Der erste Valois-Herzog in Burgund, Philipp der Kühne (1364-1404), stiftete mit der Kartause von Champmol bei Dijon die Grablege seiner Dynastie. Sie gehörte zu den wichtigsten Ensembles des späten Mittelalters. Mit dieser Stiftung und ihrer Ausstattung wurde das Bild bestimmt, das die Herzöge von Burgund von sich der Nachwelt überliefern wollten. Es war gezielte Erinnerungspolitik. In der französischen Revolution wurde die Grablege mitsamt der Ausstattung weitestgehend zerstört.
Im Zentrum des Buches stehen die Rekonstruktion und Interpretation sowie die kunsthistorische Einbettung in andere bedeutende Ensembles. Die Rekonstruktion beruht auf zeitgenössischen Quellen, die die Interpretation des politischen und künstlerischen Gesamtprogramms der Kartause gestatten. Sie sollte so starke Gegensätze wie das Askese-Ideal des Ordens, höfische Repräsentation und politische Ansprüche miteinander verbinden. Nacheinander werden Kirchenportal, Kirchenschiff mit Konversenchor und Mönchschor inkl. der herzoglichen Grabmäler, Altarraum mit vollständiger Ausstattung, sämtliche Kapellen sowie Sakristei und Kapitelsaal, die beiden Kreuzgänge mit dem sog. Mosesbrunnen, die im Kloster vorhandenen Gemälde und die architektonischen Vorbilder und Nachfolgebauten erörtert. Das Programm der jeweiligen Räume und die Untersuchung der Funktion der Ausstattungsstücke stehen dabei im Mittelpunkt. Ein Exkurs zum Zeremoniell der Trauerfeierlichkeiten bringt neue Erkenntnisse zum vielbeschworenen burgundischen Hofzeremoniell.
Die Autorin untersucht darüber hinaus die Vorbilder der Werke in Champmol, um sie in den Kontext ihrer Zeit einzuordnen und zugleich ihren innovativen Charakter herauszuarbeiten. Da einige dieser Werke in Champmol typenbildend wirkten, aber selber verloren sind, konnten sie anhand der erhaltenen Kopien durch Analogieschlüsse rekonstruiert werden. So entsteht ein Bild der burgundischen Skulptur im Zeitraum 1380-1470. Dabei fällt die Betonung flandrischer Vorbilder gegenüber französischen auf: Der Rückgriff auf gerade diese Vorbilder und die Berufung von Künstlern aus den nördlichen Territorien konnte die Einigung der Gebiete zwar nicht herstellen, aber darstellen. Was die erste Generation flandrischer Künstler um Marville und Beaumetz in Champmol schuf, wurde von der zweiten um Sluter, Baerze, Broederlam und Malouel zu einem nicht wieder erreichten Höhepunkt geführt. Das "Burgundische in der burgundischen Kunst" ist demnach von Nicht-Burgundern geschaffen worden. In Champmol konzentriert, schufen diese Künstler ein Ensemble, das stilbildend bis in die Epoche der Habsburger wirkte.
Die Quellen wie Handwerkerrechnungen, Stiftungsurkunden, Testamente usw. sind von der Autorin zum ersten Mal systematisch gesammelt und teilweise überhaupt erst entdeckt worden. Dabei konnten zahlreiche Irrtümer der Forschung korrigiert werden. Diese Quellenbasis erlaubt nicht nur die minutiöse Rekonstruktion der Anlage und ihrer Ausstattung, sondern gewährt auch Einblick in die Planungsabläufe und Einzelheiten der Ausführung. Die dem Haupttext beigefügten transkribierten Quellen stellen außerdem die Grundlage für weitere kunsthistorische und historische Forschungen dar, sei es zu Champmol selbst, sei es zu anderen Fragen wie z.B. Werkstattorganisation, Arbeitsteilung und -abläufe einer Großbaustelle des späten Mittelalters.
