Abenteuer und Psychologie, Weltgeschichte und eine ungezügelte, tragische Liebe - Stendhal verbindet in seiner 'Kartause von Parma' realistische Erzählkunst mit turbulenter Unterhaltung. Vor historischer Kulisse im schönen Italien stolpert Fabrizio del Dongo, ein Schmalspur-Don-Juan, durch sein freizügiges Leben direkt in den Knast. Dort verliebt er sich zum ersten Mal ernstlich, in die Schließertochter Clelia. Außerhalb der Gefängnismauern dürfen sie zwar nicht zusammen sein, und sie schwört bei ihrer Hochzeit, ihn nie wiederzusehen. Aber nachts kann man nichts sehen ...Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2007In 53 Tagen runtergeschrieben – und danach ist es denn auch
Die vorzügliche Neuübersetzung von Stendhals eigentlich ziemlich kolportagehaftem Roman „Die Kartause von Parma”
Nur Gutes lässt sich über die neue Ausgabe von Stendhals berühmtem Roman „Die Kartause von Parma” sagen. An die vorzügliche Übersetzung schließen sich ein kluges Nachwort, ein reicher Kommentar, Balzacs Rezension und Fragmente von Stendhals Neufassung des Werks an. 350 Seiten, mehr als ein Drittel des Bandes, nimmt dieser Anhang ein, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und sich dennoch vergnüglich liest. Er bindet die poetische Phantasie an die geschichtliche Realität der napoleonischen Kriege, der Restauration in Italien, der nicht mehr ganz legitimen, vom Umsturz bedrohten Monarchien und an das Leben des französischen Konsuls Henri Beyle, der sich als Autor nach Winckelmanns Geburtsort „Stendhal” nannte. Wer von den historischen und literarischen Anmerkungen zur Lektüre des Romans zurückkehrt, dem hat sich der Sinn geschärft für den Unterschied von Dichtung und Leben auch an solchen Stellen, wo sie sich berühren.
Die hilfreichen Zutaten sind ebenso das Verdienst Elisabeth Edls wie die Übersetzung, die sich bei jedem Vergleich mit älteren Versuchen als überlegen erweist. Sie gibt den mündlichen Duktus von Stendhals Sätzen, ihr schlichtes Vokabular so wieder, dass sie geläufig klingen und trotzdem den Sprachstand des Deutschen im frühen 19. Jahrhundert nicht überschreiten, damit er dem Französisch des 1839 entstandenen Romans entspricht. Den einfachen, ja sorglosen Satz „il y avait des moments bien doux, et l'on parlait de Fabrice” gaben frühere Übersetzer im Ton deutscher Gemütlichkeit wieder: „Da fand sich manch trauliche Stunde, in der viel von Fabrizio die Rede war”; Edl übersetzt, leicht untertreibend, schnörkellos: „Es gab angenehme Stunden und man sprach von Fabrizio.”
„Die Kartause von Parma” hat bedeutende Bewunderer gefunden, von Balzac bis Proust, Valéry und Julien Gracq. Tolstoi gab gerne zu, dass er das Kapitel über die Schlacht bei Waterloo – in der Tat das beste des Romans – sich zum Vorbild für die Darstellungsweise von „Krieg und Frieden” nahm. Das militärische Geschehen werde von Stendhal nicht aus der privilegierten Sicht der Feldherrn geordnet; es werde vielmehr aus dem begrenzten Blickwinkel eines Soldaten als Chaos erfahren, als Schmutz, Sinnlosigkeit und massenhaftes Sterben. Stendhals verwirrter Held, Fabrizio, muss sich erst hinterher sagen lassen, dass er ein welthistorisches Ereignis erlebt und überlebt habe.
