Ljudmila Ulitzkaja gibt mit überraschender Offenheit Auskunft über ihre persönliche Welt. Sie erzählt von ihrer Kindheit und Jugend in Moskau, von den Menschen und Büchern, die sie liebt, von ihrer früheren Tätigkeit als Genetikerin und davon, wie sie zum Schreiben kam. Dabei schlägt sie einen Bogen von der Geschichte ihrer Vorfahren bis zum Tagebuch ihrer Krebserkrankung. Zentral für ihr aktuelles Werk sind Politik und Kultur in Russland und ihr kritisches Verhältnis zu den Entwicklungen unter Putin. So eröffnet Ulitzkaja dem Leser einen Horizont russischer Alltagserfahrung, der auch Fragen der Moral, Ethik und Religion umschließt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.03.2015Das russische Volk hat seine moralische Orientierung verloren
Leb wohl, Europa! Ljudmila Ulitzkaja warnt vor einer Restauration des Stalinismus aus dem Geist der sowjetischen Geheimpolizei
Ljudmila Ulitzkaja, die Grande Dame der russischen Literatur, hat ein Buch geschrieben, das den Putin-Verstehern hierzulande zu denken geben wird. Es ist ein Buch über Leben und Tod, darüber, was am Ende bleibt, wenn wir unser Leben ausgemistet haben, und eines, das uns schmerzhaft vor Augen führt, wie politisch das Private sein kann. Ljudmila Ulitzkaja ist die wohl bekannteste und streitbarste russische Schriftstellerin dieser Tage, und, dies sei hinzugefügt, sie lebt ,noch' in Russland. Der schmale Band versammelt Essays und Tagebuchaufzeichnungen aus den vergangenen zwanzig Jahren, und wer sie liest, wird Russland, das uns wieder fremd und bedrohlich scheint, ein bisschen besser verstehen. Trost indes liegt darin kaum.
Zum "Heiligen Abfall", so der Titel im Original, gehört das Woher, die Familie: vergilbte Fotos und klare Erinnerungen. Der Urgroßvater, ein jüdischer Uhrmacher, starb mit der Tora in der Hand, beide Großväter wurden aufrechte Sowjetbürger, die ebenso aufrecht in Stalins Lager gingen. Die Großmütter blieben auf sich gestellt. Tags arbeitete die eine als Buchhalterin, nachts nähte sie Büstenhalter. Die besondere Ausprägung des sowjetischen Feminismus, der den Frauen einen ,gleichberechtigten' Arbeitsplatz selbst in der Schwerstindustrie zuwies, an den patriarchalischen Verhältnisse in Ehe und Politik allerdings kaum rüttelte, hinterlässt auch in dieser Familie seine Spuren. Nachdem die Männer aus dem GuLAg heimgekehrt waren, spielten sie wieder den Pascha. Die Frauen blieben das Rückgrat, der Halt - der Familie und des ganzen Landes. Bis heute krankt Russland an einer nicht nur demographischen Schieflage der Geschlechter, die auch aus dem Massentod der Männer in Lagern und Schützengräben rührt. Ulitzkaja selbst gelingt erst die dritte, inzwischen dreißig Jahre währende Ehe. Ihr Nachdenken über den Wert von Ehe und Familie heute ist nicht nur vor dem Hintergrund des mühseligen russischen Alltags mehr als lesenswert.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war auch der eines ohnehin fragilen Sozialnetzes. Immer wieder erlebt die sozial engagierte Autorin im Kampf gegen die bittere Not ihre eigene Ohnmacht. Der Staat kommt nicht nur autoritär daher, sondern auch mitleidlos, zynisch und korrupt. Einem Kinderheim, das einer Strafkolonie gleicht, stehen ganze neunzehn Rubel pro Kind zur Verfügung, weniger als ein Euro - pro Monat wohlgemerkt, nicht pro Tag. Und einer obdachlosen Großmutter mit sechs kleinen Enkeln kann auch mit Tausenden von Dollars nicht geholfen werden. Die Familie muss weiter auf dem Moskauer Bahnhof vegetieren, wo sie der Polizei Schmiergeld zahlt, damit man sie wenigstens in Ruhe lässt.