Im Zentrum des Buches stehen die Rekonstruktion und Interpretation sowie die kunsthistorische Einbettung in andere bedeutende Ensembles. Die Rekonstruktion beruht auf zeitgenössischen Quellen, die die Interpretation des politischen und künstlerischen Gesamtprogramms der Kartause gestatten. Sie sollte so starke Gegensätze wie das Askese-Ideal des Ordens, höfische Repräsentation und politische Ansprüche miteinander verbinden. Nacheinander werden Kirchenportal, Kirchenschiff mit Konversenchor und Mönchschor inkl. der herzoglichen Grabmäler, Altarraum mit vollständiger Ausstattung, sämtliche Kapellen sowie Sakristei und Kapitelsaal, die beiden Kreuzgänge mit dem sog. Mosesbrunnen, die im Kloster vorhandenen Gemälde und die architektonischen Vorbilder und Nachfolgebauten erörtert. Das Programm der jeweiligen Räume und die Untersuchung der Funktion der Ausstattungsstücke stehen dabei im Mittelpunkt. Ein Exkurs zum Zeremoniell der Trauerfeierlichkeiten bringt neue Erkenntnisse zum vielbeschworenen burgundischen Hofzeremoniell.
Die Autorin untersucht darüber hinaus die Vorbilder der Werke in Champmol, um sie in den Kontext ihrer Zeit einzuordnen und zugleich ihren innovativen Charakter herauszuarbeiten. Da einige dieser Werke in Champmol typenbildend wirkten, aber selber verloren sind, konnten sie anhand der erhaltenen Kopien durch Analogieschlüsse rekonstruiert werden. So entsteht ein Bild der burgundischen Skulptur im Zeitraum 1380-1470. Dabei fällt die Betonung flandrischer Vorbilder gegenüber französischen auf: Der Rückgriff auf gerade diese Vorbilder und die Berufung von Künstlern aus den nördlichen Territorien konnte die Einigung der Gebiete zwar nicht herstellen, aber darstellen. Was die erste Generation flandrischer Künstler um Marville und Beaumetz in Champmol schuf, wurde von der zweiten um Sluter, Baerze, Broederlam und Malouel zu einem nicht wieder erreichten Höhepunkt geführt. Das "Burgundische in der burgundischen Kunst" ist demnach von Nicht-Burgundern geschaffen worden. In Champmol konzentriert, schufen diese Künstler ein Ensemble, das stilbildend bis in die Epoche der Habsburger wirkte.
Die Quellen wie Handwerkerrechnungen, Stiftungsurkunden, Testamente usw. sind von der Autorin zum ersten Mal systematisch gesammelt und teilweise überhaupt erst entdeckt worden. Dabei konnten zahlreiche Irrtümer der Forschung korrigiert werden. Diese Quellenbasis erlaubt nicht nur die minutiöse Rekonstruktion der Anlage und ihrer Ausstattung, sondern gewährt auch Einblick in die Planungsabläufe und Einzelheiten der Ausführung. Die dem Haupttext beigefügten transkribierten Quellen stellen außerdem die Grundlage für weitere kunsthistorische und historische Forschungen dar, sei es zu Champmol selbst, sei es zu anderen Fragen wie z.B. Werkstattorganisation, Arbeitsteilung und -abläufe einer Großbaustelle des späten Mittelalters.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.03.2003Pomp ist nicht von Nutzen für die Seele
Renate Prochno untersucht die Kartause von Champmol, die Philipp der Kühne zu seiner Grabstätte bestimmte
Mit Herzog Philipp dem Kühnen (1364 bis 1404) begann der Aufstieg Burgunds zu einer sich zwischen der französischen Krone und dem Reich selbstständig behauptenden dynastischen Macht. Durch seine Heirat mit Margarete von Flandern erlangte Philipp die Herrschaft über die südlichen Niederlande und damit über die reichen flandrischen Städte. Das Verhältnis zwischen den flandrischen Grafen und den Handwerkern und Bürgern in den Städten war voll politischer Spannung, für die Kunstgeschichte aber ist es ungemein produktiv geworden.
In den Städten der südlichen Niederlande, in Lüttich und Huy, in Brügge, Gent und Ypern blühte das Handwerk der Maler, Bildhauer und Gießer wie nirgends sonst im nördlichen Europa. Schon seit der Zeit Philipps des Schönen (1285 bis 1314) zog das Königshaus in Paris Bildhauer aus den südlichen Niederlanden an, die hier als Hofkünstler verlockende Arbeitsbedingungen fanden. Philipps Brüder, König Karl V. und der Herzog von Berry, beschäftigten flandrische Künstler wie Bildhauer Jean de Beauneveu aus Valenciennes oder Buchmaler wie die berühmten Brüder Limburg. Die Aktivität der Künstler aus den flandrischen Städten an französischen Höfen war ein klassisches Beispiel für das Wechselspiel zwischen Markt und Kunst, Nachfrage und Angebot, Prestige und Luxus, wie man es bis heute in der Kunstszene beobachten kann.
