Fabrizio del Dongo, einem jungen, reichen und ein wenig leichtfertigen Adeligen, öffnen sich Türen und Herzen. Dennoch leidet er an seinem Unvermögen, das Leben zu meistern. Zwar kann er in der Verborgenheit einer verbotenen Liebe im Widerspruch zu seinem Amt als kirchlicher Würdenträger zeitweise das Glück genießen. Doch mit einer unbedachten Handlung macht er alles zunichte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2007Monsieur Tausend Volt
Hier kocht jeder sein Trieb- und Machtsüppchen: Stendhals "Kartause von Parma", neu und grandios übersetzt / Von Urs Widmer
Es gibt Leser, Paul Valéry zum Beispiel, die Stendhals "Kartause von Parma" für das hinreißendste Buch der Weltliteratur überhaupt halten, und ich neige zuweilen auch dieser Ansicht zu. Sie ist auf jeden Fall eines der Wunder, die sich auch im Schreibleben bedeutender Autoren - wenn überhaupt je - nur einmal ereignen. Ein Geschenk der Götter, und nachher weiß auch der Autor nicht genau, wie das eigentlich gegangen ist.
Stendhal, der Henri Beyle hieß und länger in Italien als in Frankreich lebte, hat die "Kartause von Parma" 1838 in weniger als zwei Monaten einem Sekretär diktiert, in einer Mischung aus höchster Konzentration und einer frei improvisierenden Lockerheit. An manchen Tagen schaffte er vierzig Seiten, und am Ende waren es (in der deutschen Übersetzung) sechshundertvierundfünfzig. Macht mehr als zwölf pro Tag - Druckseiten! -, auch an Sonn- und Feiertagen. Auch wenn er gewiss lange vorher im Kopf geschrieben hatte und auch vielfältige Notizen verwendete: Die Entstehung der "Kartause" war ein Rausch, bei dem Stendhal das Kunststück gelang, seine vor Hitze glühende Handlung in einer Sprache zu erzählen, die knapp, lakonisch, witzig und leicht ist. "Natürlich", so umschrieb Stendhal sein Sprachideal. Als stünde der Erzähler neben uns und erzählte uns, beiläufig und erregt, etwas, was wir nur glauben, weil er es erzählt. Aber wir glauben es, jedes Wort, und gern.
Die "Kartause von Parma" stellt an Vielfalt und Heftigkeit der Handlung so ziemlich jedes andere Buch in den Schatten. Gift und Dolch, jede Menge Morde, Intrigen, Willkür, Machtmissbrauch, Lügen, Attentate, kühne Bravourstücke und Heldentode: Auch unsere zeitgenössischen Thriller-Autoren kommen auf keine höhere Ereignis-Dichte. Allerdings ist ihr Ziel in der Regel ein anderes. Stendhal nämlich hat, was immer auch er seine Romanfiguren zu tun heißt, ein zentrales Thema, das er keinen Augenblick lang aus den Augen verliert: die Leidenschaft. Das, was die Triebe mit uns anrichten, mit jedem und jeder von uns.
In seiner ebenso reizvollen wie bizarren Abhandlung "De l'Amour" ("Über die Liebe"), sechzehn Jahre vor der "Kartause" geschrieben, hatte Stendhal dazu schon einmal die Theorie geliefert. Jetzt aber demonstriert er in einem reichinstrumentierten Freilandversuch mit lebenden Menschen, wie Leidenschaft zustande kommt und unter welchen Bedingungen sie am besten gedeiht. Sein Labor ist ein mit hohem Realismus erfundenes Italien, das uns die Jahre zwischen 1796 und 1830 nahelegt - für Stendhals Zeitgenossen die jüngste Vergangenheit -, uns aber oft an ein Renaissance-Italien denken lässt, in dem die Farnese oder Medici sich und anderen ganz tatsächlich die Köpfe abschlugen. Ja, die vielen ungemein präzisen Daten und Ortsangaben haben mit einer historischen und geographischen "Wahrheit" wenig zu tun.
Die "Kartause" als Ganzes - nicht etwa nur der oder jener besonders erhitzte Handlungsteil - ist leidenschaftlich, und das heißt: erotisch aufgeladen. Tausend Volt sind die normale Betriebsspannung der Protagonisten, und ihr aller Ziel ist durchaus, in allen denkbaren Varianten, das berühmte Eine. Die Erfüllung, die Hingabe, das Glück der Eroberung. Allerdings: Es gibt bei Stendhal keine "Stellen". Keine einzige. Es gibt aber auch keinen Weichzeichner der Kamera im entscheidenden Augenblick. Man weiß, woran man ist. Um nochmals Paul Valéry zu zitieren: "Im übrigen ist er" - Stendhal also - "fast der einzige Schriftsteller, dessen Liebesszenen ich ertragen kann." Ich auch. Vor Erotik vibrierende Sätze zu schreiben und Distanz zu wahren, das beherrschte Stendhal wie kein Zweiter.
Versuchsanordnung, sagte ich. Männer und Frauen, Alte und Junge, Mächtige und Schwache, Aufgeklärte und verstockte Perückenträger: Alle verhalten sich zueinander, und alle werden, innerhalb der grotesk-rigiden Spielregeln eines absolutistisch regierten Fürstentums, von ihren Trieben gesteuert. Der Bauch - um das, was ich meine, einmal so zu nennen - ist am Ende immer stärker als der Kopf. Das Testprogramm, dem Stendhal seine Protagonisten aussetzt, ist systematisch und konsequent und so erfindungsprall, dass ich mehr oder minder die ganzen 654 Seiten bräuchte, um es nachzuzeichnen. Ich lasse es also. Es treten auf: Fabrizio del Dongo (jung; aus höchstem Adel; ein glühender Anhänger Napoleons und der neuen Ideen; mausarm; und überzeugt, er sei unfähig zu lieben). Clelia (jung; schön; keusch; fromm). Die Herzogin Sanseverina (Fabrizios mütterliche Freundin, deren Gefühle zunehmend mehr als mütterlich werden; sehr schön; sehr gewitzt). Graf Mosca (mächtiger Minister eines Herrschers, der ohne ihn nicht zurechtkäme; hat, seiner Stellung zum Trotz, hie und da liberale Anfälle; noch gewitzter als die Sanseverina, der er leidenschaftlich zugetan ist). Fürst Ernesto IV. (ein paranoides Monster mit absoluter Macht; liebt die Sanseverina so, wie Monster eben lieben). Und viele andere. Jeder kocht sein Trieb- und Machtsüppchen.
