Lehner erzählt die vergessene Geschichte der reformfreudigen Katholiken des 18. Jahrhunderts in Nord- und Südamerika, Europa und Asien, die gegen Aberglaube kämpften und für die Ideale von Demokratie, Gleichheit der Geschlechter und den Wert der Naturwissenschaften einstanden.In seiner Globalgeschichte zeigt der Autor auf, dass die Reformen des Konzils von Trient im 18. Jahrhundert eine Erneuerungsbewegung inspirierten, die in einen produktiven Austausch mit der Aufklärung trat. Nicht nur theologische Fragen wie das Verhältnis zu den Kirchen der Reformation wurden behandelt, sondern auch gesellschaftliche wie die Rechte der Frau, die Abschaffung der Sklaverei oder die Demokratisierung der Kirche. Erst die Französische Revolution von 1789 bereitete diesem Experiment katholischen Fortschritts ein Ende. Desillusioniert durch den Terror von Paris erblickte man nun in allem Aufklärerischen eine Gefahr - eine Haltung, die sich bis zum 2. Vatikanischen Konzil von 1962 hielt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.11.2017Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit
Ulrich R. Lehner erzählt die Geschichte reformfreudiger Katholiken – und das zu Lasten der säkularen Aufklärung
Die katholische Kirche erträgt viele Reformvorschläge. Verheiratete Priester? Scheidung und Wiederverheiratung? Engagement für die Armen statt für die Kurie? Aktive Teilnahme der Laien an der Eucharistie? Ökumene? Alles schon einmal dagewesen: Bereits in der Frühen Neuzeit wurden diese Themen diskutiert, im 18. Jahrhundert insbesondere von Vertretern der katholischen Aufklärung.
Ulrich L. Lehner, Professor für Religionsgeschichte in Milwaukee, hat dazu 2016 ein Standardwerk vorgelegt, das nun auf Deutsch erschienen ist. Ausgehend vom Tridentinischen Konzil im 16. Jahrhundert zieht er eine lange historische Linie, die ins Zweite Vatikanische Konzil mündet. Die Suchbewegung richtet sich auf einen Katholizismus, der die Moderne nicht als Feind des Glaubens, sondern als Chance für die Vertiefung von Frömmigkeit und Spiritualität auffasst. Vertreter dieser Richtung akzeptieren die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, sie nehmen Sinnlichkeit ernst, bemühen sich um eine vernünftige Begründung dogmatischer Positionen und plädieren für Toleranz. Reformbereitschaft resultierte für die katholische Aufklärung aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Kirche einschließlich der biblischen Offenbarung. Was geworden ist, kann sich auch zum Besseren verändern.
Dem Papst kam dabei die Position eines Bischofs unter anderen zu. Seine Autorität wurde regelmäßig in Frage gestellt, so dass zentralistische Bestrebungen eher im Sand verliefen. Eine wichtige Pointe der großen Erzählung besteht darin, dass sich der Ultramontanismus erst im Gefolge der Französischen Revolution und mit Napoleon gegen die katholische Aufklärung etabliert hat – auch hier also frisst die Revolution ihre Kinder. Danach galt der „Heilige Stuhl“ lange Zeit unangefochten als letzter Sachwalter des wahren Glaubens „in einer vom Liberalismus verdunkelten Welt“.
Lehners Darstellung beeindruckt durch enorme Materialfülle. Er findet Beispiele für einen „reformfreundlichen Katholizismus“ in ganz Europa, in Süd- und Nordamerika und in Asien. Seine Argumentation hat dabei eine apologetisch-revisionistische und eine eher destruktiv-kritische Komponente. Zu Gunsten katholischer Autoren und Geistlicher werden insbesondere jene Aussagen verbucht, die mit den Normen und Werten einer liberalen Bürgergesellschaft der Gegenwart übereinstimmen. Das Verfahren geht zu Lasten der säkularen Aufklärung. Deren Vertretern weist Lehner mit Vorliebe unangenehme Positionen nach: So plädierten selbst Kritiker der Sklaverei wie John Locke oder Montesquieu letztlich nicht für deren Abschaffung, weil sie von der Minderwertigkeit der „Neger“ überzeugt waren. Im Gegensatz dazu lehnte der Priester und spätere Bischof Henri Grégoire die Sklaverei grundsätzlich ab, weil er den Gedanken einer „Hierarchie der Menschenrassen“ verwarf, und zwar aufgrund seiner Glaubensüberzeugung. Lehner zufolge, besaß die religionsdistanzierte Aufklärung keinesfalls das Patent auf die allgemeine Geltung der Menschenrechte oder die Achtung der Menschenwürde.