Am Ende der „Kartause von Parma” steht die Widmung: „To the happy few.” Sie hat viel für den Erfolg des Romans getan, denn wer möchte nicht zu ihnen gehören? Mittlerweile fühlen sich Generationen von Lesern mit diesem Roman glücklich, sodass aus den „few” viele geworden sind. Nur wenige, etwa Nabokov und Claude Simon, bekundeten ihr Missfallen an Stendhals Schriften, vor allem aber an der „Kartause von Parma”. Zu diesen „unhappy few” gehört der Rezensent. Er scheut nicht die Donquichotterie, ein klassisches Werk rezensieren zu wollen, als handelte es sich um eine Neuerscheinung.
Die zahlreichen „happy few” der „Stendhaliens” verehren ihren Meister nicht allein seiner Werke wegen; sie bewundern sein Leben; manche reisen auf seinen Spuren. Dieses Leben ist ganz nach dem modernen Geschmack. Im Gefolge von Napoleons Heer durchquerte Henri Beyle mehrmals Europa; er war auch sonst fast immer auf Reisen, machte Italien zu seiner eigentlichen Heimat, erledigte nebenbei und mit großzügig gewährten Unterbrechungen seine Pflichten als französischer Beamter in Mailand, Triest oder Civitavecchia, besuchte fast jeden Abend die Oper, verkehrte mit italienischen Grafen, liebte die dazugehörigen Gräfinnen, schrieb unablässig und ernannte sich als Autor selbst zum Baron de Stendhal. Solch ein bewegtes Leben in großer Zeit in einem schönen Land hört sich wie ein Roman an. Bereits die Wörter „Italien” und „Liebe” lösen „moments bien doux” des imaginativen Wohlbehagens aus.
Kein anderer Roman Stendhals hat so viel aus diesem Leben übernommen wie die „Kartause von Parma”: die Schauplätze zwischen Comer See, Mailand und Parma (das allerdings gar keine Kartause besitzt); die Zeitspanne von der Revolution, als die französischen Truppen eine oberitalienische Republik errichteten, bis zur Restauration, als unter österreichischem Patronat die entthronten Monarchien noch einmal zu einem Scheinleben erwachten; die abwechselnd müßiggängerische und ehrgeizige Gesellschaft der Herzöge, Marchesi und Contessen; vor allem aber ungestüme, im Roman mit Mord und Totschlag angereicherte Liebesaffären.
Liebhaber aller schönen Frauen
Doch der Versuch, die „Kartause von Parma” als realistischen Zeitroman zu lesen, führt nicht weit. Sein Held, Fabrizio del Dongo, tritt zwar zu Beginn als glühender Verehrer und Mitstreiter Napoleons auf, wie es tatsächlich viele Jünglinge, auch unter italienischen Aristokraten, um 1800 waren. Aber im Fortschreiten und Forteilen der Handlung wird aus ihm eine Renaissancefigur, die sich Stendhal aus Chroniken und Novellen des 16. Jahrhunderts zusammengelesen hat: Aus dem Sohn eines Marchese, aus dem Anhänger Napoleons wird im mehrfachen Wechsel ein Gefängnisinsasse, ein Exilant, ein Liebhaber und Geliebter aller schönen Frauen (und er trifft nur auf schöne Frauen, seien es Herzoginnen, Gräfinnen, Schauspielerinnen, Wirtinnen oder Zimmervermieterinnen), ein geistlicher Würdenträger, ein Mörder, ein politischer Intrigant. Fabrizio und seine Mit- oder Gegenspieler ähneln mehr den legendären Gestalten aus den Familien Borgia und Farnese als Bürgern des 19. Jahrhunderts. Stendhals Roman spielt nicht im Parma der Restauration; er spielt im unbegrenzten Reich des historischen Gerüchts und der abenteuerlichen Phantasie.
