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Pius XII., Papst von 1939 bis 1958, soll selig gesprochen werden. Seit Jahren wird dieses Ansinnen vorangetrieben, das ursprünglich festgesetzte Datum musste jedoch bereits verschoben werden: Zu widersprüchlich sind die Aussagen über Pius´ Verhalten während des Holocaust. Während die einen in ihm einen engagierten Helfer und sogar Retter der Verfolgten sehen, halten die anderen ihn für einen eingefleischten Antisemiten. Daniel Jonah Goldhagen nimmt die Auseinandersetzungen um Pius XII. zum Anlass, die Haltung der gesamten katholischen Kirche zur Zeit des Holocaust einer längst überfälligen,…mehr

Produktbeschreibung
Pius XII., Papst von 1939 bis 1958, soll selig gesprochen werden. Seit Jahren wird dieses Ansinnen vorangetrieben, das ursprünglich festgesetzte Datum musste jedoch bereits verschoben werden: Zu widersprüchlich sind die Aussagen über Pius´ Verhalten während des Holocaust. Während die einen in ihm einen engagierten Helfer und sogar Retter der Verfolgten sehen, halten die anderen ihn für einen eingefleischten Antisemiten. Daniel Jonah Goldhagen nimmt die Auseinandersetzungen um Pius XII. zum Anlass, die Haltung der gesamten katholischen Kirche zur Zeit des Holocaust einer längst überfälligen, kritischen Untersuchung zu unterziehen: Er zeigt, dass die Kirche und der Papst weit tiefer in den Verfolgungsprozess verstrickt waren, als man bisher angenommen hat. Die Kirchenführer waren über die Verfolgung der europäischen Juden genau informiert. Doch anstatt öffentlich dagegen Stellung zu beziehen und zum Widerstand aufzurufen, unterstützten sie die Verfolgung in vielerlei Hinsicht. Einige Kleriker beteiligten sich sogar am Massenmord. Ausgehend von der historischen Untersuchung, wendet sich der Autor der zentralen Frage von Schuld und Sühne zu: Wie verhält sich die katholische Kirche, die moralische Instanz schlechthin, zu ihrer Verstrickung in den Holocaust? Goldhagen entwickelt Kriterien, anhand deren sich die schuldhafte Beteiligung der Institution wie des Einzelnen bewerten lassen. Er zeigt, dass die Kirche ihre Pflicht zur Sühne weder anerkannt noch erfüllt hat, und umreißt die Maßnahmen, die die katholische Kirche ergreifen müsste, um ihre Opfer moralisch zu entschädigen und sich selbst als Religion der Liebe und Güte zu rehabilitieren.
Autorenporträt
Daniel Jonah Goldhagen unterrichtete viele Jahre Politologie in Harvard, bis er sich entschloss, sich ausschließlich der Forschung und dem Schreiben von Büchern zu widmen. Goldhagen ist Mitglied des Minda de Gunzburg Center for European Studies in Harvard.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2002