Am Anfang lässt sich Stendhal durchaus noch Zeit. Die ganze Schlacht von Waterloo findet zum Beispiel Platz, genauer gesagt, das, was der kindjunge Fabrizio von ihr mitkriegt - ein Meisterwerk, das Balzac veranlasste, einen eigenen Roman, der ein Ähnliches wollte, wegzuwerfen, und Tolstoi zu dem Geständnis brachte, er hätte ohne die "Kartause" sein "Krieg und Frieden" nie schreiben können. Dann zieht Stendhal das Tempo an. Das vielfältige Hin und Her wird immer aufregender und kulminiert endlich in einer Szene, auf die Stendhal - der beteuerte, während der Arbeit nie gewusst zu haben, wie die Geschichte denn nun weitergehen sollte - in Tat und Wahrheit von allem Anfang an zielsicher zugesteuert hat. Sie ist hochdramatisch und stellt gleichzeitig das Ergebnis des Versuchs dar.
Dieses ließe sich, wenn wir Handlung in Begriffe übersetzen, so formulieren: Leidenschaft glüht dann am heißesten, wenn die Verbote absolut und die Hindernisse unüberwindbar sind. Kerkermauern, Gelübde, Klassenschranken, der unmittelbar drohende Tod. Wenn dann diese Hindernisse doch beiseitegeschoben werden und die Verbote umgangen werden können: Dann allerdings, und nur dann, bricht sich die Leidenschaft ihre Bahn. Und wie sie das tut! Stendhals berühmte Seite 577 (in dieser Ausgabe) kommt den 451 Grad Fahrenheit, bei denen Papier brennt, sehr nahe. In Verdis Oper ("La Certosa di Parma", opera in tre atti, 1854) wäre sie gewiss der Schluss. Eine Musik von glühender Leidenschaft.
Die Szene ist ein Verlies im Turm der Zitadelle von Parma. Clelia (Sopran) stürzt in höchster Erregung in den Kerker, in dem Fabrizio (Tenor) gefangen ist. Sie liebt diesen, und dieser liebt sie, und beide haben in ihrem Leben keine drei Worte miteinander gewechselt. Sie hatte zwar der heiligen Jungfrau Maria gelobt, Fabrizio nie mehr zu sehen, nie mehr!, hat nun aber, weil sein Leben in Gefahr ist, mit der Gewissheit einer Jeanne d'Arc alle Sperren überwunden, die Schlösser eins nach dem andern aufgebrochen und die Wächter verhext. Sie ist die Treppen hinaufgeflogen schneller als ein Wind. "Gift, Geliebter!" - Da steht sie, atemlos, zitternd, unfassbar schön. Fabrizio begreift. "Ich sterbe!", singt er, obwohl er keinen Bissen von dem Pasta-Arsen-Gemisch gegessen hat, das auf seinem Tisch steht. Ein dirty trick fürwahr, und dies im sublimsten Augenblick seines Lebens. Aber er funktioniert. Clelia - Gelübde hin, Keuschheit her - sinkt in seine Arme, und "es" geschieht. "Ich sterbe mit dir!" Und während "es" andauert und die Musik jubelt, stürmen die Wachsoldaten, die aus ihrer Verzauberung erwacht sind, die Treppen hinauf. Ihr Poltern kommt immer näher. Fabrizio und Clelia singen inzwischen morendo. Die Tür knallt auf. Es ist das äußerste Glück. Vorhang.
Das Buch allerdings hört hier nicht auf. Es folgt der rasanteste Schluss der Weltliteratur. Man hat oft gesagt, der Verleger, Ambroise Dupont, habe Stendhal zu diesem Schreibgalopp gezwungen, weil er das Ganze in zwei Bände hineinkriegen wollte. Ich glaube das nicht, das heißt, der Druck des Verlegers kam dem inneren Gesetz der Handlung und damit Stendhal entgegen. Das unübersehbare Ungleichgewicht der Romankonstruktion ist gar keines. Alles ist stimmig. Nach der Seite 577 war eben, salopp gesagt, die Luft raus, und Stendhal räumte also in einem atemberaubenden Tempo mit seinem gesamten Personal auf. Am Ende sind alle tot, fast alle: "Die Gefängnisse von Parma waren leer, der Graf ungeheuer reich, Ernesto V. beliebt" - er ist der Sohn des Monsters -, "und seine Untertanen verglichen seine Herrschaft mit jener der Großherzöge der Toscana." Das Leben tut das, was es immer tut. Es geht weiter.
Anlass zu diesen Überlegungen gibt mir die neue Übersetzung der "Kartause" von Elisabeth Edl. Sie ist die erste seit 1958. Ich hatte mir fest vorgenommen, kein Wort zu ihr zu sagen, wenn ich sie nicht sehr gut finde. Der Grund dieser Zurückhaltung ist, dass die bisherige Referenz-Übersetzung, die nun diesen Rang verliert, just von meinem Vater stammt, Walter Widmer. Es ist in der Tat faszinierend und lehrreich zu sehen, wie eine Übersetzung, die einmal die Leser und Leserinnen durchaus entzückt hat, alt werden kann. Denn Elisabeth Edl tut eigentlich nichts anderes, als Stendhal unvoreingenommen und genau zu lesen. Sie hat ein wunderbar sicheres Gespür für seine Lakonie und gerät nie in Versuchung - wie dies meinem Vater immer wieder geschah -, Stendhal sozusagen nach oben zu schreiben. Ihn "besser" zu machen, "schöner", oder scheinbar unvollständige Satztrümmer stillschweigend zu ergänzen. Und warum eigentlich hat keine der bisher sieben Übersetzungen Stendhals Lauftitel mit übersetzt? Elisabeth Edl tut es. - Im Anhang ein kluges Nachwort und ein reicher Apparat: sorgfältige Anmerkungen und alle erdenklichen Materialien von Stendhals Quellen bis hin zu Balzacs fünfzigseitigem Essay, in dem dieser Stendhal ein "Genie" nannte und trotzdem fassungslos vor der Stoffdichte des Buches stand. Er hätte aus demselben Material zehn Bücher gemacht.