Stendhals Reisebericht „Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817” vermerkt vom Leben des Autors in Italien fast nichts außer dem täglichen Besuch in der Oper. Vielleicht hat Stendhal zu viele von ihnen gesehen und sich den Weltlauf nach Art eines Librettos zurechtgelegt. In Opern lösen sich in schneller Folge Liebesschwüre und Mordpläne, extreme Freuden und extreme Leiden ab, ohne dass der Librettist (und mit ihm der Zuschauer) lange nach Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Psychologie fragt. Die Oper hat es auf andere Effekte abgesehen als auf eine nuancenreiche sprachliche Darstellung, da diese ja doch vom Orchester übertönt und von den Sängern überspielt würde. In einem Roman von tausend Seiten jedoch ermüden die opernhaften Standardsituationen, die sich immer wieder zwischen jugendlichem Liebhaber, edler Dame, aufblühendem Mädchen, sanfter Mutter, bösem Vater, noch böserem Bruder, intrigantem Minister, herrschsüchtigem Fürsten ergeben. Nicht die Musik, aber das Gepolter dieser Bühnenchargen hört man hinter dem Vorhang von Stendhals sogenannter „Erzählkunst”.
Als hätte der Maskenbildner alle individuellen Züge der Aktricen und Akteure überschminkt, so treten Stendhals Heldinnen und Helden im Glanz schematischer Schönheit auf. Einem Opernbesucher mag Taminos Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön” genügen, um von der idealen Gestalt Paminas überzeugt zu sein; ein Romanleser möchte detaillierter über Aussehen und Charakter von Frauen unterrichtet werden. Doch in Stendhals opernhaftem Roman fallen alle Frauen unter die Kategorie „hübsch und bezaubernd”, aber auch ihr Bewunderer und Liebhaber, Fabrizio, fällt darunter. Die „schönen Augen” dieser Frauen „flammen auf” oder „füllen sich mit Tränen”, ihre Stimme ist „zutiefst bewegt” – prompt stellen sich die fertigen Formeln für jene tiefe Leidenschaft ein, in der sich Stendhals Figuren unablässig voreinander und vor sich selbst zeigen.
Einzelheiten des inneren und äußeren Lebens erspart sich und seinen Lesern der Autor, der stolz darauf war, das umfangreiche Werk in 53 Tagen geschrieben zu haben. Hat Fabrizio am Lago Maggiore zu tun, so warten schon die Adjektive „majestätisch”, „friedlich” und „herrlich” auf ihn; zwei Seiten später ist er am Comer See, wo er ebenso wenig der „erhabenen Schönheit” entgeht. Um den Nachweis von Leidenschaftlichkeit zu erbringen, der allein Zutritt zu Stendhals Pantheon kühner Menschen gewährt, müssen sie sich in Handlungen verausgaben, die als Ausdruck von Leidenschaft gelten: vor Verfolgern fliehen, den Säbel ziehen, dem Nebenbuhler nachstellen, Pferde müdehetzen, Heiratsanträge stellen, Liebesnächte arrangieren.
Eine starke Dosis von Tollheiten
Unter dem Kostüm eines Zeitromans zeichnen sich die Klischees des Abenteuerromans ab, der von der Spätantike, von Heliodors „Abenteuern der schönen Chariklea”, bis ins frühe 18. Jahrhundert den Tagtraum von großen Helden, großer Liebe, großer Gefahr, großen Kämpfen erzeugte. So geschwind wechseln die Situationen und Aktionen in Stendhals Roman, dass man darin das Tempo zu spüren glaubt, mit dem sein größter Held, Napoleon, Europa durcheilte und überrannte. Doch resultiert der Katarakt der Romanereignisse aus der Verlegenheit des Erzählers, den an eine immer stärkere Dosis von Tollheiten gewöhnten Leser nicht zu enttäuschen.
Nachdem Richardson, Rousseau und Goethe den Roman der Besinnung, der Besonnenheit und der Seelenkunde entdeckt hatten, blieb nur noch der triviale und juvenile Geschmack dem Abenteuerroman treu. Karl May wird diesem Geschmack entgegenkommen. „Die Kartause von Parma” versucht noch einmal, die Lust an Abenteuern für die anspruchsvolle Literatur zu retten, indem dieser Roman das Kind im Manne anspricht. Gelungen ist es ihm bei den „happy few”.HEINZ SCHLAFFER
STENDHAL: Die Kartause von Parma. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2007. 998 Seiten, 34,90 Euro.