Welche Bedeutung aber hatten die Reformstimmen innerhalb der katholischen Kirche? Und wie selektiv nimmt Lehner den Rest der Aufklärung wahr? Kurios erscheinen die Argumente für und wider die weibliche Emanzipation. Bekanntlich machte der Mainstream der männlichen Aufklärung auch bei diesem Thema keine gute Figur. Weibliche Intellektualität erschien verdächtig, Frauen wurden zu empfindsamen Wesen erklärt, deren Bestimmung sich im privaten Kreis der Familie als Mutter erfüllen sollte. Lehner formuliert provokativ: Die säkulare Aufklärung habe Frauen zu „Gebärmaschinen“ degradiert. Die katholische Kirche hingegen, die seit dem Tridentinum auf der freien Ehepartnerwahl beharrte, sei für die „Erfindung der ‚Liebe‘“ wesentlich mitverantwortlich. Sie verließ sich auf die göttliche Familienplanung, empfahl gelegentliche Enthaltsamkeit und die gemeinsame Feier von Hochzeitstagen. Auf diese Weise habe die Kirche eine „Entwicklung hin zur Intimität in der Ehe“ befördert und ein „Wachsen der ehelichen Partnerschaft“. Das klingt dann doch ein wenig zu einfach.
Frappierend ist auch die Idee, katholische Frauen-Orden, die gerade vom 16. bis 18. Jahrhundert gegründet wurden, zur Quelle des „Proto-Feminismus“ zu erklären. Entgegen landläufiger Meinung zielten nämlich gerade „Weibliche Orden“ darauf, „ihre Selbständigkeit und ihre Rechte auf Selbstverwaltung“ gegen männliche Bevormundung zu wahren. Die Alliteration „Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit“ wirkt offenbar sehr verführerisch.
Der Status solcher Thesen lässt sich nur schwer einschätzen. Lehner weist oft genug darauf hin, dass die von ihm zitierten katholischen Aufklärer eine Minderheit waren. Bei den Jesuiten beispielsweise sammelt er die Ordensleute ein, die Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften gegenüber offen waren, zugleich den „gesunden Menschenverstand“ schätzten, die Moral naturrechtlich ausrüsteten und überhaupt die sinnliche Erkenntnis nicht verachteten. Diese Jesuiten harmonisierten die Lehren der Bibel mit aktuellen philosophischen Positionen. Dass der Orden „im Großen und Ganzen … weiterhin auf der Studienordnung von 1599“ beharrte, „obwohl diese von nahezu allen Zeitgenossen als hoffnungslos veraltet angesehen wurde“, wird nebenbei erwähnt, verblasst indes angesichts des Fortschrittsberichts.
Der Gewinn dieses Verfahrens liegt zweifellos in einer eindrucksvollen Belegsammlung, die vor schlichten Verallgemeinerungen zur katholischen Geistesgeschichte bewahrt. Die Kosten bestehen jedoch darin, dass Lehner nicht eigentlich ein Buch über die „katholische Aufklärung“ als Epochenbewegung geschrieben hat, sondern über den „Reformkatholizismus“. Wenn er die „Heiligen, welche diese Zeit hervorbrachte“, für „bedeutender“ und „sicherlich einflussreicher“ als alles andere hält, „obwohl keiner von ihnen ein Freund der katholischen Aufklärung war“, dann weil diese „wichtige Anliegen der tridentinischen Reformbewegung“ verkörperten. Damit sind die historischen Längsbezüge von Tridentinum zum Zweiten Vatikanum entscheidend, nicht die epochalen Querbezüge.