Die Kirche – der erste Feind der Juden
Der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen kennt keine leisen Zwischentöne und wenig Details
Naive Fragen sind oft die besten. Daniel Jonah Goldhagen stellt eine solche naive Frage: Wie konnte es kommen, dass die katholische Kirche, die älteste und mitgliederstärkste Institution der Welt, nicht aufschrie, als in Deutschland, in Europa, die Juden diskriminiert, verfolgt, ermordet wurden? Dass keine päpstliche Enzyklika zum Widerstand gegen die Deportationen aufrief und kein Bischof seine Gläubigen zum Ungehorsam, dass diese Gläubigen nicht den Juden die Tür öffneten, um sie vor den Verfolgern zu schützen? Seriöse Historiker schütteln spätestens hier den Kopf, reden von Zeitumständen und historischen Gegebenheiten. Doch die Frage bleibt beängstigend, drängend.
Es sind nicht diese naiv-drängenden Fragen, die Goldhagens Buch über die katholische Kirche und den Holocaust so ärgerlich machen. Es sind die einfachen Antworten, die er glaubt, gefunden zu haben. Goldhagens zentrale These lautet: Die katholische Kirche formulierte, verbreitete und stützte jenen „eliminatorischen Antisemitismus”, der die Verbrechen der Nationalsozialisten ermöglichte. Mehr noch: Sie wurde, durch Unterlassen wie durch Handeln, zur Komplizin, sogar zur Mittäterin der Shoah. Goldhagen erweitert also seine Theorie aus „Hitlers willige Vollstrecker” über den deutschen Horizont hinaus. Alles, was der Autor auf fast 500 Seiten zusammenträgt, steht unter der absoluten Herrschaft dieser These. Es ist wie beim Märchen vom Aschenputtel: Passt der Fuß nicht in den Schuh, wird der Zeh abgehackt.
Schuld und keine Sühne
Die Geschichte der katholischen Kirche in der NS-Zeit ist eine Geschichte der Schuld. Da hat Goldhagen recht – so, wie die vielen Historiker, die das schon vorher gesagt haben und auf deren Materialsammlungen der Autor nun zurückgreift. Die deutschen Bischöfe waren nicht eben traurig, als die Weimarer Republik unterging. Wenn sie zu Hitler-Gegnern wurden, dann vor allem, weil sie ihre eigene Einflusssphäre vor der „Gleichschaltung” bewahren, die Gläubigen schützen wollten. Den Kommunisten und Juden galt ihre Sorge nicht, auch dann nicht, als einige von ihnen im Namen der Menschenrechte gegen die Ermordung von Behinderten und Geisteskranken protestierten. Lediglich der Berliner Kardinal Konrad Preysing setzte sich konsequent für die Juden ein.
Auch Papst Pius XII. lässt sich nicht als NS-Gegner darstellen, wie das die vatikanische Heiligsprechungskommission gerne täte. Er war strammer Antikommunist und sah in Faschisten, Falangisten und Nationalsozialisten im Zweifel das geringere Übel; er ließ den Entwurf einer Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus in der Schublade, fand kein kritisches Wort zu den „katholischen” Regimen, die auf dem Balkan wüteten. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass der christliche Antijudaismus dem rassistischen Antisemitismus den Boden bereitete. Es stimmt, dass die Erklärung „Wir erinnern” von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 in diesem Punkt nur unzureichend kirchliche Schuld eingesteht – da gab es auch einen Entwurf aus Deutschland, der viel klarer war. Kleinigkeiten, sicher, die Goldhagen aber nicht weiß.
Der Publizist aus Amerika ordnet alle diese Fakten in seine Generalthese ein – es war mörderischer Antisemitismus, der die katholische Kirche so handeln ließ, andere Motive, zum Beispiel das ausgeprägte Obrigkeitsdenken der Bischöfe, kommen ihm nicht in den Sinn. Die Unterscheidung zwischen rassischem Antisemitismus und traditionellem kirchlichem Antijudaismus lehnt Goldhagen als verkappt antisemitische Apologetik ab. Dass diese Differenzierung Standard ist unter den Historikern, übersieht er – genauso, dass es keine Entschuldigung für kirchliche Judenfeindschaft ist, den antikirchlich motivierten Rassismus von H.S. Chamberlain bis Alfred Rosenberg von ihr zu unterscheiden. Die „Enzyklopädie des Holocaust” tut das. Die von Goldhagen oft zitierten Autoren Georges Passelecq und Bernard Suchecky tun es auch, ohne dass ihr fundiertes Werk über die von Pius XII. „unterschlagene Enzyklika” kirchenfreundlich wird.