Stendhal: "Die Kartause von Parma". Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2007. 998 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier kocht jeder sein Trieb- und Machtsüppchen: Stendhals "Kartause von Parma", neu und grandios übersetzt / Von Urs Widmer
Es gibt Leser, Paul Valéry zum Beispiel, die Stendhals "Kartause von Parma" für das hinreißendste Buch der Weltliteratur überhaupt halten, und ich neige zuweilen auch dieser Ansicht zu. Sie ist auf jeden Fall eines der Wunder, die sich auch im Schreibleben bedeutender Autoren - wenn überhaupt je - nur einmal ereignen. Ein Geschenk der Götter, und nachher weiß auch der Autor nicht genau, wie das eigentlich gegangen ist.
Stendhal, der Henri Beyle hieß und länger in Italien als in Frankreich lebte, hat die "Kartause von Parma" 1838 in weniger als zwei Monaten einem Sekretär diktiert, in einer Mischung aus höchster Konzentration und einer frei improvisierenden Lockerheit. An manchen Tagen schaffte er vierzig Seiten, und am Ende waren es (in der deutschen Übersetzung) sechshundertvierundfünfzig. Macht mehr als zwölf pro Tag - Druckseiten! -, auch an Sonn- und Feiertagen. Auch wenn er gewiss lange vorher im Kopf geschrieben hatte und auch vielfältige Notizen verwendete: Die Entstehung der "Kartause" war ein Rausch, bei dem Stendhal das Kunststück gelang, seine vor Hitze glühende Handlung in einer Sprache zu erzählen, die knapp, lakonisch, witzig und leicht ist. "Natürlich", so umschrieb Stendhal sein Sprachideal. Als stünde der Erzähler neben uns und erzählte uns, beiläufig und erregt, etwas, was wir nur glauben, weil er es erzählt. Aber wir glauben es, jedes Wort, und gern.
Die "Kartause von Parma" stellt an Vielfalt und Heftigkeit der Handlung so ziemlich jedes andere Buch in den Schatten. Gift und Dolch, jede Menge Morde, Intrigen, Willkür, Machtmissbrauch, Lügen, Attentate, kühne Bravourstücke und Heldentode: Auch unsere zeitgenössischen Thriller-Autoren kommen auf keine höhere Ereignis-Dichte. Allerdings ist ihr Ziel in der Regel ein anderes. Stendhal nämlich hat, was immer auch er seine Romanfiguren zu tun heißt, ein zentrales Thema, das er keinen Augenblick lang aus den Augen verliert: die Leidenschaft. Das, was die Triebe mit uns anrichten, mit jedem und jeder von uns.
In seiner ebenso reizvollen wie bizarren Abhandlung "De l'Amour" ("Über die Liebe"), sechzehn Jahre vor der "Kartause" geschrieben, hatte Stendhal dazu schon einmal die Theorie geliefert. Jetzt aber demonstriert er in einem reichinstrumentierten Freilandversuch mit lebenden Menschen, wie Leidenschaft zustande kommt und unter welchen Bedingungen sie am besten gedeiht. Sein Labor ist ein mit hohem Realismus erfundenes Italien, das uns die Jahre zwischen 1796 und 1830 nahelegt - für Stendhals Zeitgenossen die jüngste Vergangenheit -, uns aber oft an ein Renaissance-Italien denken lässt, in dem die Farnese oder Medici sich und anderen ganz tatsächlich die Köpfe abschlugen. Ja, die vielen ungemein präzisen Daten und Ortsangaben haben mit einer historischen und geographischen "Wahrheit" wenig zu tun.
Die "Kartause" als Ganzes - nicht etwa nur der oder jener besonders erhitzte Handlungsteil - ist leidenschaftlich, und das heißt: erotisch aufgeladen. Tausend Volt sind die normale Betriebsspannung der Protagonisten, und ihr aller Ziel ist durchaus, in allen denkbaren Varianten, das berühmte Eine. Die Erfüllung, die Hingabe, das Glück der Eroberung. Allerdings: Es gibt bei Stendhal keine "Stellen". Keine einzige. Es gibt aber auch keinen Weichzeichner der Kamera im entscheidenden Augenblick. Man weiß, woran man ist. Um nochmals Paul Valéry zu zitieren: "Im übrigen ist er" - Stendhal also - "fast der einzige Schriftsteller, dessen Liebesszenen ich ertragen kann." Ich auch. Vor Erotik vibrierende Sätze zu schreiben und Distanz zu wahren, das beherrschte Stendhal wie kein Zweiter.