In der Kartäuserkutte
Erst nachdem ihm 1384 Flandern als Erbteil seiner Frau zugefallen war, zog auch Philipp der Kühne niederländische Künstler an seinen Hof. Der Herzog herrschte nun über ein reiches, aber geographisch, sprachlich und kulturell zersplittertes Territorium. Er mühte sich um administrative und finanzielle Vereinheitlichung seiner Ländereien. Zu diesem Bestreben gehörte auch der kunstgeschichtlich immens folgenreiche Entschluss, eine zentrale dynastische Grablege zu stiften. Fürstliche Grablegen dienten der Festigung dynastischer Kontinuität. Der systematische Ausbau der Nekropole der französischen Könige in Saint Denis unter Ludwig dem Heiligen, der englischen unter Heinrich III. in Westminster sind berühmte Beispiele. Ihnen folgte Philipp mit der Stiftung der Kartause Champmol vor den Toren der herzoglichen Residenzstadt Dijon, die er 1386 zu seiner Grablege bestimmte. Die Totenfürsorge vertraute er den Kartäusern an, wurde selbst in einer Kartäuserkutte aufgebahrt und post mortem symbolisch in den Orden aufgenommen. Man kennt Parallelbeispiele: Die Visconti ließen sich in der Certosa die Pavia bestatten, die Kastilier in der Kartause Miraflores bei Burgos.
Die Kartause wurde schnell errichtet, ihre Ausstattung zog sich über den Tod des Herzogs im Jahr 1404 hin. Diese Ausstattung war nicht verschwenderisch, aber von höchster künstlerischer Vollendung. Der Herzog beschäftigte fast nur flandrische und niederländische Künstler. Die Bildhauer Jean de Marville, Claus Sluter und Claus de Werve schufen das Portal der schlichten holzüberwölbten Kirche mit der Patronin Maria, den knieenden Stiftern und ihren Patronen, das Grabmal des Herzogs mit den Trauernden, den Brunnen im großen Kreuzgang mit dem Kalvarienberg. Vom Bildschnitzer Jacques de Baerze stammten die Figürchen am Passions- und am Märtyrerretabel. Hinzu traten die Maler Jean de Beaumetz, Jean Malouel aus Geldern, Melchior Broederlam aus Ypern. So wurde Dijon für zwei Jahrzehnte ein Zentrum der niederländischen Malerei und Bildhauerkunst.
Seit mehr als hundert Jahren beschäftigt sich die Forschung mit den Werken, die uns aus der zerstörten Kartause von Champmol überkommen sind. Mit Recht hat sie sich auf die großen Künstler konzentriert, die hier tätig waren. Über Claus Sluter, den schon Louis Courajod um 1900 mit Donatello verglich, gibt es zahlreiche Monographien. Renate Prochno hat jetzt ein Buch über die Kartause von Champmol vorgelegt, das einen anderen Weg einschlägt. Sie hat über die herzogliche Stiftung geschrieben und die zerstreuten künstlerischen Reste aus der herzoglichen Grablege in deren ursprünglichen kirchlichen und dynastischen Zusammenhang gerückt. Dieser Ansatz entspricht einer Auffassung von Kunstgeschichte, die nicht mehr allein der Autonomie des Kunstwerks vertraut, sondern die institutionellen Bedingungen von dessen Entstehung mit in den Blick nimmt. Ein solcher Versuch könnte willkommener nicht sein.
So liest man hier die erste detaillierte Beschreibung der Gebäude der ehemaligen Kartause. Ebenso sind die Ausstattungsstücke, die noch vorhandenen wie die vielen verlorenen, inventarisiert. Mit Spannung verfolgt man das Kapitel über die Bestattungen, das riesige Aufgebot bei den Überführungen mit den ungezählten Totenmessen, den Trauergerüsten und Klagegewändern, den Armenspenden. Das alles wird auf Grund neuer Quellenlektüre ausgeführt. Besonders zu loben ist, dass auf mehr als 120 Seiten Transkriptionen der für die Kartause wichtigen Quellen abgedruckt sind. Das findet man in kunsthistorischen Büchern selten.