Lehner fordert von einer „seriösen“ historischen Auseinandersetzung zum einen, dass diese „frei von aller Apologetik“ verfahre. Wer aber eine Reflexion darüber anregen möchte, ob Katholiken, die von staatlicher Seite wegen Glaubensentscheidungen verfolgt oder hingerichtet wurden, als Märtyrer aufgefasst werden sollen, bezieht doch einen konfessionell recht eindeutigen Standpunkt. Zum zweiten fordert Lehner, historische Phänomene in ihrem „Kontext“ aufzufassen. Auch dabei kommt ihm die reformkatholische Agenda ins Gehege. Anders als in seiner großen Studie über „aufgeklärte Mönche“ des Benediktinerordens (Enlightened Monks. The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2011) werden institutionelle Rahmungen, Veränderungen des Sozialsystems oder der politischen Ordnung weitgehend ausgeblendet.
Damit bleibt häufig unklar, ob bestimmte Positionen aus einem katholischen Bekenntnis folgen, ob sie unabhängig davon bezogen werden oder vielleicht sogar in Spannung dazu stehen. Wenn die Vertreter des Katholizismus in Frankreich 1682 die „gallikanischen Freiheiten“ erklären und sich von Rom lossagen: Ist dies primär in eine lange Tradition demokratischer Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche zu stellen oder bildet die Etablierung des modernen Staates den privilegierten Kontext für ein angemessenes Verständnis? Lehner erwähnt durchaus solche alternativen Deutungsangebote, etwa im Fall des Trierer Weihbischofs Nikolaus von Hontheim, der in einer aufsehenerregenden Schrift „Über den Status der Kirche“ (1763) die Autorität des Papstes infrage gestellt hat. Diese Position lässt sich als Erneuerung „klassischer konziliaristischer Prinzipien“ verstehen oder als Reaktion auf die diplomatischen Interventionen päpstlicher Gesandter und damit auf zeitgenössische Probleme der Herausbildung staatlicher Souveränität. Lehner entscheidet sich stets gegen eine starke Historisierung und für den Anschluss an aktuelle reformkatholische Anliegen. Das erschwert die Einbettung der Ergebnisse in die Aufklärungsforschung, bietet aber der katholischen Kirche die Möglichkeit, sich von einer verschütteten Tradition inspirieren zu lassen.
STEFFEN MARTUS
Was geworden ist,
kann sich auch
zum Besseren verändern
Lehner entscheidet sich stets
für den Anschluss an
aktuelle Reformanliegen
Ulrich L.Lehner: Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. 271 Seiten, 39,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ulrich R. Lehner erzählt die Geschichte reformfreudiger Katholiken – und das zu Lasten der säkularen Aufklärung
Die katholische Kirche erträgt viele Reformvorschläge. Verheiratete Priester? Scheidung und Wiederverheiratung? Engagement für die Armen statt für die Kurie? Aktive Teilnahme der Laien an der Eucharistie? Ökumene? Alles schon einmal dagewesen: Bereits in der Frühen Neuzeit wurden diese Themen diskutiert, im 18. Jahrhundert insbesondere von Vertretern der katholischen Aufklärung.
Ulrich L. Lehner, Professor für Religionsgeschichte in Milwaukee, hat dazu 2016 ein Standardwerk vorgelegt, das nun auf Deutsch erschienen ist. Ausgehend vom Tridentinischen Konzil im 16. Jahrhundert zieht er eine lange historische Linie, die ins Zweite Vatikanische Konzil mündet. Die Suchbewegung richtet sich auf einen Katholizismus, der die Moderne nicht als Feind des Glaubens, sondern als Chance für die Vertiefung von Frömmigkeit und Spiritualität auffasst. Vertreter dieser Richtung akzeptieren die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, sie nehmen Sinnlichkeit ernst, bemühen sich um eine vernünftige Begründung dogmatischer Positionen und plädieren für Toleranz. Reformbereitschaft resultierte für die katholische Aufklärung aus der Einsicht in die Geschichtlichkeit der Kirche einschließlich der biblischen Offenbarung. Was geworden ist, kann sich auch zum Besseren verändern.
Dem Papst kam dabei die Position eines Bischofs unter anderen zu. Seine Autorität wurde regelmäßig in Frage gestellt, so dass zentralistische Bestrebungen eher im Sand verliefen. Eine wichtige Pointe der großen Erzählung besteht darin, dass sich der Ultramontanismus erst im Gefolge der Französischen Revolution und mit Napoleon gegen die katholische Aufklärung etabliert hat – auch hier also frisst die Revolution ihre Kinder. Danach galt der „Heilige Stuhl“ lange Zeit unangefochten als letzter Sachwalter des wahren Glaubens „in einer vom Liberalismus verdunkelten Welt“.