Aber wenn die Fakten zur Magd der These werden, spielt dies alles keine Rolle. So entsteht eine Montage aus Wahrheiten und Halbwahrheiten, richtigen und grotesken Interpretationen. Goldhagen kann das Reichskonkordat vom Juli 1933 nur deshalb als Freibrief für die NS-Politik darstellen, weil er verschweigt, dass es bereits in der Weimarer Republik Konkordate mit den demokratisch legitimierten Regierungen von Bayern, Baden, Preußen gegeben hatte (dass das Konkordat ein Fehler war, steht auf einem anderen Blatt). Die Bedenken des Vatikans gegen eine deutlichere Erklärung angesichts der Erfahrungen in den Niederlanden, wo nach einem Protest tausende Menschen deportiert wurden, wischt Goldhagen mit der Bemerkung weg, es gebe keinen Beweis, dass die Leute ohne Protest nicht abgeholt worden wären
(natürlich wäre aus der Perspektive des Jahres 2002 ein lauter Protest richtig gewesen).
So geht es immer weiter. Als Beleg dafür, dass Pius XII. ein rassischer Antisemit war, bringt Goldhagen lediglich eine Tagebuchaufzeichnung Pacellis aus dem Jahr 1919, nachdem ein Trupp der Münchner Räterepublik ihm das Auto konfisziert hatte und er in seiner Wut den Trupp als „Juden” beschimpfte. Dass die katholische Kirche von den Nazis als Gegnerin bekämpft wurde, kommt nur am Rande vor, auf einen Vergleich mit dem tief gespaltenen Protestantismus verzichtet Goldhagen. Merkwürdigerweise bekommt die Stuttgarter Erklärung von 1945 der evangelischen Kirche ein kurzes Lob, obwohl der Text des Stuttgarter Landesbischofs Theophil Wurm weit hinter dem deutlicheren Entwurf Martin Niemöllers zurückblieb. Die mutige, ehrliche und selbstkritische Erklärung der französischen Bischöfe von 1997 wiederum dient als Beleg, dass der Rest der Kirche sich noch nicht vom antisemitischen Klischee befreit hat.
Die Kirche vor dem Ende?
Ganze hundert Seiten lang diskutiert Goldhagen, wie denn nun die adäquate Sühne der katholischen Kirche aussehen sollte – für den Publizisten besteht sie unter anderem in der Auflösung des Vatikanstaates, einer grundlegenden Demokratisierung der Kirchenstrukturen und der Säuberung des Neuen Testaments von allen antisemitischen Stellen. Goldhagen kommt auf 460. Donnerwetter, werden sie sich im Vatikan sagen. Und tapfer an die Selbstauflösung gehen.
Nein, Goldhagens Buch ist kein Problem für den Vatikan, keins für die apologetische Fraktion der Kirchengeschichtler. Der konservative Politikwissenschaftler Konrad Löw hat das Gegenbuch schon vorgelegt – eine Auswahl, nicht weniger einseitig. Daniel Jonah Goldhagen schadet jenen Historikern, die seit Jahren gegen alle Widerstände versuchen, ein kritisches, aber der Wahrhaftigkeit verpflichtetes Bild der Kirchen im Nationalsozialismus zu zeichnen. Er schadet allen in der katholischen Kirche, die, gerade in den vergangenen Jahren, gegen alle Schönfärbereien und für ein ehrliches Schuldbekenntnis arbeiten. Er schadet am Ende jenem geistigen Prinzip, dem er vorgibt, sich verpflichtet zu fühlen: der Aufklärung.
MATTHIAS DROBINSKI
DANIEL JONAH GOLDHAGEN: Die
katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Siedler-Verlag Berlin, 475 Seiten, 24,90 Euro.
„Warum rief die katholische Kirche nicht zum Widerstand gegen die Judenverfolgung auf?”, fragt der umstrittene amerikanische Star-Autor und Historiker Daniel Goldhagen.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Dostojewski nahm es mit Schuld und Sühne genauer
Reizfigur Pius XII.: Hätte Daniel Goldhagen nur José Sánchez gelesen, wäre Goldhagen II nicht passiert / Von Konrad Repgen

