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Ein verstecktes Gelächter eröffnet den neuen Roman von Wilhelm Genazino. Es gilt einem Mann, der sich auf seine Ernsthaftigkeit immer etwas zugute gehalten hat. Jetzt, auf einmal, löst seine Person öffentliche Heiterkeit aus. Bestürzt untersucht der Erzähler seine Gewohnheiten und seinen Alltag und stellt fest, daß an seiner äußeren Erscheinung dann und wann Momente einer Verschrobenheit aufblitzen, die nichts weiter sind als Hinweise darauf, daß er sich selbst näher gekommen ist, als er je beabsichtigt hatte.

Produktbeschreibung
Ein verstecktes Gelächter eröffnet den neuen Roman von Wilhelm Genazino. Es gilt einem Mann, der sich auf seine Ernsthaftigkeit immer etwas zugute gehalten hat. Jetzt, auf einmal, löst seine Person öffentliche Heiterkeit aus. Bestürzt untersucht der Erzähler seine Gewohnheiten und seinen Alltag und stellt fest, daß an seiner äußeren Erscheinung dann und wann Momente einer Verschrobenheit aufblitzen, die nichts weiter sind als Hinweise darauf, daß er sich selbst näher gekommen ist, als er je beabsichtigt hatte.
Autorenporträt
Wilhelm Genazino, geb. 1943 in Mannheim, lebt heute als freier Schriftsteller in Frankfurt am Main. 1998 erhielt er den 'Großen Literaturpreis' der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 2004 den 'Georg-Büchner-Preis'. 2007 wurde Wilhelm Genazino mit dem 'Kleist-Preis' und der 'Corine' ausgezeichnet. 2010 erhielt er den 'Rinke-Sprachpreis', im Jahr 2012 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor und 2014 den Samuel-Bogumil-Linde-Preis.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.1998

Stöckelschuh auf der Flucht
Hingerissen: Wilhelm Genazino beobachtet nicht nur Kassiererinnen

Die soziale Komik der großen und kleinen Absurditäten "unserer Gesellschaft" oder einer spezifischen Stadt-Szene ist schon lange nicht mehr der eigentliche Gegenstand narrativer Aufmerksamkeit bei Wilhelm Genazino. Hier scheint nun die Entwicklung vollendet. Es gibt zwar noch herrliche kleine Vignetten jenes Genres, aber die klassischen mikrologischen Analysen des Flaneurs hat der Autor anscheinend endgültig hinter sich gelassen. Er könnte sie zwar gewiß jederzeit wieder anstellen, was er mit jenen winzigen Proben beweist, jenen Beobachtungen etwa über das "öffentliche Stöhnen" in den Schalterhallen der Postämter, aber solche Notate scheinen schon einer Vorzeit der gezielten, untersuchenden Reflexion anzugehören, während in diesem neuesten Roman nur noch eine Art hingerissenes Lauschen auf die Dingwelt stattzufinden scheint und ein unbeirrbares Registrieren der eigenen kleinen Gefühle. Ansonsten: "Es ereignete sich das vertraute, aber unerkennbar gewordene Leben."

Was umgibt uns immer, fast unmerklich? "Draußen beruhigte mich sofort das fledermausartige Angeflogenwerden von verschiedenen Stimmungen, die zu schnell wieder verschwanden, ehe ich Worte für sie oder über sie finden konnte." Im Schaufenster "eines der letzten Kohlenhändler der Stadt" ist ein kleiner Stapel Briketts arrangiert, der von einer Kunstinstallation unmöglich zu unterscheiden ist. "Seit Tagen lag auf einem Garagendach ein einzelner Stöckelschuh, der mir gut gefiel." Genazino hat in seiner Dankrede bei der Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Künste vor einiger Zeit "mit einem phantastischen Sprachzeichen" auszudrücken unternommen, "wie aus einer inneren Empfindungsschrift ein nach außen tretender Text wird . . .: Literatur ist der Versuch, mit einem Schmerz zu sprechen." Inwieweit ist dieser Schmerz identisch mit dem Erlebnis des Komischen? Daß es uns auch mit der kunstvollsten Ironie nicht ganz gelingt, den Rückzug (oder Vormarsch) in eine vollkommene Unabhängigkeit vom prüfenden Blick der anderen Leute anzutreten, wird hier als das letzte gesellschaftliche Problem analysiert. Diese Unfähigkeit, für alle anderen in unangreifbarer Gleichgültigkeit monadisch unsichtbar zu sein, erscheint in Genazinos Roman als das große Problem der Lächerlichkeit. Auf der Straße sehen uns andere und lachen über uns, ohne daß wir immer den Grund wissen. (Irgendwo hinter den Vorstadtkulissen dieser Begegnungen scheint Falstaff seinen Satz zu sprechen: "Ich habe nicht nur viel Humor, ich bin auch der Grund für Humor bei anderen.") Die Verlegenheit ist der Rest des Gesellschaftlichen. Wir erfahren zwar nicht, welche Meldung zu der vom Erzähler erblickten Schlagzeile "Verlacht, beschimpft, geschlagen" gehört, doch ist sie beunruhigend genug, dem angeblichen Projekt seines notorisch konfusen und geschwätzigen Freundes eine düstere Plausibilität zu verleihen, der behauptet, das Kulturamt habe ihn beauftragt, einen Stadtplan mit "Fluchtwegen" auszuarbeiten.

Die Gänge durch diese anonyme Stadt, durch die "Alltagswelt, die Dr. Wolters gewohnheitsmäßig die empirische Welt oder, wenn er besser gelaunt war, die Lebenswelt nannte", führen gelegentlich, um rasch noch den Titel zu erklären, an den Kassiererinnen im Prezzoprezzo vorbei. Der Erzähler beschwört sie quer durch den Roman nacheinander in kleinen Vignetten von kunstvoll zerstreuter Intensität herauf; sie sind vielleicht die Musen seines Programms "zärtlicher Gleichgültigkeit" den Menschen gegenüber. Genazinos Text ist in gewisser Weise eine neue Variante des Chandos-Briefes, vom anderen Ende des Spektrums her geschrieben: Seit langem hat niemand so tiefgründige und so spielerische Analysen jener Seismik vorgelegt, die in winzigen Erschütterungen unseres Bewußtseins durch die bedeutungslosen Außendinge besteht, die uns plötzlich bedeutsamer vorkommen als alles Größere. Diese Schilderungen, in denen Metaphysik in den Dingen wiederkehren will, deren diskrete Stummheit keinen Sinn und kein Pathos kennt - "dabei war in jeder Sekunde klar, daß die Dinge nur die ruhige Anschaubarkeit von etwas übernahmen, was sich von Menschen nicht betrachten ließ" -, sind ungeheuer leicht und von einem gelassenen, traurigen Witz, der, sich mit lauter Alltagsschwere umgebend, selbst nur noch fliegt. Ein wunderbares Buch, von dem das gilt, was es einmal selbst den Dingen attestiert: daß von ihnen "eine schwer verstehbare Besänftigung" ausgehe. JOACHIM KALKA

Wilhelm Genazino: "Die Kassiererinnen". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1998. 156 S., geb., 32,- DM.

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