Lehners Darstellung beeindruckt durch enorme Materialfülle. Er findet Beispiele für einen „reformfreundlichen Katholizismus“ in ganz Europa, in Süd- und Nordamerika und in Asien. Seine Argumentation hat dabei eine apologetisch-revisionistische und eine eher destruktiv-kritische Komponente. Zu Gunsten katholischer Autoren und Geistlicher werden insbesondere jene Aussagen verbucht, die mit den Normen und Werten einer liberalen Bürgergesellschaft der Gegenwart übereinstimmen. Das Verfahren geht zu Lasten der säkularen Aufklärung. Deren Vertretern weist Lehner mit Vorliebe unangenehme Positionen nach: So plädierten selbst Kritiker der Sklaverei wie John Locke oder Montesquieu letztlich nicht für deren Abschaffung, weil sie von der Minderwertigkeit der „Neger“ überzeugt waren. Im Gegensatz dazu lehnte der Priester und spätere Bischof Henri Grégoire die Sklaverei grundsätzlich ab, weil er den Gedanken einer „Hierarchie der Menschenrassen“ verwarf, und zwar aufgrund seiner Glaubensüberzeugung. Lehner zufolge, besaß die religionsdistanzierte Aufklärung keinesfalls das Patent auf die allgemeine Geltung der Menschenrechte oder die Achtung der Menschenwürde.
Welche Bedeutung aber hatten die Reformstimmen innerhalb der katholischen Kirche? Und wie selektiv nimmt Lehner den Rest der Aufklärung wahr? Kurios erscheinen die Argumente für und wider die weibliche Emanzipation. Bekanntlich machte der Mainstream der männlichen Aufklärung auch bei diesem Thema keine gute Figur. Weibliche Intellektualität erschien verdächtig, Frauen wurden zu empfindsamen Wesen erklärt, deren Bestimmung sich im privaten Kreis der Familie als Mutter erfüllen sollte. Lehner formuliert provokativ: Die säkulare Aufklärung habe Frauen zu „Gebärmaschinen“ degradiert. Die katholische Kirche hingegen, die seit dem Tridentinum auf der freien Ehepartnerwahl beharrte, sei für die „Erfindung der ‚Liebe‘“ wesentlich mitverantwortlich. Sie verließ sich auf die göttliche Familienplanung, empfahl gelegentliche Enthaltsamkeit und die gemeinsame Feier von Hochzeitstagen. Auf diese Weise habe die Kirche eine „Entwicklung hin zur Intimität in der Ehe“ befördert und ein „Wachsen der ehelichen Partnerschaft“. Das klingt dann doch ein wenig zu einfach.
Frappierend ist auch die Idee, katholische Frauen-Orden, die gerade vom 16. bis 18. Jahrhundert gegründet wurden, zur Quelle des „Proto-Feminismus“ zu erklären. Entgegen landläufiger Meinung zielten nämlich gerade „Weibliche Orden“ darauf, „ihre Selbständigkeit und ihre Rechte auf Selbstverwaltung“ gegen männliche Bevormundung zu wahren. Die Alliteration „Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit“ wirkt offenbar sehr verführerisch.
Der Status solcher Thesen lässt sich nur schwer einschätzen. Lehner weist oft genug darauf hin, dass die von ihm zitierten katholischen Aufklärer eine Minderheit waren. Bei den Jesuiten beispielsweise sammelt er die Ordensleute ein, die Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften gegenüber offen waren, zugleich den „gesunden Menschenverstand“ schätzten, die Moral naturrechtlich ausrüsteten und überhaupt die sinnliche Erkenntnis nicht verachteten. Diese Jesuiten harmonisierten die Lehren der Bibel mit aktuellen philosophischen Positionen. Dass der Orden „im Großen und Ganzen … weiterhin auf der Studienordnung von 1599“ beharrte, „obwohl diese von nahezu allen Zeitgenossen als hoffnungslos veraltet angesehen wurde“, wird nebenbei erwähnt, verblasst indes angesichts des Fortschrittsberichts.