Versuchsanordnung, sagte ich. Männer und Frauen, Alte und Junge, Mächtige und Schwache, Aufgeklärte und verstockte Perückenträger: Alle verhalten sich zueinander, und alle werden, innerhalb der grotesk-rigiden Spielregeln eines absolutistisch regierten Fürstentums, von ihren Trieben gesteuert. Der Bauch - um das, was ich meine, einmal so zu nennen - ist am Ende immer stärker als der Kopf. Das Testprogramm, dem Stendhal seine Protagonisten aussetzt, ist systematisch und konsequent und so erfindungsprall, dass ich mehr oder minder die ganzen 654 Seiten bräuchte, um es nachzuzeichnen. Ich lasse es also. Es treten auf: Fabrizio del Dongo (jung; aus höchstem Adel; ein glühender Anhänger Napoleons und der neuen Ideen; mausarm; und überzeugt, er sei unfähig zu lieben). Clelia (jung; schön; keusch; fromm). Die Herzogin Sanseverina (Fabrizios mütterliche Freundin, deren Gefühle zunehmend mehr als mütterlich werden; sehr schön; sehr gewitzt). Graf Mosca (mächtiger Minister eines Herrschers, der ohne ihn nicht zurechtkäme; hat, seiner Stellung zum Trotz, hie und da liberale Anfälle; noch gewitzter als die Sanseverina, der er leidenschaftlich zugetan ist). Fürst Ernesto IV. (ein paranoides Monster mit absoluter Macht; liebt die Sanseverina so, wie Monster eben lieben). Und viele andere. Jeder kocht sein Trieb- und Machtsüppchen.
Am Anfang lässt sich Stendhal durchaus noch Zeit. Die ganze Schlacht von Waterloo findet zum Beispiel Platz, genauer gesagt, das, was der kindjunge Fabrizio von ihr mitkriegt - ein Meisterwerk, das Balzac veranlasste, einen eigenen Roman, der ein Ähnliches wollte, wegzuwerfen, und Tolstoi zu dem Geständnis brachte, er hätte ohne die "Kartause" sein "Krieg und Frieden" nie schreiben können. Dann zieht Stendhal das Tempo an. Das vielfältige Hin und Her wird immer aufregender und kulminiert endlich in einer Szene, auf die Stendhal - der beteuerte, während der Arbeit nie gewusst zu haben, wie die Geschichte denn nun weitergehen sollte - in Tat und Wahrheit von allem Anfang an zielsicher zugesteuert hat. Sie ist hochdramatisch und stellt gleichzeitig das Ergebnis des Versuchs dar.
Dieses ließe sich, wenn wir Handlung in Begriffe übersetzen, so formulieren: Leidenschaft glüht dann am heißesten, wenn die Verbote absolut und die Hindernisse unüberwindbar sind. Kerkermauern, Gelübde, Klassenschranken, der unmittelbar drohende Tod. Wenn dann diese Hindernisse doch beiseitegeschoben werden und die Verbote umgangen werden können: Dann allerdings, und nur dann, bricht sich die Leidenschaft ihre Bahn. Und wie sie das tut! Stendhals berühmte Seite 577 (in dieser Ausgabe) kommt den 451 Grad Fahrenheit, bei denen Papier brennt, sehr nahe. In Verdis Oper ("La Certosa di Parma", opera in tre atti, 1854) wäre sie gewiss der Schluss. Eine Musik von glühender Leidenschaft.
Die Szene ist ein Verlies im Turm der Zitadelle von Parma. Clelia (Sopran) stürzt in höchster Erregung in den Kerker, in dem Fabrizio (Tenor) gefangen ist. Sie liebt diesen, und dieser liebt sie, und beide haben in ihrem Leben keine drei Worte miteinander gewechselt. Sie hatte zwar der heiligen Jungfrau Maria gelobt, Fabrizio nie mehr zu sehen, nie mehr!, hat nun aber, weil sein Leben in Gefahr ist, mit der Gewissheit einer Jeanne d'Arc alle Sperren überwunden, die Schlösser eins nach dem andern aufgebrochen und die Wächter verhext. Sie ist die Treppen hinaufgeflogen schneller als ein Wind. "Gift, Geliebter!" - Da steht sie, atemlos, zitternd, unfassbar schön. Fabrizio begreift. "Ich sterbe!", singt er, obwohl er keinen Bissen von dem Pasta-Arsen-Gemisch gegessen hat, das auf seinem Tisch steht. Ein dirty trick fürwahr, und dies im sublimsten Augenblick seines Lebens. Aber er funktioniert. Clelia - Gelübde hin, Keuschheit her - sinkt in seine Arme, und "es" geschieht. "Ich sterbe mit dir!" Und während "es" andauert und die Musik jubelt, stürmen die Wachsoldaten, die aus ihrer Verzauberung erwacht sind, die Treppen hinauf. Ihr Poltern kommt immer näher. Fabrizio und Clelia singen inzwischen morendo. Die Tür knallt auf. Es ist das äußerste Glück. Vorhang.
Das Buch allerdings hört hier nicht auf. Es folgt der rasanteste Schluss der Weltliteratur. Man hat oft gesagt, der Verleger, Ambroise Dupont, habe Stendhal zu diesem Schreibgalopp gezwungen, weil er das Ganze in zwei Bände hineinkriegen wollte. Ich glaube das nicht, das heißt, der Druck des Verlegers kam dem inneren Gesetz der Handlung und damit Stendhal entgegen. Das unübersehbare Ungleichgewicht der Romankonstruktion ist gar keines. Alles ist stimmig. Nach der Seite 577 war eben, salopp gesagt, die Luft raus, und Stendhal räumte also in einem atemberaubenden Tempo mit seinem gesamten Personal auf. Am Ende sind alle tot, fast alle: "Die Gefängnisse von Parma waren leer, der Graf ungeheuer reich, Ernesto V. beliebt" - er ist der Sohn des Monsters -, "und seine Untertanen verglichen seine Herrschaft mit jener der Großherzöge der Toscana." Das Leben tut das, was es immer tut. Es geht weiter.