Andrea Occhipinti als Fabrizio in Mauro Bologninis Verfilmung der „Kartause von Parma” Foto: defd/Kinoarchiv
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Die vorzügliche Neuübersetzung von Stendhals eigentlich ziemlich kolportagehaftem Roman „Die Kartause von Parma”
Nur Gutes lässt sich über die neue Ausgabe von Stendhals berühmtem Roman „Die Kartause von Parma” sagen. An die vorzügliche Übersetzung schließen sich ein kluges Nachwort, ein reicher Kommentar, Balzacs Rezension und Fragmente von Stendhals Neufassung des Werks an. 350 Seiten, mehr als ein Drittel des Bandes, nimmt dieser Anhang ein, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und sich dennoch vergnüglich liest. Er bindet die poetische Phantasie an die geschichtliche Realität der napoleonischen Kriege, der Restauration in Italien, der nicht mehr ganz legitimen, vom Umsturz bedrohten Monarchien und an das Leben des französischen Konsuls Henri Beyle, der sich als Autor nach Winckelmanns Geburtsort „Stendhal” nannte. Wer von den historischen und literarischen Anmerkungen zur Lektüre des Romans zurückkehrt, dem hat sich der Sinn geschärft für den Unterschied von Dichtung und Leben auch an solchen Stellen, wo sie sich berühren.
Die hilfreichen Zutaten sind ebenso das Verdienst Elisabeth Edls wie die Übersetzung, die sich bei jedem Vergleich mit älteren Versuchen als überlegen erweist. Sie gibt den mündlichen Duktus von Stendhals Sätzen, ihr schlichtes Vokabular so wieder, dass sie geläufig klingen und trotzdem den Sprachstand des Deutschen im frühen 19. Jahrhundert nicht überschreiten, damit er dem Französisch des 1839 entstandenen Romans entspricht. Den einfachen, ja sorglosen Satz „il y avait des moments bien doux, et l'on parlait de Fabrice” gaben frühere Übersetzer im Ton deutscher Gemütlichkeit wieder: „Da fand sich manch trauliche Stunde, in der viel von Fabrizio die Rede war”; Edl übersetzt, leicht untertreibend, schnörkellos: „Es gab angenehme Stunden und man sprach von Fabrizio.”
„Die Kartause von Parma” hat bedeutende Bewunderer gefunden, von Balzac bis Proust, Valéry und Julien Gracq. Tolstoi gab gerne zu, dass er das Kapitel über die Schlacht bei Waterloo – in der Tat das beste des Romans – sich zum Vorbild für die Darstellungsweise von „Krieg und Frieden” nahm. Das militärische Geschehen werde von Stendhal nicht aus der privilegierten Sicht der Feldherrn geordnet; es werde vielmehr aus dem begrenzten Blickwinkel eines Soldaten als Chaos erfahren, als Schmutz, Sinnlosigkeit und massenhaftes Sterben. Stendhals verwirrter Held, Fabrizio, muss sich erst hinterher sagen lassen, dass er ein welthistorisches Ereignis erlebt und überlebt habe.
Am Ende der „Kartause von Parma” steht die Widmung: „To the happy few.” Sie hat viel für den Erfolg des Romans getan, denn wer möchte nicht zu ihnen gehören? Mittlerweile fühlen sich Generationen von Lesern mit diesem Roman glücklich, sodass aus den „few” viele geworden sind. Nur wenige, etwa Nabokov und Claude Simon, bekundeten ihr Missfallen an Stendhals Schriften, vor allem aber an der „Kartause von Parma”. Zu diesen „unhappy few” gehört der Rezensent. Er scheut nicht die Donquichotterie, ein klassisches Werk rezensieren zu wollen, als handelte es sich um eine Neuerscheinung.