Hitlers Judenmord und Pius XII." - das alte, emotionsgeladene Thema hat in den Vereinigten Staaten wieder Konjunktur. Zwei einschlägige Neuerscheinungen dieses Jahres erreichen jetzt in Übersetzung Deutschland. Sie unterscheiden sich nach Umfang und Preis schon sehr; nach Fragestellung, Vorgehensweise und Ergebnis sind sie wie Feuer und Wasser.

Goldhagen ist kein Unbekannter. Vor sechs Jahren erschien sein Wälzer "Hitlers willige Vollstrecker" mit der Zentralthese, daß die Deutschen, von Ausnahmen abgesehen, mit dem Judenmord einverstanden gewesen seien. Dieser These haben die Fachhistoriker fast unisono widersprochen, während das Buch ein Bestseller wurde und der junge Autor zum Medienstar aufstieg. Wird Goldhagen II an den Erfolg von 1996 anknüpfen? Am bewährten Marketing mangelt es nicht. Die deutsche Version erscheint sogar zeitgleich mit der New Yorker Originalausgabe (bei Alfred A. Knopf). Daher ist die Zuverlässigkeit der Übersetzung noch nicht überprüfbar. Sie macht keinen schlechten Eindruck. Ob auch diesmal, wie bei Goldhagen I, gewisse Abmilderungen vorgenommen worden sind, bleibt abzuwarten.

Goldhagen II bietet jedoch nicht, wie der Titel behauptet, eine "Untersuchung", sondern ist ein Plädoyer. Der Autor will mit seinem umfangreichen Buch, das viele Aspekte berücksichtigt, eine Verurteilung begründen, um Wiedergutmachung wegen des Holocaust, der die Folge des kirchlichen Antijudaismus gewesen sei, zu verlangen: materielle (unter acht Millionen Dollar), politische (Abschaffung des Vatikanstaates) und moralische (Eliminierung von 450 Judenfeindschaft verursachenden oder begünstigenden Versen der Evangelien und der Apostelgeschichte). Dabei ergeht er sich in ermüdenden Wiederholungen. So werden problematische Hypothesen zum Reichskonkordat von 1933 allein an sieben verschiedenen Stellen des Buches wiederholt.

Dem Plädoyer entspricht auch Goldhagens mitunter hämmernder Argumentationsstil, der drei, vier, fünf rhetorische Fragen suggestiv aneinanderreiht. Gibt es darauf keine befriedigende Antwort (oder kennt der Autor sie nicht), so ist "bewiesen", daß Schuld vorliege, die Wiedergutmachung erfordere. Der junge Politikwissenschaftler Goldhagen aus Harvard schreibt sein zweites Buch nicht wie ein Historiker, sondern wie ein Anwalt oder Ankläger in einem Wiedergutmachungsprozeß.

Die fundierte Kritik der Fachleute an Methode und Resultat von Goldhagen I ist an dem Autor abgeprallt. Er wiederholt seine Thesen von 1996 und hält an deren Gültigkeit unvermindert fest. Dort galt als Leitbegriff zur Erklärung der Massenmord-Aktionen der Jahre 1941/1945 die in Deutschland angeblich allgemein verbreitete Mentalität eines "eliminatorischen Antisemitismus". Der ziemlich nahtlose Übergang vom Verdrängen zum Vernichten verstand sich für ihn fast von selbst. "Töten ist nur eines von zahlreichen Mitteln der Ausschaltung", heißt es auch jetzt lapidar. In Goldhagen II geht es aber nicht mehr, wie 1996, um "die Deutschen", sondern um "die katholische Kirche". Damit meint er den Papst, die Bischöfe und den Seelsorgeklerus, nicht die Laien.

Warum nun gerade der hierarchische und klerikale Antijudaismus religiöser Art den Schlüssel für die Massenmorde von Babi Jar und Auschwitz bieten soll, erklärt Goldhagen II nicht, obwohl er gut weiß, daß "Antisemitismus allein kein Programm des systematischen Massenmordes hervorbringt". Einen angemessenen Zugang zur Lösung dieses Problems verstellt er sich jedoch mit Pauschalurteilen wie etwa: "Die Kirche, der Papst, die nationalen Kirchen, die Bischöfe und die Priester haben während des Holocaust insgesamt gefehlt." Auch wer dieses Urteil sich zu eigen machen wollte, hätte noch zu begründen, wie gerade dieses Fehlverhalten die Massenmord-Aktionen verursacht habe. Dazu müßte man sich allerdings auf viele Quellen einlassen und nicht, wie Goldhagen II, mit fleißigen, aber flüchtigen Exzerpten aus der Sekundärliteratur begnügen.