Anlass zu diesen Überlegungen gibt mir die neue Übersetzung der "Kartause" von Elisabeth Edl. Sie ist die erste seit 1958. Ich hatte mir fest vorgenommen, kein Wort zu ihr zu sagen, wenn ich sie nicht sehr gut finde. Der Grund dieser Zurückhaltung ist, dass die bisherige Referenz-Übersetzung, die nun diesen Rang verliert, just von meinem Vater stammt, Walter Widmer. Es ist in der Tat faszinierend und lehrreich zu sehen, wie eine Übersetzung, die einmal die Leser und Leserinnen durchaus entzückt hat, alt werden kann. Denn Elisabeth Edl tut eigentlich nichts anderes, als Stendhal unvoreingenommen und genau zu lesen. Sie hat ein wunderbar sicheres Gespür für seine Lakonie und gerät nie in Versuchung - wie dies meinem Vater immer wieder geschah -, Stendhal sozusagen nach oben zu schreiben. Ihn "besser" zu machen, "schöner", oder scheinbar unvollständige Satztrümmer stillschweigend zu ergänzen. Und warum eigentlich hat keine der bisher sieben Übersetzungen Stendhals Lauftitel mit übersetzt? Elisabeth Edl tut es. - Im Anhang ein kluges Nachwort und ein reicher Apparat: sorgfältige Anmerkungen und alle erdenklichen Materialien von Stendhals Quellen bis hin zu Balzacs fünfzigseitigem Essay, in dem dieser Stendhal ein "Genie" nannte und trotzdem fassungslos vor der Stoffdichte des Buches stand. Er hätte aus demselben Material zehn Bücher gemacht.
Stendhal: "Die Kartause von Parma". Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2007. 998 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2007In 53 Tagen runtergeschrieben – und danach ist es denn auch
Die vorzügliche Neuübersetzung von Stendhals eigentlich ziemlich kolportagehaftem Roman „Die Kartause von Parma”
Nur Gutes lässt sich über die neue Ausgabe von Stendhals berühmtem Roman „Die Kartause von Parma” sagen. An die vorzügliche Übersetzung schließen sich ein kluges Nachwort, ein reicher Kommentar, Balzacs Rezension und Fragmente von Stendhals Neufassung des Werks an. 350 Seiten, mehr als ein Drittel des Bandes, nimmt dieser Anhang ein, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und sich dennoch vergnüglich liest. Er bindet die poetische Phantasie an die geschichtliche Realität der napoleonischen Kriege, der Restauration in Italien, der nicht mehr ganz legitimen, vom Umsturz bedrohten Monarchien und an das Leben des französischen Konsuls Henri Beyle, der sich als Autor nach Winckelmanns Geburtsort „Stendhal” nannte. Wer von den historischen und literarischen Anmerkungen zur Lektüre des Romans zurückkehrt, dem hat sich der Sinn geschärft für den Unterschied von Dichtung und Leben auch an solchen Stellen, wo sie sich berühren.
Die hilfreichen Zutaten sind ebenso das Verdienst Elisabeth Edls wie die Übersetzung, die sich bei jedem Vergleich mit älteren Versuchen als überlegen erweist. Sie gibt den mündlichen Duktus von Stendhals Sätzen, ihr schlichtes Vokabular so wieder, dass sie geläufig klingen und trotzdem den Sprachstand des Deutschen im frühen 19. Jahrhundert nicht überschreiten, damit er dem Französisch des 1839 entstandenen Romans entspricht. Den einfachen, ja sorglosen Satz „il y avait des moments bien doux, et l'on parlait de Fabrice” gaben frühere Übersetzer im Ton deutscher Gemütlichkeit wieder: „Da fand sich manch trauliche Stunde, in der viel von Fabrizio die Rede war”; Edl übersetzt, leicht untertreibend, schnörkellos: „Es gab angenehme Stunden und man sprach von Fabrizio.”
„Die Kartause von Parma” hat bedeutende Bewunderer gefunden, von Balzac bis Proust, Valéry und Julien Gracq. Tolstoi gab gerne zu, dass er das Kapitel über die Schlacht bei Waterloo – in der Tat das beste des Romans – sich zum Vorbild für die Darstellungsweise von „Krieg und Frieden” nahm. Das militärische Geschehen werde von Stendhal nicht aus der privilegierten Sicht der Feldherrn geordnet; es werde vielmehr aus dem begrenzten Blickwinkel eines Soldaten als Chaos erfahren, als Schmutz, Sinnlosigkeit und massenhaftes Sterben. Stendhals verwirrter Held, Fabrizio, muss sich erst hinterher sagen lassen, dass er ein welthistorisches Ereignis erlebt und überlebt habe.
Am Ende der „Kartause von Parma” steht die Widmung: „To the happy few.” Sie hat viel für den Erfolg des Romans getan, denn wer möchte nicht zu ihnen gehören? Mittlerweile fühlen sich Generationen von Lesern mit diesem Roman glücklich, sodass aus den „few” viele geworden sind. Nur wenige, etwa Nabokov und Claude Simon, bekundeten ihr Missfallen an Stendhals Schriften, vor allem aber an der „Kartause von Parma”. Zu diesen „unhappy few” gehört der Rezensent. Er scheut nicht die Donquichotterie, ein klassisches Werk rezensieren zu wollen, als handelte es sich um eine Neuerscheinung.
Die zahlreichen „happy few” der „Stendhaliens” verehren ihren Meister nicht allein seiner Werke wegen; sie bewundern sein Leben; manche reisen auf seinen Spuren. Dieses Leben ist ganz nach dem modernen Geschmack. Im Gefolge von Napoleons Heer durchquerte Henri Beyle mehrmals Europa; er war auch sonst fast immer auf Reisen, machte Italien zu seiner eigentlichen Heimat, erledigte nebenbei und mit großzügig gewährten Unterbrechungen seine Pflichten als französischer Beamter in Mailand, Triest oder Civitavecchia, besuchte fast jeden Abend die Oper, verkehrte mit italienischen Grafen, liebte die dazugehörigen Gräfinnen, schrieb unablässig und ernannte sich als Autor selbst zum Baron de Stendhal. Solch ein bewegtes Leben in großer Zeit in einem schönen Land hört sich wie ein Roman an. Bereits die Wörter „Italien” und „Liebe” lösen „moments bien doux” des imaginativen Wohlbehagens aus.