Die zahlreichen „happy few” der „Stendhaliens” verehren ihren Meister nicht allein seiner Werke wegen; sie bewundern sein Leben; manche reisen auf seinen Spuren. Dieses Leben ist ganz nach dem modernen Geschmack. Im Gefolge von Napoleons Heer durchquerte Henri Beyle mehrmals Europa; er war auch sonst fast immer auf Reisen, machte Italien zu seiner eigentlichen Heimat, erledigte nebenbei und mit großzügig gewährten Unterbrechungen seine Pflichten als französischer Beamter in Mailand, Triest oder Civitavecchia, besuchte fast jeden Abend die Oper, verkehrte mit italienischen Grafen, liebte die dazugehörigen Gräfinnen, schrieb unablässig und ernannte sich als Autor selbst zum Baron de Stendhal. Solch ein bewegtes Leben in großer Zeit in einem schönen Land hört sich wie ein Roman an. Bereits die Wörter „Italien” und „Liebe” lösen „moments bien doux” des imaginativen Wohlbehagens aus.
Kein anderer Roman Stendhals hat so viel aus diesem Leben übernommen wie die „Kartause von Parma”: die Schauplätze zwischen Comer See, Mailand und Parma (das allerdings gar keine Kartause besitzt); die Zeitspanne von der Revolution, als die französischen Truppen eine oberitalienische Republik errichteten, bis zur Restauration, als unter österreichischem Patronat die entthronten Monarchien noch einmal zu einem Scheinleben erwachten; die abwechselnd müßiggängerische und ehrgeizige Gesellschaft der Herzöge, Marchesi und Contessen; vor allem aber ungestüme, im Roman mit Mord und Totschlag angereicherte Liebesaffären.
Liebhaber aller schönen Frauen
Doch der Versuch, die „Kartause von Parma” als realistischen Zeitroman zu lesen, führt nicht weit. Sein Held, Fabrizio del Dongo, tritt zwar zu Beginn als glühender Verehrer und Mitstreiter Napoleons auf, wie es tatsächlich viele Jünglinge, auch unter italienischen Aristokraten, um 1800 waren. Aber im Fortschreiten und Forteilen der Handlung wird aus ihm eine Renaissancefigur, die sich Stendhal aus Chroniken und Novellen des 16. Jahrhunderts zusammengelesen hat: Aus dem Sohn eines Marchese, aus dem Anhänger Napoleons wird im mehrfachen Wechsel ein Gefängnisinsasse, ein Exilant, ein Liebhaber und Geliebter aller schönen Frauen (und er trifft nur auf schöne Frauen, seien es Herzoginnen, Gräfinnen, Schauspielerinnen, Wirtinnen oder Zimmervermieterinnen), ein geistlicher Würdenträger, ein Mörder, ein politischer Intrigant. Fabrizio und seine Mit- oder Gegenspieler ähneln mehr den legendären Gestalten aus den Familien Borgia und Farnese als Bürgern des 19. Jahrhunderts. Stendhals Roman spielt nicht im Parma der Restauration; er spielt im unbegrenzten Reich des historischen Gerüchts und der abenteuerlichen Phantasie.
Stendhals Reisebericht „Rom, Neapel und Florenz im Jahre 1817” vermerkt vom Leben des Autors in Italien fast nichts außer dem täglichen Besuch in der Oper. Vielleicht hat Stendhal zu viele von ihnen gesehen und sich den Weltlauf nach Art eines Librettos zurechtgelegt. In Opern lösen sich in schneller Folge Liebesschwüre und Mordpläne, extreme Freuden und extreme Leiden ab, ohne dass der Librettist (und mit ihm der Zuschauer) lange nach Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Psychologie fragt. Die Oper hat es auf andere Effekte abgesehen als auf eine nuancenreiche sprachliche Darstellung, da diese ja doch vom Orchester übertönt und von den Sängern überspielt würde. In einem Roman von tausend Seiten jedoch ermüden die opernhaften Standardsituationen, die sich immer wieder zwischen jugendlichem Liebhaber, edler Dame, aufblühendem Mädchen, sanfter Mutter, bösem Vater, noch böserem Bruder, intrigantem Minister, herrschsüchtigem Fürsten ergeben. Nicht die Musik, aber das Gepolter dieser Bühnenchargen hört man hinter dem Vorhang von Stendhals sogenannter „Erzählkunst”.