Nur wenn man, wie er, den (kirchlichen) Antijudaismus und den NS-Antisemitismus zu dicht zusammenrückt, kann der wüste Kirchenhasser Julius Streicher, dessen "Stürmer" in Artikeln und Karikaturen gleichermaßen gegen Juden wie gegen "Pfaffen" hetzte und den Kardinalstaatssekretär Pacelli als Kumpan des "Weltjudentums" attackierte, kann ausgerechnet Streicher als Zeuge für eine judenfeindliche Verwandtschaft zwischen Kirche und Nationalsozialismus figurieren. Dies ist eine ähnlich abwegige Konstruktion wie die These, daß das Reichskonkordat dem Regime das "Recht" zugestanden habe, "seine unverhüllt militaristischen, imperialistischen und rassistischen Ziele zu verfolgen".

Im Vertrag von 1933 steht das Gegenteil. Denn dort wird dem Klerus die "pflichtmäßige Verkündigung und Erläuterung der dogmatischen und sittlichen Lehren und Grundsätze der Kirche" ausdrücklich vorbehalten. Gehörten etwa Militarismus, Imperialismus und Rassismus im Jahre 1933 zum Dogma der katholischen Kirche? Plakativ, freilich ohne Beleg, wird im Text von des Papstes "Begeisterung für den deutschen Eroberungsfeldzug im Osten" gesprochen; dagegen steht nur irgendwo im Anmerkungskeller, daß der Vatikansender (am 21. Januar 1940) den Nationalsozialismus für schlimmer als den Kommunismus erklärt habe. Jongliert ein seriöser Historiker derart mit Behauptungen und Fakten?

Für einen Historiker mit wissenschaftlichem Anspruch eine befremdliche Maxime: "Da dieses Buch keine Übung in Geschichtsschreibung ist, begebe ich mich nicht in eine laufende Diskussion mit Ansichten dieser oder jener Autoren, die von den meinen abweichen mögen. Leser, die ihre Kenntnisse über diese Fragen zu vertiefen wünschen, können sich ihre Bücher und die anderer Autoren, die das Material anders deuten, ohne weiteres beschaffen." Das könnte man höchstens als freundlichen Aufruf zur Absatzförderung historischer Literatur gelten lassen; aber so wird Geschichte zum Steinbruch, dem für abstrakte Thesen über Schuld und Sühne Belege entnommen werden, die nicht begründen, sondern illustrieren. Auf deutschsprachige Texte bezieht er sich selten, auf lateinische, französische und italienische noch weniger und auf die Sprachen der Bibel schon gar nicht.

Es liegt nahe, daß bei dieser Vorgehensweise der Historie auf Schritt und Tritt Gewalt angetan wird. Ich will aber nicht die lange Litanei seiner groben Fehler und kleineren Schnitzer weiter ausbreiten. Ich möchte jedoch daran zweifeln, daß Goldhagens exegetische Kompetenz ausreicht, um ein überzeugendes Programm für die Eliminierung von 450 unbequemen Bibelstellen, wie es ihm vorschwebt, zu begründen.

In Umfang, Preis und Anspruch präsentiert sich die von Schöningh betreute Sánchez-Studie sehr viel bescheidener. Auch ist José M. Sánchez, Professor an der Jesuitenuniversität von St. Louis/Mo., bisher in Deutschland unbekannt. Das könnte sich nun ändern. Denn was er in betont ruhigem Duktus über die Anatomie der aktuellen Pius-XII.-Debatte geschrieben hat, bringt die Geschichtswissenschaft tatsächlich voran und öffnet dem breiteren, zeitgeschichtlich interessierten Publikum den Weg zu eigenem Urteil. Er will den Leser weder überreden noch emotionalisieren, sondern ihm eigenes Urteilen ermöglichen. Seine Schneise durch den Dschungel der neuesten Literatur über Pius XII. im Zweiten Weltkrieg ist dafür eine Hilfe.