Kein anderer Roman Stendhals hat so viel aus diesem Leben übernommen wie die „Kartause von Parma”: die Schauplätze zwischen Comer See, Mailand und Parma (das allerdings gar keine Kartause besitzt); die Zeitspanne von der Revolution, als die französischen Truppen eine oberitalienische Republik errichteten, bis zur Restauration, als unter österreichischem Patronat die entthronten Monarchien noch einmal zu einem Scheinleben erwachten; die abwechselnd müßiggängerische und ehrgeizige Gesellschaft der Herzöge, Marchesi und Contessen; vor allem aber ungestüme, im Roman mit Mord und Totschlag angereicherte Liebesaffären.
Liebhaber aller schönen Frauen
Doch der Versuch, die „Kartause von Parma” als realistischen Zeitroman zu lesen, führt nicht weit. Sein Held, Fabrizio del Dongo, tritt zwar zu Beginn als glühender Verehrer und Mitstreiter Napoleons auf, wie es tatsächlich viele Jünglinge, auch unter italienischen Aristokraten, um 1800 waren. Aber im Fortschreiten und Forteilen der Handlung wird aus ihm eine Renaissancefigur, die sich Stendhal aus Chroniken und Novellen des 16. Jahrhunderts zusammengelesen hat: Aus dem Sohn eines Marchese, aus dem Anhänger Napoleons wird im mehrfachen Wechsel ein Gefängnisinsasse, ein Exilant, ein Liebhaber und Geliebter aller schönen Frauen (und er trifft nur auf schöne Frauen, seien es Herzoginnen, Gräfinnen, Schauspielerinnen, Wirtinnen oder Zimmervermieterinnen), ein geistlicher Würdenträger, ein Mörder, ein politischer Intrigant. Fabrizio und seine Mit- oder Gegenspieler ähneln mehr den legendären Gestalten aus den Familien Borgia und Farnese als Bürgern des 19. Jahrhunderts. Stendhals Roman spielt nicht im Parma der Restauration; er spielt im unbegrenzten Reich des historischen Gerüchts und der abenteuerlichen Phantasie.
Stendhals Reisebericht „Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817” vermerkt vom Leben des Autors in Italien fast nichts außer dem täglichen Besuch in der Oper. Vielleicht hat Stendhal zu viele von ihnen gesehen und sich den Weltlauf nach Art eines Librettos zurechtgelegt. In Opern lösen sich in schneller Folge Liebesschwüre und Mordpläne, extreme Freuden und extreme Leiden ab, ohne dass der Librettist (und mit ihm der Zuschauer) lange nach Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Psychologie fragt. Die Oper hat es auf andere Effekte abgesehen als auf eine nuancenreiche sprachliche Darstellung, da diese ja doch vom Orchester übertönt und von den Sängern überspielt würde. In einem Roman von tausend Seiten jedoch ermüden die opernhaften Standardsituationen, die sich immer wieder zwischen jugendlichem Liebhaber, edler Dame, aufblühendem Mädchen, sanfter Mutter, bösem Vater, noch böserem Bruder, intrigantem Minister, herrschsüchtigem Fürsten ergeben. Nicht die Musik, aber das Gepolter dieser Bühnenchargen hört man hinter dem Vorhang von Stendhals sogenannter „Erzählkunst”.
Als hätte der Maskenbildner alle individuellen Züge der Aktricen und Akteure überschminkt, so treten Stendhals Heldinnen und Helden im Glanz schematischer Schönheit auf. Einem Opernbesucher mag Taminos Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön” genügen, um von der idealen Gestalt Paminas überzeugt zu sein; ein Romanleser möchte detaillierter über Aussehen und Charakter von Frauen unterrichtet werden. Doch in Stendhals opernhaftem Roman fallen alle Frauen unter die Kategorie „hübsch und bezaubernd”, aber auch ihr Bewunderer und Liebhaber, Fabrizio, fällt darunter. Die „schönen Augen” dieser Frauen „flammen auf” oder „füllen sich mit Tränen”, ihre Stimme ist „zutiefst bewegt” – prompt stellen sich die fertigen Formeln für jene tiefe Leidenschaft ein, in der sich Stendhals Figuren unablässig voreinander und vor sich selbst zeigen.
Einzelheiten des inneren und äußeren Lebens erspart sich und seinen Lesern der Autor, der stolz darauf war, das umfangreiche Werk in 53 Tagen geschrieben zu haben. Hat Fabrizio am Lago Maggiore zu tun, so warten schon die Adjektive „majestätisch”, „friedlich” und „herrlich” auf ihn; zwei Seiten später ist er am Comer See, wo er ebenso wenig der „erhabenen Schönheit” entgeht. Um den Nachweis von Leidenschaftlichkeit zu erbringen, der allein Zutritt zu Stendhals Pantheon kühner Menschen gewährt, müssen sie sich in Handlungen verausgaben, die als Ausdruck von Leidenschaft gelten: vor Verfolgern fliehen, den Säbel ziehen, dem Nebenbuhler nachstellen, Pferde müdehetzen, Heiratsanträge stellen, Liebesnächte arrangieren.
Eine starke Dosis von Tollheiten
Unter dem Kostüm eines Zeitromans zeichnen sich die Klischees des Abenteuerromans ab, der von der Spätantike, von Heliodors „Abenteuern der schönen Chariklea”, bis ins frühe 18. Jahrhundert den Tagtraum von großen Helden, großer Liebe, großer Gefahr, großen Kämpfen erzeugte. So geschwind wechseln die Situationen und Aktionen in Stendhals Roman, dass man darin das Tempo zu spüren glaubt, mit dem sein größter Held, Napoleon, Europa durcheilte und überrannte. Doch resultiert der Katarakt der Romanereignisse aus der Verlegenheit des Erzählers, den an eine immer stärkere Dosis von Tollheiten gewöhnten Leser nicht zu enttäuschen.