"Ich bin eine Expertin in Sachen Sterben", schreibt die heute Zweiundsiebzigjährige, die seit Jahren gegen den Krebs kämpft und bereits mehrere Freundinnen und Angehörige an die Krankheit verloren hat. Eine dieser tapferen Freundinnen starb in einem von ihr selbst gegründeten Hospiz, einem Ort, der sich der Willkür, Schlamperei und Korruption des russischen Gesundheitswesens entgegenstellt, einem System, in dem offiziell alles und in Wahrheit nichts umsonst ist. Ulitzkaja konnte sich diese Erfahrung zumindest teilweise ersparen, indem sie sich in Israel operieren ließ. Dem Tod ins Auge blickend, lernte sie die kleinen Dinge des Alltags wertschätzen, ja, Ulitzkaja begreift den Krebs als "Geschmacksverstärker" im Leben.
Wenn es um Politik geht, und um die geht es eigentlich immer in diesem lebensklugen Buch, dann sind die Aussichten düster bis schwarz. "Ich lebe in Russland. Ich bin eine russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung. Mein Land hat der Kultur, den Werten des Humanismus, der Freiheit der Persönlichkeit und der Idee der Menschenrechte den Krieg erklärt. Ich schäme mich für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat."
Das sind harte Worte für eine, die wie Ljudmila Ulitzkaja tief in Russlands Kultur verwurzelt ist, einer Kultur, deren Protagonisten, allen voran die der schreibenden Zunft, seit Jahrhunderten Felsen in der Brandung ideologischer Stürme und machtpolitischen Wahnsinns waren. Doch die Zeiten, in denen die russische Intelligenzija gegen die Mächtigen aufzustehen vermochte, sind vorbei. Längst, so Ulitzkaja, seien die Intellektuellen ihrer ökonomischen und moralischen Stellung beraubt, korrumpiert oder in die äußere oder innere Emigration getrieben worden. Die Reaktion auf diesen 2014 im Original abgedruckten Artikel kam prompt: Eine Pressekonferenz in Moskau wurde wegen "Wasserbruchs" abgesagt. Wie Kassandrarufe klingen Ljudmila Ulitzkajas Warnungen vor einer Restauration des Stalinismus aus dem Geist der sowjetischen Geheimpolizei. Die jüngsten Scharmützel sind ihr zufolge erst der Prolog zu einer nicht nur nationalen Katastrophe. "Den Epilog wird wohl niemand mehr schreiben können ... Leb wohl, Europa..."
SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja: "Die Kehrseite des Himmels". Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2015. 200 S., geb., 19,90 [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leb wohl, Europa! Ljudmila Ulitzkaja warnt vor einer Restauration des Stalinismus aus dem Geist der sowjetischen Geheimpolizei
Ljudmila Ulitzkaja, die Grande Dame der russischen Literatur, hat ein Buch geschrieben, das den Putin-Verstehern hierzulande zu denken geben wird. Es ist ein Buch über Leben und Tod, darüber, was am Ende bleibt, wenn wir unser Leben ausgemistet haben, und eines, das uns schmerzhaft vor Augen führt, wie politisch das Private sein kann. Ljudmila Ulitzkaja ist die wohl bekannteste und streitbarste russische Schriftstellerin dieser Tage, und, dies sei hinzugefügt, sie lebt ,noch' in Russland. Der schmale Band versammelt Essays und Tagebuchaufzeichnungen aus den vergangenen zwanzig Jahren, und wer sie liest, wird Russland, das uns wieder fremd und bedrohlich scheint, ein bisschen besser verstehen. Trost indes liegt darin kaum.