Warum wird man doch nicht recht froh? Die nützlichen Auskünfte sind additiv aneinander gereiht, ohne dass ein lebendiges Bild vom Ganzen entstünde. Störend sind die langatmigen Formbeschreibungen, die hier nicht zum Thema gehören. Sätze wie „Katharinas Gesichtszüge sind denen ihres Schützlings durch eine Tendenz zum Doppelkinn angeglichen” klingen nicht nur komisch, sie führen ab. Man hat den Eindruck, die Autorin fühle sich so in der Bringschuld einer konventionellen Kunstgeschichte von Vorgestern, dass sie der Mut zu ihrem originellen quellenkundlichen und stiftungsgeschichtlichen Ansatz verlasse.
Selbstbewusste Tote
Ein zweiter Einwand ist gravierender. Zutreffend wird betont, Ziel der Stiftung seien Memoria und Seelfürsorge gewesen. Dann aber wird wiederholt von der „Selbstdarstellung”, dem „Selbstverständnis” des Herzogs gesprochen, der sich mit Champmol „buchstäblich ein Denkmal” gesetzt habe. Ich weiß, solche Behauptungen sind in Mode, aber das macht sie nicht adäquater. Das Grab Philipps des Kühnen ist nicht der Colleoni von Verrocchio. Und herrscht in der Kartause wirklich ein Widerspruch zwischen dynastischer Repräsentation und den Gewohnheiten des Ordens? Die Kartäuser wurden gerufen, um am Grab des Herzogs, der im Tode symbolisch selbst ein Kartäuser geworden war, der Memoria zu dienen, indem sie für dessen Seelenheil beteten. Das ist nicht mehr der Ort oder die Stunde für die Superbia irdischer Selbstdarstellung. „Solempnité de grans obseques me semble une pomp mondaine depeu de prouffit a l’ame”: „Die Feierlichkeit großer Bestattungen erscheint mir als ein Pomp von wenig Nutzen für die Seele”, heißt es im Testament des Herzogs. Der Glanz der Kunstwerke darf uns nicht über deren jenseitigen Sinn täuschen. Wie in allen Fürstengrablegen, seien sie noch so prunkvoll, vernimmt man die Klänge eines Requiems.
WILLIBALD SAUERLÄNDER
RENATE PROCHNO: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge 1364–1477. Akademie Verlag, Berlin 2002. 470 S., 140 Abb., 99,80 Euro.
Philipp der Kühne. Französische Schule des 16. Jahrhunderts.
Foto: Alain Erlande-Brandenburg: L’art gotique.
Éditions d’Art Lucien Mazenod, Paris
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Renate Prochno untersucht die Kartause von Champmol, die Philipp der Kühne zu seiner Grabstätte bestimmte
Mit Herzog Philipp dem Kühnen (1364 bis 1404) begann der Aufstieg Burgunds zu einer sich zwischen der französischen Krone und dem Reich selbstständig behauptenden dynastischen Macht. Durch seine Heirat mit Margarete von Flandern erlangte Philipp die Herrschaft über die südlichen Niederlande und damit über die reichen flandrischen Städte. Das Verhältnis zwischen den flandrischen Grafen und den Handwerkern und Bürgern in den Städten war voll politischer Spannung, für die Kunstgeschichte aber ist es ungemein produktiv geworden.
In den Städten der südlichen Niederlande, in Lüttich und Huy, in Brügge, Gent und Ypern blühte das Handwerk der Maler, Bildhauer und Gießer wie nirgends sonst im nördlichen Europa. Schon seit der Zeit Philipps des Schönen (1285 bis 1314) zog das Königshaus in Paris Bildhauer aus den südlichen Niederlanden an, die hier als Hofkünstler verlockende Arbeitsbedingungen fanden. Philipps Brüder, König Karl V. und der Herzog von Berry, beschäftigten flandrische Künstler wie Bildhauer Jean de Beauneveu aus Valenciennes oder Buchmaler wie die berühmten Brüder Limburg. Die Aktivität der Künstler aus den flandrischen Städten an französischen Höfen war ein klassisches Beispiel für das Wechselspiel zwischen Markt und Kunst, Nachfrage und Angebot, Prestige und Luxus, wie man es bis heute in der Kunstszene beobachten kann.