Sánchez hält sich an die erprobten historischen Methoden und fragt in zwölf kurzen Kapiteln jeweils drei Dinge: Was möchten wir wissen? Welche Quellen haben wir dafür? Welche Antworten lassen sich darauf begründen sowie - sehr wichtig - welche Antworten nicht. Denn der Historiker ist nicht das Weltgericht und weiß nicht alles. Aber er vermittelt Einsicht, indem er den Leser nie darüber im unklaren läßt, was er eigentlich weiß und was nicht, wie weit sein Blick reicht, wie sicher seine Aussagen die Probe durch die Evidenz der Logik und der Quellen bestehen können. Sánchez erörtert die Probleme, während er die primären Quellen prüft, und bildet sich daraus eine eigene Meinung. Deshalb macht seine Lektüre wirklich klüger. Außerdem findet man bequem beisammen, was zum jeweiligen Punkt der Debatte die Kritiker des Papstes (wie John Cornwell, Suzan Zuccotti und Michael Phayer), seine Verteidiger (wie Margherita Marchione und Ronald Rychlak) oder ein Historiker, der einen Mittelweg sucht wie Giovanni Miccoli (Triest), geschrieben haben.

Etwas zu bedauern ist freilich, daß Sánchez in seinen Überblick nicht auch die große, vor zwei Jahren erschienene Studie von Hans Jansen, früher katholischer Priester, jetzt reformierter Pfarrer und Professor an der Freien Universität Brüssel, einbezogen hat. Auf 850 Seiten eines sehr materialreichen, allerdings niederländisch geschriebenen Buches, das "den Protest Pius XII. und seiner Mitarbeiter gegen die Judenverfolgung in Europa" behandelt, arbeitet Jansen einen Katalog von nicht weniger als vierzig "Protesten" des Papstes zugunsten der Juden heraus. Denn einfach "geschwiegen" hat Pius XII. bekanntlich nicht; aber er war im Zweiten Weltkrieg, wie Sánchez im Schlußteil überzeugend formuliert, eine zugleich "bemitleidenswerte und beeindruckende Gestalt". Die ständige Güterabwägung zwischen den beiden Amtspflichten, Stellvertreter Christi und Oberhaupt der Kirche zu sein, war nach des Papstes eigenen Worten "schmerzvoll schwer". Die Späteren, die in der Welt von heute leben, verstehen eine solche Problematik kaum noch unmittelbar. Sánchez erleichtert es ihnen; denn er will "einige der Legenden, die sich um das Rätsel ,Pius XII. und der Holocaust' ranken", begraben. Das ist ihm gelungen. So hebt er die Erinnerung an Persönlichkeit und Wirken des Pacelli-Papstes über Anklage und Verteidigung hinaus.

Daniel Jonah Goldhagen: "Die katholische Kirche und der Holocaust". Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese. Siedler Verlag, Berlin 2002. 480 S., 24 S/W-Abb., geb., 24,90 [Euro].

José M. Sánchez: "Pius XII. und der Holocaust". Anatomie einer Debatte. Aus dem Amerikanischen von Karl Nicolai. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002. 182 S., br., 13,90 [Euro].