Der Gewinn dieses Verfahrens liegt zweifellos in einer eindrucksvollen Belegsammlung, die vor schlichten Verallgemeinerungen zur katholischen Geistesgeschichte bewahrt. Die Kosten bestehen jedoch darin, dass Lehner nicht eigentlich ein Buch über die „katholische Aufklärung“ als Epochenbewegung geschrieben hat, sondern über den „Reformkatholizismus“. Wenn er die „Heiligen, welche diese Zeit hervorbrachte“, für „bedeutender“ und „sicherlich einflussreicher“ als alles andere hält, „obwohl keiner von ihnen ein Freund der katholischen Aufklärung war“, dann weil diese „wichtige Anliegen der tridentinischen Reformbewegung“ verkörperten. Damit sind die historischen Längsbezüge von Tridentinum zum Zweiten Vatikanum entscheidend, nicht die epochalen Querbezüge.
Lehner fordert von einer „seriösen“ historischen Auseinandersetzung zum einen, dass diese „frei von aller Apologetik“ verfahre. Wer aber eine Reflexion darüber anregen möchte, ob Katholiken, die von staatlicher Seite wegen Glaubensentscheidungen verfolgt oder hingerichtet wurden, als Märtyrer aufgefasst werden sollen, bezieht doch einen konfessionell recht eindeutigen Standpunkt. Zum zweiten fordert Lehner, historische Phänomene in ihrem „Kontext“ aufzufassen. Auch dabei kommt ihm die reformkatholische Agenda ins Gehege. Anders als in seiner großen Studie über „aufgeklärte Mönche“ des Benediktinerordens (Enlightened Monks. The German Benedictines 1740-1803, Oxford 2011) werden institutionelle Rahmungen, Veränderungen des Sozialsystems oder der politischen Ordnung weitgehend ausgeblendet.
Damit bleibt häufig unklar, ob bestimmte Positionen aus einem katholischen Bekenntnis folgen, ob sie unabhängig davon bezogen werden oder vielleicht sogar in Spannung dazu stehen. Wenn die Vertreter des Katholizismus in Frankreich 1682 die „gallikanischen Freiheiten“ erklären und sich von Rom lossagen: Ist dies primär in eine lange Tradition demokratischer Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche zu stellen oder bildet die Etablierung des modernen Staates den privilegierten Kontext für ein angemessenes Verständnis? Lehner erwähnt durchaus solche alternativen Deutungsangebote, etwa im Fall des Trierer Weihbischofs Nikolaus von Hontheim, der in einer aufsehenerregenden Schrift „Über den Status der Kirche“ (1763) die Autorität des Papstes infrage gestellt hat. Diese Position lässt sich als Erneuerung „klassischer konziliaristischer Prinzipien“ verstehen oder als Reaktion auf die diplomatischen Interventionen päpstlicher Gesandter und damit auf zeitgenössische Probleme der Herausbildung staatlicher Souveränität. Lehner entscheidet sich stets gegen eine starke Historisierung und für den Anschluss an aktuelle reformkatholische Anliegen. Das erschwert die Einbettung der Ergebnisse in die Aufklärungsforschung, bietet aber der katholischen Kirche die Möglichkeit, sich von einer verschütteten Tradition inspirieren zu lassen.
STEFFEN MARTUS
Was geworden ist,
kann sich auch
zum Besseren verändern
Lehner entscheidet sich stets
für den Anschluss an
aktuelle Reformanliegen
Ulrich L.Lehner: Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. 271 Seiten, 39,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2018Weniger Heiligenfeste wären entschieden von Vorteil
Auf der Suche nach Vorläufern einer innerkirchlichen Kirchenkritik: Ulrich Lehner erzählt von katholischen Reformgeistern im Zeitalter der Aufklärung
In seinem pädagogischen Roman "Emile" lässt Jean-Jacques Rousseau 1762 einen katholischen Priester niederen Ranges auftreten. In einer langen Rede - dem "Glaubensbekenntnis eines Savoyischen Vikars" - erteilt der anonym bleibende Priester seinem achtzehnjährigen Schüler Religionsunterricht. Der Priester hält alle Religionen für gottgefällig. In seiner Predigt, so betont er, halte er sich mehr an den offenen Geist des Evangeliums als an den engen Geist der Kirche, weil das Evangelium nur wenige Dogmen, dafür aber umso ausführlichere Morallehren enthalte. Gewiss: Rousseau legt dem Priester seine eigenen Gedanken in den Mund. Doch wer Rousseaus Erzählung liest, kann kaum der Frage ausweichen: Hat es im achtzehnten Jahrhundert Priester dieser Art gegeben? Waren solche Ansichten im Klerus überhaupt möglich?