In der Kartäuserkutte
Erst nachdem ihm 1384 Flandern als Erbteil seiner Frau zugefallen war, zog auch Philipp der Kühne niederländische Künstler an seinen Hof. Der Herzog herrschte nun über ein reiches, aber geographisch, sprachlich und kulturell zersplittertes Territorium. Er mühte sich um administrative und finanzielle Vereinheitlichung seiner Ländereien. Zu diesem Bestreben gehörte auch der kunstgeschichtlich immens folgenreiche Entschluss, eine zentrale dynastische Grablege zu stiften. Fürstliche Grablegen dienten der Festigung dynastischer Kontinuität. Der systematische Ausbau der Nekropole der französischen Könige in Saint Denis unter Ludwig dem Heiligen, der englischen unter Heinrich III. in Westminster sind berühmte Beispiele. Ihnen folgte Philipp mit der Stiftung der Kartause Champmol vor den Toren der herzoglichen Residenzstadt Dijon, die er 1386 zu seiner Grablege bestimmte. Die Totenfürsorge vertraute er den Kartäusern an, wurde selbst in einer Kartäuserkutte aufgebahrt und post mortem symbolisch in den Orden aufgenommen. Man kennt Parallelbeispiele: Die Visconti ließen sich in der Certosa die Pavia bestatten, die Kastilier in der Kartause Miraflores bei Burgos.
Die Kartause wurde schnell errichtet, ihre Ausstattung zog sich über den Tod des Herzogs im Jahr 1404 hin. Diese Ausstattung war nicht verschwenderisch, aber von höchster künstlerischer Vollendung. Der Herzog beschäftigte fast nur flandrische und niederländische Künstler. Die Bildhauer Jean de Marville, Claus Sluter und Claus de Werve schufen das Portal der schlichten holzüberwölbten Kirche mit der Patronin Maria, den knieenden Stiftern und ihren Patronen, das Grabmal des Herzogs mit den Trauernden, den Brunnen im großen Kreuzgang mit dem Kalvarienberg. Vom Bildschnitzer Jacques de Baerze stammten die Figürchen am Passions- und am Märtyrerretabel. Hinzu traten die Maler Jean de Beaumetz, Jean Malouel aus Geldern, Melchior Broederlam aus Ypern. So wurde Dijon für zwei Jahrzehnte ein Zentrum der niederländischen Malerei und Bildhauerkunst.
Seit mehr als hundert Jahren beschäftigt sich die Forschung mit den Werken, die uns aus der zerstörten Kartause von Champmol überkommen sind. Mit Recht hat sie sich auf die großen Künstler konzentriert, die hier tätig waren. Über Claus Sluter, den schon Louis Courajod um 1900 mit Donatello verglich, gibt es zahlreiche Monographien. Renate Prochno hat jetzt ein Buch über die Kartause von Champmol vorgelegt, das einen anderen Weg einschlägt. Sie hat über die herzogliche Stiftung geschrieben und die zerstreuten künstlerischen Reste aus der herzoglichen Grablege in deren ursprünglichen kirchlichen und dynastischen Zusammenhang gerückt. Dieser Ansatz entspricht einer Auffassung von Kunstgeschichte, die nicht mehr allein der Autonomie des Kunstwerks vertraut, sondern die institutionellen Bedingungen von dessen Entstehung mit in den Blick nimmt. Ein solcher Versuch könnte willkommener nicht sein.
So liest man hier die erste detaillierte Beschreibung der Gebäude der ehemaligen Kartause. Ebenso sind die Ausstattungsstücke, die noch vorhandenen wie die vielen verlorenen, inventarisiert. Mit Spannung verfolgt man das Kapitel über die Bestattungen, das riesige Aufgebot bei den Überführungen mit den ungezählten Totenmessen, den Trauergerüsten und Klagegewändern, den Armenspenden. Das alles wird auf Grund neuer Quellenlektüre ausgeführt. Besonders zu loben ist, dass auf mehr als 120 Seiten Transkriptionen der für die Kartause wichtigen Quellen abgedruckt sind. Das findet man in kunsthistorischen Büchern selten.