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Schuld und Sühne
1996 hatte der US-amerikanische Politologe Daniel J. Goldhagen mit Hitlers willige Vollstrecker nicht nur in Deutschland heftige Diskussionen ausgelöst. "Die Goldhagen-Debatte" könnte nun ihre Fortsetzung finden. Die katholische Kirche und der Holocaust formuliert die große Frage nach moralischer Schuld und ihrer Wiedergutmachung und bezieht sie auf eine Institution, die auf dem höchsten moralischen Anspruch fußt, den Menschen formulieren können: das Werk Gottes auf Erden fortzusetzen.
"Klärung des Verhaltens"
Goldhagen hat sein dicht geschriebenes, über 400 Seiten starkes Buch in drei aufeinander aufbauende Teile gegliedert. Teil I untersucht, wie sich die katholische Kirche und namentlich Papst Pius XII. während der Nazizeit verhalten haben. Nach Goldhagen war Pius XII. "regelmäßig über die Einzelheiten der sich entwickelnden Massenvernichtung der Juden unterrichtet" und ging dennoch weder mit Worten noch in Taten dagegen vor. Betonend, dass es viele Ausnahmen, mutige Einzelne gegeben habe, formuliert Goldhagen seine höchst provokative These: Die katholische Kirche habe den Antisemitismus und "eleminatorische Bestrebungen mit Verständnis, Billigung und Unterstützung" bedacht.
Notwendigkeit und Kriterien der Wiedergutmachung
Teil II widmet sich dann der Frage nach der Beurteilung von Schuld. In Bezug auf die katholische Kirche kommt der Autor u.a. zu dem Schluss, dass niemand einer moralischen Prüfung dringender bedürfe als die katholische Kirche. Im dritten Teil schließlich reflektiert Goldhagen, welche Möglichkeiten zur Wiedergutmachung der katholischen Kirche offen stehen.
Ein hoher Anspruch
Der Band lässt sich durchaus als Fortsetzung seines erfolgreichen Vorgängers lesen. Es greift viele der moralischen Fragen auf, die in Hitlers willige Vollstrecker zwar enthalten, aber nicht ausgeführt waren. Insofern ist Die katholische Kirche und der Holocaust vielleicht sogar das anspruchsvollere, weil grundsätzlichere Buch. Goldhagen will ein theoretisches Instrumentarium zur Beurteilung von Schuld und Sühne zur Verfügung stellen, mit dem sich "alle anderen Verbrechen" ebenfalls beurteilen lassen. Ein gewaltiger Anspruch!
Erste Reaktionen
Im Übrigen hat die Diskussion um das Buch bereits begonnen: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, hat Goldhagens Vorwürfe im Stern als größtenteils unberechtigt zurückgewiesen. Dies dürfte nicht die letzte Reaktion auf Goldhagens Thesen gewesen sein.
(Eva Hepper, literaturtest.de)

"Die Radikalität, mit der Goldhagen seine Thesen entfaltet, zwingt uns zum Überdenken bisheriger Sichtweisen." (Volker Ullrich, Die Zeit, 1996)
"Wir sind in einer Renaissance des Nachdenkens - durch Goldhagen." (Hildegard Hamm-Brücher, 1996)
"Goldhagens Untersuchungen sind genau auf die Fragen zugeschnitten, die unsere privaten wie öffentlichen Diskussionen seit einem halben Jahrhundert polarisieren." (Jürgen Habermas, 1997)

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Daniel Jonah Goldhagen "unterzieht den Katholizismus einer 'moralischen Prüfung'", und der Rezensent Hanno Helbling fragt sich, inwiefern das "bahnbrechend" sein soll. Im Gegenteil. Goldhagen stehe in einer Tradition, die von Gunther Lewy bis zu John Cornwell reiche. Davon abgesehen vermisst Helbling ein "systematisches Quellenstudium": Die Zitate aus der "Primärliteratur" seien der "Sekundärliteratur" entnommen, und es fehlten größtenteils "direkte Zeugnisse". Auch dass Goldhagen in seiner Schuldzuweisung ausschließlich die Versäumnisse der Amtskirche im Blick hat, als wären die Katholiken deren ethische Mündel, findet Helbling seltsam. Als "Sühneleistung", so der Rezensent, fordert Goldhagen von der Kirche eine "Absage" an die "christliche Bibel", aufgrund antisemitischer Passagen in den Evangelien, doch "ignoriere" er damit einerseits die "geschichtlichen Umstände" und lasse andererseits die neuesten Textauslegungen völlig außer Acht. Goldhagens absoluten, über jegliche Kontingenz erhabenen Moralanspruch hält Helbling für äußerst fragwürdig. Aus Goldhagens Haltung, ein Abtun aller bereits geleisteten - und ihm bekannten - Analysebeiträge, kann der Rezensent eigentlich nur das Bestreben herauslesen, aus einer "Anklage" ein "Urteil" zu machen.

© Perlentaucher Medien GmbH
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