Zum "Heiligen Abfall", so der Titel im Original, gehört das Woher, die Familie: vergilbte Fotos und klare Erinnerungen. Der Urgroßvater, ein jüdischer Uhrmacher, starb mit der Tora in der Hand, beide Großväter wurden aufrechte Sowjetbürger, die ebenso aufrecht in Stalins Lager gingen. Die Großmütter blieben auf sich gestellt. Tags arbeitete die eine als Buchhalterin, nachts nähte sie Büstenhalter. Die besondere Ausprägung des sowjetischen Feminismus, der den Frauen einen ,gleichberechtigten' Arbeitsplatz selbst in der Schwerstindustrie zuwies, an den patriarchalischen Verhältnisse in Ehe und Politik allerdings kaum rüttelte, hinterlässt auch in dieser Familie seine Spuren. Nachdem die Männer aus dem GuLAg heimgekehrt waren, spielten sie wieder den Pascha. Die Frauen blieben das Rückgrat, der Halt - der Familie und des ganzen Landes. Bis heute krankt Russland an einer nicht nur demographischen Schieflage der Geschlechter, die auch aus dem Massentod der Männer in Lagern und Schützengräben rührt. Ulitzkaja selbst gelingt erst die dritte, inzwischen dreißig Jahre währende Ehe. Ihr Nachdenken über den Wert von Ehe und Familie heute ist nicht nur vor dem Hintergrund des mühseligen russischen Alltags mehr als lesenswert.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion war auch der eines ohnehin fragilen Sozialnetzes. Immer wieder erlebt die sozial engagierte Autorin im Kampf gegen die bittere Not ihre eigene Ohnmacht. Der Staat kommt nicht nur autoritär daher, sondern auch mitleidlos, zynisch und korrupt. Einem Kinderheim, das einer Strafkolonie gleicht, stehen ganze neunzehn Rubel pro Kind zur Verfügung, weniger als ein Euro - pro Monat wohlgemerkt, nicht pro Tag. Und einer obdachlosen Großmutter mit sechs kleinen Enkeln kann auch mit Tausenden von Dollars nicht geholfen werden. Die Familie muss weiter auf dem Moskauer Bahnhof vegetieren, wo sie der Polizei Schmiergeld zahlt, damit man sie wenigstens in Ruhe lässt.
"Ich bin eine Expertin in Sachen Sterben", schreibt die heute Zweiundsiebzigjährige, die seit Jahren gegen den Krebs kämpft und bereits mehrere Freundinnen und Angehörige an die Krankheit verloren hat. Eine dieser tapferen Freundinnen starb in einem von ihr selbst gegründeten Hospiz, einem Ort, der sich der Willkür, Schlamperei und Korruption des russischen Gesundheitswesens entgegenstellt, einem System, in dem offiziell alles und in Wahrheit nichts umsonst ist. Ulitzkaja konnte sich diese Erfahrung zumindest teilweise ersparen, indem sie sich in Israel operieren ließ. Dem Tod ins Auge blickend, lernte sie die kleinen Dinge des Alltags wertschätzen, ja, Ulitzkaja begreift den Krebs als "Geschmacksverstärker" im Leben.
Wenn es um Politik geht, und um die geht es eigentlich immer in diesem lebensklugen Buch, dann sind die Aussichten düster bis schwarz. "Ich lebe in Russland. Ich bin eine russische Schriftstellerin jüdischer Herkunft und christlicher Prägung. Mein Land hat der Kultur, den Werten des Humanismus, der Freiheit der Persönlichkeit und der Idee der Menschenrechte den Krieg erklärt. Ich schäme mich für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat."
Das sind harte Worte für eine, die wie Ljudmila Ulitzkaja tief in Russlands Kultur verwurzelt ist, einer Kultur, deren Protagonisten, allen voran die der schreibenden Zunft, seit Jahrhunderten Felsen in der Brandung ideologischer Stürme und machtpolitischen Wahnsinns waren. Doch die Zeiten, in denen die russische Intelligenzija gegen die Mächtigen aufzustehen vermochte, sind vorbei. Längst, so Ulitzkaja, seien die Intellektuellen ihrer ökonomischen und moralischen Stellung beraubt, korrumpiert oder in die äußere oder innere Emigration getrieben worden. Die Reaktion auf diesen 2014 im Original abgedruckten Artikel kam prompt: Eine Pressekonferenz in Moskau wurde wegen "Wasserbruchs" abgesagt. Wie Kassandrarufe klingen Ljudmila Ulitzkajas Warnungen vor einer Restauration des Stalinismus aus dem Geist der sowjetischen Geheimpolizei. Die jüngsten Scharmützel sind ihr zufolge erst der Prolog zu einer nicht nur nationalen Katastrophe. "Den Epilog wird wohl niemand mehr schreiben können ... Leb wohl, Europa..."