Die Antwort muss lauten: Ja, es gab solche Priester. Und auch Frauen, die ähnliche Gedanken über die Religion äußerten. Es gab sie in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen, sogar in Nord- und Südamerika und in Missionsländern wie Indien und China. Die Anfänge der Erforschung der "katholischen Aufklärung" liegen mehr als hundert Jahre zurück. Angestoßen durch einen Vortrag des Würzburger Kirchenhistorikers Sebastian Merkle auf dem Internationalen Historikerkongress in Berlin 1908, hat sich eine ganze Forschungsrichtung mit dem Thema beschäftigt. Vor einer Generation gab besonders der französische Historiker Bernard Plongeron der Erforschung des Themas neue Impulse, indem er auf die weltweite Verbreitung dessen verwies, was er als "la Aufklärung catholique" bezeichnete. Das deutsche Wort "Aufklärung" diente ihm als Fachwort, das die katholische Reformbewegung von jener geistigen Bewegung unterscheiden sollte, die im Französischen "les Lumières" heißt und sich mit Namen wie Voltaire und Diderot verbindet.
Unter den neueren Autoren, die sich dem Thema widmen, ragt Ulrich Lehner hervor, ein deutscher, an der katholischen Marquette University in Milwaukee lehrender Historiker. Neben eigenen greift er besonders auf neuere amerikanische Forschungen zurück, um als erster "Die katholische Aufklärung" einem breiten Publikum vorzustellen.
Die Frage, ob es überhaupt eine katholische Aufklärung gab, beantwortet eine von Lehner herangezogene Quelle, Benedikt Werkmeisters Buch "An die unbescheidenen Verehrer der Heiligen" (1801): "Zum Glücke können wir gute Katholiken sein, ohne an die Reliquienschätze auf dem Berge Andechs zu glauben", heißt es dort. Werkmeister fügt hinzu: "Aufgeklärte Katholiken sehen diese Dinge für weiter nichts an als für Spielwerk des Pöbels, und es wäre Zeit, auch dem Pöbel die Augen hierüber zu öffnen." Als Werkmeister sich gegen die Verehrung der Reliquien katholischer Heiliger ausspricht, ist er Pfarrer in Steinbach am Neckar. Seine Kritik am Reliquienkult ist noch die zahmste seiner Forderungen, die er an den Katholizismus stellt, denn er tritt auch für die Ehescheidung und die Abschaffung priesterlicher Ehelosigkeit ein. Werkmeister spricht ausdrücklich von "aufgeklärten Katholiken".
Lehners Interesse gilt der weiten geographischen Verbreitung der katholischen Aufklärung sowie deren Themen: Forderung nach Toleranz anderer Konfessionen, Verbesserung der Stellung der Frau, Kritik am Teufels- und Dämonenglauben, Bedenken gegenüber übermäßigem Heiligen- und Wunderglauben, Abschaffung der Sklaverei, Reduktion der arbeitsfreien und das Wirtschaftsleben beeinträchtigenden Heiligenfeste. Die Forderung nach Verbesserung der Bildung findet sich regelmäßig in den Schriften katholischer Aufklärer.
In Lehners Buch dominiert die erzählende Darstellung, während Analysen und begriffliche Überlegungen zurücktreten. In jedem Kapitel finden sich Anekdotisches und sehr viele Namen. Etwa fünfzig bis sechzig Männer und Frauen scheinen die Kerntruppe der kirchlichen Aufklärung des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts auszumachen. Leicht hat es der Autor mit diesen Kirchenmännern und Autorinnen nicht, denn anders als im Falle der protestantischen Aufklärung gibt es auf katholischer Seite niemanden, den das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt hat. Es begegnen keine bekannten Personen wie John Locke und Lessing - Vertreter der protestantischen Aufklärung; man muss praktisch alle Namen neu lernen und, da der Autor nur wenige Jahreszahlen nennt, gelegentlich auch auf Nachschlagewerke zurückgreifen. Was Lehner über Leben und Werk dieser Männer und Frauen zusammenträgt, wird die Forschung zweifellos beflügeln.