Nachdem Richardson, Rousseau und Goethe den Roman der Besinnung, der Besonnenheit und der Seelenkunde entdeckt hatten, blieb nur noch der triviale und juvenile Geschmack dem Abenteuerroman treu. Karl May wird diesem Geschmack entgegenkommen. „Die Kartause von Parma” versucht noch einmal, die Lust an Abenteuern für die anspruchsvolle Literatur zu retten, indem dieser Roman das Kind im Manne anspricht. Gelungen ist es ihm bei den „happy few”.HEINZ SCHLAFFER
STENDHAL: Die Kartause von Parma. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2007. 998 Seiten, 34,90 Euro.
Andrea Occhipinti als Fabrizio in Mauro Bologninis Verfilmung der „Kartause von Parma” Foto: defd/Kinoarchiv
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Die vorzügliche Neuübersetzung von Stendhals eigentlich ziemlich kolportagehaftem Roman „Die Kartause von Parma”
Nur Gutes lässt sich über die neue Ausgabe von Stendhals berühmtem Roman „Die Kartause von Parma” sagen. An die vorzügliche Übersetzung schließen sich ein kluges Nachwort, ein reicher Kommentar, Balzacs Rezension und Fragmente von Stendhals Neufassung des Werks an. 350 Seiten, mehr als ein Drittel des Bandes, nimmt dieser Anhang ein, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und sich dennoch vergnüglich liest. Er bindet die poetische Phantasie an die geschichtliche Realität der napoleonischen Kriege, der Restauration in Italien, der nicht mehr ganz legitimen, vom Umsturz bedrohten Monarchien und an das Leben des französischen Konsuls Henri Beyle, der sich als Autor nach Winckelmanns Geburtsort „Stendhal” nannte. Wer von den historischen und literarischen Anmerkungen zur Lektüre des Romans zurückkehrt, dem hat sich der Sinn geschärft für den Unterschied von Dichtung und Leben auch an solchen Stellen, wo sie sich berühren.
Die hilfreichen Zutaten sind ebenso das Verdienst Elisabeth Edls wie die Übersetzung, die sich bei jedem Vergleich mit älteren Versuchen als überlegen erweist. Sie gibt den mündlichen Duktus von Stendhals Sätzen, ihr schlichtes Vokabular so wieder, dass sie geläufig klingen und trotzdem den Sprachstand des Deutschen im frühen 19. Jahrhundert nicht überschreiten, damit er dem Französisch des 1839 entstandenen Romans entspricht. Den einfachen, ja sorglosen Satz „il y avait des moments bien doux, et l'on parlait de Fabrice” gaben frühere Übersetzer im Ton deutscher Gemütlichkeit wieder: „Da fand sich manch trauliche Stunde, in der viel von Fabrizio die Rede war”; Edl übersetzt, leicht untertreibend, schnörkellos: „Es gab angenehme Stunden und man sprach von Fabrizio.”
„Die Kartause von Parma” hat bedeutende Bewunderer gefunden, von Balzac bis Proust, Valéry und Julien Gracq. Tolstoi gab gerne zu, dass er das Kapitel über die Schlacht bei Waterloo – in der Tat das beste des Romans – sich zum Vorbild für die Darstellungsweise von „Krieg und Frieden” nahm. Das militärische Geschehen werde von Stendhal nicht aus der privilegierten Sicht der Feldherrn geordnet; es werde vielmehr aus dem begrenzten Blickwinkel eines Soldaten als Chaos erfahren, als Schmutz, Sinnlosigkeit und massenhaftes Sterben. Stendhals verwirrter Held, Fabrizio, muss sich erst hinterher sagen lassen, dass er ein welthistorisches Ereignis erlebt und überlebt habe.
Am Ende der „Kartause von Parma” steht die Widmung: „To the happy few.” Sie hat viel für den Erfolg des Romans getan, denn wer möchte nicht zu ihnen gehören? Mittlerweile fühlen sich Generationen von Lesern mit diesem Roman glücklich, sodass aus den „few” viele geworden sind. Nur wenige, etwa Nabokov und Claude Simon, bekundeten ihr Missfallen an Stendhals Schriften, vor allem aber an der „Kartause von Parma”. Zu diesen „unhappy few” gehört der Rezensent. Er scheut nicht die Donquichotterie, ein klassisches Werk rezensieren zu wollen, als handelte es sich um eine Neuerscheinung.
Die zahlreichen „happy few” der „Stendhaliens” verehren ihren Meister nicht allein seiner Werke wegen; sie bewundern sein Leben; manche reisen auf seinen Spuren. Dieses Leben ist ganz nach dem modernen Geschmack. Im Gefolge von Napoleons Heer durchquerte Henri Beyle mehrmals Europa; er war auch sonst fast immer auf Reisen, machte Italien zu seiner eigentlichen Heimat, erledigte nebenbei und mit großzügig gewährten Unterbrechungen seine Pflichten als französischer Beamter in Mailand, Triest oder Civitavecchia, besuchte fast jeden Abend die Oper, verkehrte mit italienischen Grafen, liebte die dazugehörigen Gräfinnen, schrieb unablässig und ernannte sich als Autor selbst zum Baron de Stendhal. Solch ein bewegtes Leben in großer Zeit in einem schönen Land hört sich wie ein Roman an. Bereits die Wörter „Italien” und „Liebe” lösen „moments bien doux” des imaginativen Wohlbehagens aus.
Kein anderer Roman Stendhals hat so viel aus diesem Leben übernommen wie die „Kartause von Parma”: die Schauplätze zwischen Comer See, Mailand und Parma (das allerdings gar keine Kartause besitzt); die Zeitspanne von der Revolution, als die französischen Truppen eine oberitalienische Republik errichteten, bis zur Restauration, als unter österreichischem Patronat die entthronten Monarchien noch einmal zu einem Scheinleben erwachten; die abwechselnd müßiggängerische und ehrgeizige Gesellschaft der Herzöge, Marchesi und Contessen; vor allem aber ungestüme, im Roman mit Mord und Totschlag angereicherte Liebesaffären.