SABINE BERKING
Ljudmila Ulitzkaja: "Die Kehrseite des Himmels". Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2015. 200 S., geb., 19,90 [Euro]
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ob es Desillusionierung ist oder Altersweisheit, der sie in Ljudmila Ulitzkajas Essayband begegnet, scheint der Rezensentin Ilma Rakusa nicht eindeutig feststellbar. Lebenszugewandt und wahrhaftig, neugierig und zum Nachdenken bewegend sind die Texte über Putins Russland, Toleranz und Lüge, Geschlechterverhältnisse oder Schlaflosigkeit für Rakusa in jedem Fall. Eine der bedeutendsten russischen Gegenwartsautorinnen zeigt sich laut Rakusa hier von sehr persönlicher Seite, wenn sie über Freunde, ihre jüdischen Großeltern oder über prägende Lektüreerfahrungen schreibt. Zumeist spürt Rakusa in den Texten den Widerstand gegen ideologische Bevormundung, den Wunsch nach moralischer Integrität sowie andererseits die Angst und den produktiven Zweifel der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es ist ihre ebenso klare wie einfühlsame Sprache, die im scheinbar Fragmentarischen das grosse Ganze eines reichen Lebens aufscheinen lässt.« Klara Obermüller, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 26.04.15
"Sie erweist sich als kluge, warmherzige, einfühlsame und moralisch unbestechliche Zeitgenossin, die Selbstkritik ebenso beherrscht wie die Entlarvung unhaltbarer politischer Zustände." Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 09.04.15
"Ljudmila Ulitzkaja ist die vermutlich einflussreichste Schriftstellerin des heutigen Russlands." Elke Schmitter, Spiegel, 21.03.15
"...in hohem Maße lesenswert. Es sind sämtliche Aufzeichnungen einer lebenserfahrenen Frau, die genau weiß, wie politisch - zumal in Russland - das Private sein kann." Katharina Granzin, Frankfurter Rundschau, 10.03.15
"Ljudmila Ulitzkaja ist die wohl bekannteste und streitbarste russische Schriftstellerin dieser Tage ... Wer sie liest, wird Russland, das uns wieder fremd und bedrohlich scheint, ein bisschen besser verstehen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine, 04.03.15
"Klug und leidenschaftlich erzählt sie über ihren Alltag, über Freundschaft, Liebe, den Tod. Noch das Privateste ist bei ihr politisch, noch inder aussichtslosesten Situation gibt es einen Funken Hoffnung. Die Fragen, die sie stellt, die Ansichten, die sie äußert, fordern die Mächtigen Russlands heraus. Das Beste, was man von Literatur erwarten kann." Gabriele Denecke, ARD Titel, Thesen, Temperamente, 22.02.15
"Sie erweist sich als kluge, warmherzige, einfühlsame und moralisch unbestechliche Zeitgenossin, die Selbstkritik ebenso beherrscht wie die Entlarvung unhaltbarer politischer Zustände." Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 09.04.15
"Ljudmila Ulitzkaja ist die vermutlich einflussreichste Schriftstellerin des heutigen Russlands." Elke Schmitter, Spiegel, 21.03.15
"...in hohem Maße lesenswert. Es sind sämtliche Aufzeichnungen einer lebenserfahrenen Frau, die genau weiß, wie politisch - zumal in Russland - das Private sein kann." Katharina Granzin, Frankfurter Rundschau, 10.03.15
"Ljudmila Ulitzkaja ist die wohl bekannteste und streitbarste russische Schriftstellerin dieser Tage ... Wer sie liest, wird Russland, das uns wieder fremd und bedrohlich scheint, ein bisschen besser verstehen." Sabine Berking, Frankfurter Allgemeine, 04.03.15
"Klug und leidenschaftlich erzählt sie über ihren Alltag, über Freundschaft, Liebe, den Tod. Noch das Privateste ist bei ihr politisch, noch inder aussichtslosesten Situation gibt es einen Funken Hoffnung. Die Fragen, die sie stellt, die Ansichten, die sie äußert, fordern die Mächtigen Russlands heraus. Das Beste, was man von Literatur erwarten kann." Gabriele Denecke, ARD Titel, Thesen, Temperamente, 22.02.15