Die Erforschung der katholischen Aufklärung war bereits bei Sebastian Merkle mit einem apologetischen Motiv verbunden: mit dem Willen, dem (damaligen) modernistischen Katholizismus eine respektable Vorgeschichte zu verschaffen und ihn dadurch zu legitimieren. Auch in einschlägigen Arbeiten, die bald nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erschienen, ist das apologetische Anliegen spürbar, etwa bei Plongeron und Autoren wie dem Amerikaner Leonard Swidler. Sie vertieften sich in die Geschichte eines alternativen, von moderner Gedankenwelt bestimmten Katholizismus.
Auch Lehner scheut sich nicht, auf Parallelen zwischen heutigen kritischen Theologen und solchen des achtzehnten Jahrhunderts hinzuweisen und seine Sympathie für die von ihm angeführten Denkerinnen und Denker auszudrücken. Das in Reaktion auf die Französische Revolution eintretende Abklingen der katholischen Aufklärung vermerkt er mit Bedauern. Lehner hält nicht mit Wertungen zurück. Ohne den historiographischen Wert seines Buches zu gefährden, zeigt er sich auf Schritt und Tritt von seinem Thema fasziniert. Man legt sein reichhaltiges und gut recherchiertes Buch dankbar aus der Hand - und hofft auf Biographien und weitere Studien auf diesem Forschungsfeld.
BERNHARD LANG
Ulrich L. Lehner:
"Die katholische
Aufklärung".
Weltgeschichte einer Reformbewegung.
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. 271 S., br., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach Vorläufern einer innerkirchlichen Kirchenkritik: Ulrich Lehner erzählt von katholischen Reformgeistern im Zeitalter der Aufklärung
In seinem pädagogischen Roman "Emile" lässt Jean-Jacques Rousseau 1762 einen katholischen Priester niederen Ranges auftreten. In einer langen Rede - dem "Glaubensbekenntnis eines Savoyischen Vikars" - erteilt der anonym bleibende Priester seinem achtzehnjährigen Schüler Religionsunterricht. Der Priester hält alle Religionen für gottgefällig. In seiner Predigt, so betont er, halte er sich mehr an den offenen Geist des Evangeliums als an den engen Geist der Kirche, weil das Evangelium nur wenige Dogmen, dafür aber umso ausführlichere Morallehren enthalte. Gewiss: Rousseau legt dem Priester seine eigenen Gedanken in den Mund. Doch wer Rousseaus Erzählung liest, kann kaum der Frage ausweichen: Hat es im achtzehnten Jahrhundert Priester dieser Art gegeben? Waren solche Ansichten im Klerus überhaupt möglich?
Die Antwort muss lauten: Ja, es gab solche Priester. Und auch Frauen, die ähnliche Gedanken über die Religion äußerten. Es gab sie in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen, sogar in Nord- und Südamerika und in Missionsländern wie Indien und China. Die Anfänge der Erforschung der "katholischen Aufklärung" liegen mehr als hundert Jahre zurück. Angestoßen durch einen Vortrag des Würzburger Kirchenhistorikers Sebastian Merkle auf dem Internationalen Historikerkongress in Berlin 1908, hat sich eine ganze Forschungsrichtung mit dem Thema beschäftigt. Vor einer Generation gab besonders der französische Historiker Bernard Plongeron der Erforschung des Themas neue Impulse, indem er auf die weltweite Verbreitung dessen verwies, was er als "la Aufklärung catholique" bezeichnete. Das deutsche Wort "Aufklärung" diente ihm als Fachwort, das die katholische Reformbewegung von jener geistigen Bewegung unterscheiden sollte, die im Französischen "les Lumières" heißt und sich mit Namen wie Voltaire und Diderot verbindet.
Unter den neueren Autoren, die sich dem Thema widmen, ragt Ulrich Lehner hervor, ein deutscher, an der katholischen Marquette University in Milwaukee lehrender Historiker. Neben eigenen greift er besonders auf neuere amerikanische Forschungen zurück, um als erster "Die katholische Aufklärung" einem breiten Publikum vorzustellen.