Liebhaber aller schönen Frauen
Doch der Versuch, die „Kartause von Parma” als realistischen Zeitroman zu lesen, führt nicht weit. Sein Held, Fabrizio del Dongo, tritt zwar zu Beginn als glühender Verehrer und Mitstreiter Napoleons auf, wie es tatsächlich viele Jünglinge, auch unter italienischen Aristokraten, um 1800 waren. Aber im Fortschreiten und Forteilen der Handlung wird aus ihm eine Renaissancefigur, die sich Stendhal aus Chroniken und Novellen des 16. Jahrhunderts zusammengelesen hat: Aus dem Sohn eines Marchese, aus dem Anhänger Napoleons wird im mehrfachen Wechsel ein Gefängnisinsasse, ein Exilant, ein Liebhaber und Geliebter aller schönen Frauen (und er trifft nur auf schöne Frauen, seien es Herzoginnen, Gräfinnen, Schauspielerinnen, Wirtinnen oder Zimmervermieterinnen), ein geistlicher Würdenträger, ein Mörder, ein politischer Intrigant. Fabrizio und seine Mit- oder Gegenspieler ähneln mehr den legendären Gestalten aus den Familien Borgia und Farnese als Bürgern des 19. Jahrhunderts. Stendhals Roman spielt nicht im Parma der Restauration; er spielt im unbegrenzten Reich des historischen Gerüchts und der abenteuerlichen Phantasie.
Stendhals Reisebericht „Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817” vermerkt vom Leben des Autors in Italien fast nichts außer dem täglichen Besuch in der Oper. Vielleicht hat Stendhal zu viele von ihnen gesehen und sich den Weltlauf nach Art eines Librettos zurechtgelegt. In Opern lösen sich in schneller Folge Liebesschwüre und Mordpläne, extreme Freuden und extreme Leiden ab, ohne dass der Librettist (und mit ihm der Zuschauer) lange nach Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Psychologie fragt. Die Oper hat es auf andere Effekte abgesehen als auf eine nuancenreiche sprachliche Darstellung, da diese ja doch vom Orchester übertönt und von den Sängern überspielt würde. In einem Roman von tausend Seiten jedoch ermüden die opernhaften Standardsituationen, die sich immer wieder zwischen jugendlichem Liebhaber, edler Dame, aufblühendem Mädchen, sanfter Mutter, bösem Vater, noch böserem Bruder, intrigantem Minister, herrschsüchtigem Fürsten ergeben. Nicht die Musik, aber das Gepolter dieser Bühnenchargen hört man hinter dem Vorhang von Stendhals sogenannter „Erzählkunst”.
Als hätte der Maskenbildner alle individuellen Züge der Aktricen und Akteure überschminkt, so treten Stendhals Heldinnen und Helden im Glanz schematischer Schönheit auf. Einem Opernbesucher mag Taminos Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön” genügen, um von der idealen Gestalt Paminas überzeugt zu sein; ein Romanleser möchte detaillierter über Aussehen und Charakter von Frauen unterrichtet werden. Doch in Stendhals opernhaftem Roman fallen alle Frauen unter die Kategorie „hübsch und bezaubernd”, aber auch ihr Bewunderer und Liebhaber, Fabrizio, fällt darunter. Die „schönen Augen” dieser Frauen „flammen auf” oder „füllen sich mit Tränen”, ihre Stimme ist „zutiefst bewegt” – prompt stellen sich die fertigen Formeln für jene tiefe Leidenschaft ein, in der sich Stendhals Figuren unablässig voreinander und vor sich selbst zeigen.
Einzelheiten des inneren und äußeren Lebens erspart sich und seinen Lesern der Autor, der stolz darauf war, das umfangreiche Werk in 53 Tagen geschrieben zu haben. Hat Fabrizio am Lago Maggiore zu tun, so warten schon die Adjektive „majestätisch”, „friedlich” und „herrlich” auf ihn; zwei Seiten später ist er am Comer See, wo er ebenso wenig der „erhabenen Schönheit” entgeht. Um den Nachweis von Leidenschaftlichkeit zu erbringen, der allein Zutritt zu Stendhals Pantheon kühner Menschen gewährt, müssen sie sich in Handlungen verausgaben, die als Ausdruck von Leidenschaft gelten: vor Verfolgern fliehen, den Säbel ziehen, dem Nebenbuhler nachstellen, Pferde müdehetzen, Heiratsanträge stellen, Liebesnächte arrangieren.
Eine starke Dosis von Tollheiten
Unter dem Kostüm eines Zeitromans zeichnen sich die Klischees des Abenteuerromans ab, der von der Spätantike, von Heliodors „Abenteuern der schönen Chariklea”, bis ins frühe 18. Jahrhundert den Tagtraum von großen Helden, großer Liebe, großer Gefahr, großen Kämpfen erzeugte. So geschwind wechseln die Situationen und Aktionen in Stendhals Roman, dass man darin das Tempo zu spüren glaubt, mit dem sein größter Held, Napoleon, Europa durcheilte und überrannte. Doch resultiert der Katarakt der Romanereignisse aus der Verlegenheit des Erzählers, den an eine immer stärkere Dosis von Tollheiten gewöhnten Leser nicht zu enttäuschen.
Nachdem Richardson, Rousseau und Goethe den Roman der Besinnung, der Besonnenheit und der Seelenkunde entdeckt hatten, blieb nur noch der triviale und juvenile Geschmack dem Abenteuerroman treu. Karl May wird diesem Geschmack entgegenkommen. „Die Kartause von Parma” versucht noch einmal, die Lust an Abenteuern für die anspruchsvolle Literatur zu retten, indem dieser Roman das Kind im Manne anspricht. Gelungen ist es ihm bei den „happy few”.HEINZ SCHLAFFER
STENDHAL: Die Kartause von Parma. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2007. 998 Seiten, 34,90 Euro.
Andrea Occhipinti als Fabrizio in Mauro Bologninis Verfilmung der „Kartause von Parma” Foto: defd/Kinoarchiv
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»Der Gegensatz zwischen Stendhal und Henry Miller ist nur ein Scheingegensatz. Sie gehören zusammen.« Alfred Andersch