz zuvor erst enttabuisiert worden. "Es gab plötzlich so viele schwule Männer, denen ihr bisheriges Leben als falsch gelebt erschien", sagt Dannecker. Auch er blieb nach dem Aidstod seines langjährigen Lebensgefährten 1991 allein, weil er, wie er meint, nicht in der Lage wäre, den Tod eines Partners ein zweites Mal durchzustehen.
Der schwule Alltag ging trotzdem weiter: "Es gab Safer Sex, manchmal auch unsafen Sex." Sex ohne Kondom, das war selbst für viele Schwule ein Tabubruch. Andere beharrten auf ihr Recht, bedingungslose Lust erleben zu dürfen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, lautet das Credo der Aids-Hilfen bis heute. Praunheim und Dannecker entzweiten sich darüber: Ersterer wollte die Promiskuität einstellen, Dannecker so viel Lust wie möglich retten. Die Verwerfungen innerhalb der Schwulenbewegung sind bis heute zu spüren.
"Aids geht uns alle an!", zu dieser Überzeugung war Rita Süssmuth früh gekommen. Nicht die Kranken, die Krankheit gelte es zu bekämpfen, das sei stets ihre Haltung gewesen. Und die Krankheit lässt sich inzwischen wirkungsvoll bekämpfen. Die "Aids-Krise" in der Bundesrepublik ist überwunden, HIV-Infizierte haben mittlerweile eine Lebenserwartung wie Nichtinfizierte. Es gibt kein Heilmittel, aber Therapie in Form einer Kapsel, die das Virus in Schach hält. Wer sie täglich einnimmt, ist nicht infektiös. Würde man alle Infizierten auf der Welt therapieren, gäbe niemand mehr das Virus weiter. Und die Epidemie fände rasch ihr Ende.
PETER-PHILIPP SCHMITT
Martin Reichert: "Die Kapsel". Aids in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 271 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Reichert über die deutsche Aids-Geschichte
Nicht "Glasnost" und "Perestrojka" waren 1987 die "Worte des Jahres", sie schafften es nur auf Platz zwei. Vorne landeten "Aids" und "Kondom", die nicht minder zusammenzugehören scheinen. 1987 war auch das Jahr, in dem Rita Süssmuth, die damalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, ein Buch herausgab mit dem Titel: "Aids - Wege aus der Angst". Fünf Jahre gab es damals Aids in der Bundesrepublik, eine Zeit, in der vor allem Angst geschürt worden war, auch vom "Spiegel": Das Nachrichtenmagazin zeigte 1983 auf dem Titel zwei nackte Männer und schrieb dazu: "Tödliche Seuche Aids".
Wer schwul war, galt als möglicher Virusträger. Zwangstesten und am besten gleich ganz wegsperren wollten darum nicht wenige Politiker alle männlichen Homosexuellen. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler forderte gar die "Absonderung" von Infizierten. So waren die achtziger und neunziger Jahre für mindestens eine Generation von Schwulen eine Zeit, die zu Traumatisierungen führte. "Ihre Erlebnisse haben die meisten von ihnen jedoch fest in einer Kapsel verschlossen, die sie mit sich herumtragen." Und das seit bald dreißig Jahren.
Martin Reichert, der seit 2004 für die "taz" arbeitet, hat einige aus dieser Generation gebeten, ihre Kapseln zu öffnen und Einblicke in ihre damalige und heutige Gefühlslage zu geben, den Verleger Bruno Gmünder zum Beispiel, den Schauspieler Wieland Speck und den Sexualforscher Martin Dannecker, aber auch Rita Süssmuth als beteiligte Beobachterin und wichtigste Akteurin auf Seiten der "Mehrheitsgesellschaft". Um deren Schutz sei es vor allem gegangen, die Seuche habe ja nur eine Randgruppe betroffen, so das bittere Fazit von Gmünder.
Auch Gmünder verlor seinen Lebensgefährten an Aids, nach einer zwanzigjährigen Beziehung. Stolz hatte Christian von Maltzahn sich 1978 mit 682 Männern im "Stern" mit der Aktion "Wir sind schwul" geoutet, seine HIV-Infektion indes verheimlichte er. Von Maltzahn starb 1997 an der Immunschwächekrankheit, zu einem Zeitpunkt, als es schon Hoffnung gab.
Martin Reichert bettet die Erinnerungen seiner Protagonisten in die Zeitkontexte ein. Sie reichen von der Befreiung der Schwulen in den Siebzigern - man denke nur an Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" - über Rock Hudsons Aidstod 1985 bis hin zum großen medizinischen Wendepunkt 1996. Auf der elften Welt-Aidskonferenz in Vancouver wurde die wissenschaftliche Sensation verkündet: Bei sechundzwanzig Patienten, die einen neuen "Medikamentencocktail" getestet hatten, war nach vier Monaten das Virus im Blut nicht mehr nachweisbar. Der Siegeszug der Kombinationstherapie begann. Die Lebenserwartung der HIV-Infizierten stieg mit ihr stetig an.
Reichert geht es aber in seinem Buch besonders um die "dunkle Zeit", als Schwule durch Aids nicht nur ihre Partner, ihre Freunde und ihr Leben, sondern oftmals auch ihre Sexualität verloren. Dabei war sie doch kurz zuvor erst enttabuisiert worden. "Es gab plötzlich so viele schwule Männer, denen ihr bisheriges Leben als falsch gelebt erschien", sagt Dannecker. Auch er blieb nach dem Aidstod seines langjährigen Lebensgefährten 1991 allein, weil er, wie er meint, nicht in der Lage wäre, den Tod eines Partners ein zweites Mal durchzustehen.
Der schwule Alltag ging trotzdem weiter: "Es gab Safer Sex, manchmal auch unsafen Sex." Sex ohne Kondom, das war selbst für viele Schwule ein Tabubruch. Andere beharrten auf ihr Recht, bedingungslose Lust erleben zu dürfen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, lautet das Credo der Aids-Hilfen bis heute. Praunheim und Dannecker entzweiten sich darüber: Ersterer wollte die Promiskuität einstellen, Dannecker so viel Lust wie möglich retten. Die Verwerfungen innerhalb der Schwulenbewegung sind bis heute zu spüren.
"Aids geht uns alle an!", zu dieser Überzeugung war Rita Süssmuth früh gekommen. Nicht die Kranken, die Krankheit gelte es zu bekämpfen, das sei stets ihre Haltung gewesen. Und die Krankheit lässt sich inzwischen wirkungsvoll bekämpfen. Die "Aids-Krise" in der Bundesrepublik ist überwunden, HIV-Infizierte haben mittlerweile eine Lebenserwartung wie Nichtinfizierte. Es gibt kein Heilmittel, aber Therapie in Form einer Kapsel, die das Virus in Schach hält. Wer sie täglich einnimmt, ist nicht infektiös. Würde man alle Infizierten auf der Welt therapieren, gäbe niemand mehr das Virus weiter. Und die Epidemie fände rasch ihr Ende.
PETER-PHILIPP SCHMITT
Martin Reichert: "Die Kapsel". Aids in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 271 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
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»Reichert legt mit Die Kapsel eine exzellent recherchierte, packende, dem Thema gemäß ernste, stellenweise aber eben auch humorvolle Geschichte des HI-Virus hierzulande vor.« Jan Kedves Süddeutsche Zeitung 20180717