Die Frage, ob es überhaupt eine katholische Aufklärung gab, beantwortet eine von Lehner herangezogene Quelle, Benedikt Werkmeisters Buch "An die unbescheidenen Verehrer der Heiligen" (1801): "Zum Glücke können wir gute Katholiken sein, ohne an die Reliquienschätze auf dem Berge Andechs zu glauben", heißt es dort. Werkmeister fügt hinzu: "Aufgeklärte Katholiken sehen diese Dinge für weiter nichts an als für Spielwerk des Pöbels, und es wäre Zeit, auch dem Pöbel die Augen hierüber zu öffnen." Als Werkmeister sich gegen die Verehrung der Reliquien katholischer Heiliger ausspricht, ist er Pfarrer in Steinbach am Neckar. Seine Kritik am Reliquienkult ist noch die zahmste seiner Forderungen, die er an den Katholizismus stellt, denn er tritt auch für die Ehescheidung und die Abschaffung priesterlicher Ehelosigkeit ein. Werkmeister spricht ausdrücklich von "aufgeklärten Katholiken".
Lehners Interesse gilt der weiten geographischen Verbreitung der katholischen Aufklärung sowie deren Themen: Forderung nach Toleranz anderer Konfessionen, Verbesserung der Stellung der Frau, Kritik am Teufels- und Dämonenglauben, Bedenken gegenüber übermäßigem Heiligen- und Wunderglauben, Abschaffung der Sklaverei, Reduktion der arbeitsfreien und das Wirtschaftsleben beeinträchtigenden Heiligenfeste. Die Forderung nach Verbesserung der Bildung findet sich regelmäßig in den Schriften katholischer Aufklärer.
In Lehners Buch dominiert die erzählende Darstellung, während Analysen und begriffliche Überlegungen zurücktreten. In jedem Kapitel finden sich Anekdotisches und sehr viele Namen. Etwa fünfzig bis sechzig Männer und Frauen scheinen die Kerntruppe der kirchlichen Aufklärung des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts auszumachen. Leicht hat es der Autor mit diesen Kirchenmännern und Autorinnen nicht, denn anders als im Falle der protestantischen Aufklärung gibt es auf katholischer Seite niemanden, den das kulturelle Gedächtnis aufbewahrt hat. Es begegnen keine bekannten Personen wie John Locke und Lessing - Vertreter der protestantischen Aufklärung; man muss praktisch alle Namen neu lernen und, da der Autor nur wenige Jahreszahlen nennt, gelegentlich auch auf Nachschlagewerke zurückgreifen. Was Lehner über Leben und Werk dieser Männer und Frauen zusammenträgt, wird die Forschung zweifellos beflügeln.
Die Erforschung der katholischen Aufklärung war bereits bei Sebastian Merkle mit einem apologetischen Motiv verbunden: mit dem Willen, dem (damaligen) modernistischen Katholizismus eine respektable Vorgeschichte zu verschaffen und ihn dadurch zu legitimieren. Auch in einschlägigen Arbeiten, die bald nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erschienen, ist das apologetische Anliegen spürbar, etwa bei Plongeron und Autoren wie dem Amerikaner Leonard Swidler. Sie vertieften sich in die Geschichte eines alternativen, von moderner Gedankenwelt bestimmten Katholizismus.
Auch Lehner scheut sich nicht, auf Parallelen zwischen heutigen kritischen Theologen und solchen des achtzehnten Jahrhunderts hinzuweisen und seine Sympathie für die von ihm angeführten Denkerinnen und Denker auszudrücken. Das in Reaktion auf die Französische Revolution eintretende Abklingen der katholischen Aufklärung vermerkt er mit Bedauern. Lehner hält nicht mit Wertungen zurück. Ohne den historiographischen Wert seines Buches zu gefährden, zeigt er sich auf Schritt und Tritt von seinem Thema fasziniert. Man legt sein reichhaltiges und gut recherchiertes Buch dankbar aus der Hand - und hofft auf Biographien und weitere Studien auf diesem Forschungsfeld.
BERNHARD LANG
Ulrich L. Lehner:
"Die katholische
Aufklärung".
Weltgeschichte einer Reformbewegung.
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2017. 271 S., br., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main