Warum wird man doch nicht recht froh? Die nützlichen Auskünfte sind additiv aneinander gereiht, ohne dass ein lebendiges Bild vom Ganzen entstünde. Störend sind die langatmigen Formbeschreibungen, die hier nicht zum Thema gehören. Sätze wie „Katharinas Gesichtszüge sind denen ihres Schützlings durch eine Tendenz zum Doppelkinn angeglichen” klingen nicht nur komisch, sie führen ab. Man hat den Eindruck, die Autorin fühle sich so in der Bringschuld einer konventionellen Kunstgeschichte von Vorgestern, dass sie der Mut zu ihrem originellen quellenkundlichen und stiftungsgeschichtlichen Ansatz verlasse.
Selbstbewusste Tote
Ein zweiter Einwand ist gravierender. Zutreffend wird betont, Ziel der Stiftung seien Memoria und Seelfürsorge gewesen. Dann aber wird wiederholt von der „Selbstdarstellung”, dem „Selbstverständnis” des Herzogs gesprochen, der sich mit Champmol „buchstäblich ein Denkmal” gesetzt habe. Ich weiß, solche Behauptungen sind in Mode, aber das macht sie nicht adäquater. Das Grab Philipps des Kühnen ist nicht der Colleoni von Verrocchio. Und herrscht in der Kartause wirklich ein Widerspruch zwischen dynastischer Repräsentation und den Gewohnheiten des Ordens? Die Kartäuser wurden gerufen, um am Grab des Herzogs, der im Tode symbolisch selbst ein Kartäuser geworden war, der Memoria zu dienen, indem sie für dessen Seelenheil beteten. Das ist nicht mehr der Ort oder die Stunde für die Superbia irdischer Selbstdarstellung. „Solempnité de grans obseques me semble une pomp mondaine depeu de prouffit a l’ame”: „Die Feierlichkeit großer Bestattungen erscheint mir als ein Pomp von wenig Nutzen für die Seele”, heißt es im Testament des Herzogs. Der Glanz der Kunstwerke darf uns nicht über deren jenseitigen Sinn täuschen. Wie in allen Fürstengrablegen, seien sie noch so prunkvoll, vernimmt man die Klänge eines Requiems.
WILLIBALD SAUERLÄNDER
RENATE PROCHNO: Die Kartause von Champmol. Grablege der burgundischen Herzöge 1364–1477. Akademie Verlag, Berlin 2002. 470 S., 140 Abb., 99,80 Euro.
Philipp der Kühne. Französische Schule des 16. Jahrhunderts.
Foto: Alain Erlande-Brandenburg: L’art gotique.
Éditions d’Art Lucien Mazenod, Paris
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit der Stiftung der Kartause von Champmol als zentrale dynastische Grabstätte machte Philipp der Kühne Dijon für zwei Jahrzehnte zu einem Zentrum der niederländischen Malerei und Bildhauerkunst, stellt der Rezensent Willibald Sauerländer dar. Der Rezensent freut sich zwar, dass es mit Renate Prochnos Werk neben den zahlreichen Monografien einzelner Künstler endlich eine Gesamtdarstellung der Kartause gibt, ist aber insgesamt doch etwas enttäuscht. Zur profunden Analyse tragen zwar laut Sauerländer der ausführliche Quellenteil, die vollständige Inventarisierung der Ausstattungsstücke und interessante historische Beschreibungen bei. Andererseits stoße die Autorin aber oft an ihre sprachlichen Grenzen. Ihre Formulierungen seien leblos, "langatmig" und teilweise sogar so linkisch, dass es fast schon komisch sei, kritisiert Sauerländer. Noch "gravierender" erscheint dem Rezensenten aber die Behauptung der Autorin, der Herzog habe sich mit Champmol "ein Denkmal gesetzt". Laut Sauerländer solle man sich vom "Glanz der Kunstwerke [...] nicht über deren jenseitigen Sinn täuschen" lassen. Eine Kritik, die, kombiniert mit dem Verweis, dass solche Thesen wohl "in Mode" seien, mehr wie ein Profilierungsversuch des Rezensenten als eine inhaltliche Auseinandersetzung wirkt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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