Als hätte der Maskenbildner alle individuellen Züge der Aktricen und Akteure überschminkt, so treten Stendhals Heldinnen und Helden im Glanz schematischer Schönheit auf. Einem Opernbesucher mag Taminos Arie „Dies Bildnis ist bezaubernd schön” genügen, um von der idealen Gestalt Paminas überzeugt zu sein; ein Romanleser möchte detaillierter über Aussehen und Charakter von Frauen unterrichtet werden. Doch in Stendhals opernhaftem Roman fallen alle Frauen unter die Kategorie „hübsch und bezaubernd”, aber auch ihr Bewunderer und Liebhaber, Fabrizio, fällt darunter. Die „schönen Augen” dieser Frauen „flammen auf” oder „füllen sich mit Tränen”, ihre Stimme ist „zutiefst bewegt” – prompt stellen sich die fertigen Formeln für jene tiefe Leidenschaft ein, in der sich Stendhals Figuren unablässig voreinander und vor sich selbst zeigen.
Einzelheiten des inneren und äußeren Lebens erspart sich und seinen Lesern der Autor, der stolz darauf war, das umfangreiche Werk in 53 Tagen geschrieben zu haben. Hat Fabrizio am Lago Maggiore zu tun, so warten schon die Adjektive „majestätisch”, „friedlich” und „herrlich” auf ihn; zwei Seiten später ist er am Comer See, wo er ebenso wenig der „erhabenen Schönheit” entgeht. Um den Nachweis von Leidenschaftlichkeit zu erbringen, der allein Zutritt zu Stendhals Pantheon kühner Menschen gewährt, müssen sie sich in Handlungen verausgaben, die als Ausdruck von Leidenschaft gelten: vor Verfolgern fliehen, den Säbel ziehen, dem Nebenbuhler nachstellen, Pferde müdehetzen, Heiratsanträge stellen, Liebesnächte arrangieren.
Eine starke Dosis von Tollheiten
Unter dem Kostüm eines Zeitromans zeichnen sich die Klischees des Abenteuerromans ab, der von der Spätantike, von Heliodors „Abenteuern der schönen Chariklea”, bis ins frühe 18. Jahrhundert den Tagtraum von großen Helden, großer Liebe, großer Gefahr, großen Kämpfen erzeugte. So geschwind wechseln die Situationen und Aktionen in Stendhals Roman, dass man darin das Tempo zu spüren glaubt, mit dem sein größter Held, Napoleon, Europa durcheilte und überrannte. Doch resultiert der Katarakt der Romanereignisse aus der Verlegenheit des Erzählers, den an eine immer stärkere Dosis von Tollheiten gewöhnten Leser nicht zu enttäuschen.
Nachdem Richardson, Rousseau und Goethe den Roman der Besinnung, der Besonnenheit und der Seelenkunde entdeckt hatten, blieb nur noch der triviale und juvenile Geschmack dem Abenteuerroman treu. Karl May wird diesem Geschmack entgegenkommen. „Die Kartause von Parma” versucht noch einmal, die Lust an Abenteuern für die anspruchsvolle Literatur zu retten, indem dieser Roman das Kind im Manne anspricht. Gelungen ist es ihm bei den „happy few”.HEINZ SCHLAFFER
STENDHAL: Die Kartause von Parma. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München 2007. 998 Seiten, 34,90 Euro.
Andrea Occhipinti als Fabrizio in Mauro Bologninis Verfilmung der „Kartause von Parma” Foto: defd/Kinoarchiv
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