"Voller Farben, Geschmack und schmerzlicher Gefühle." InternazionaleIrgendwo im Süden, im Herzen der Stadt, wo die Menschen arm sind und das Gesetz der Straße gilt: Hier wachsen Mimmo, Cristofaro und Celeste auf. Sie haben Träume und Hoffnungen, obwohl ihnen der kindliche Blick längst abhanden gekommen ist.Mimmos Vater, der Fleischer des Viertels, betrügt seine Kunden mit einer präparierten Waage. Cristofaros Vater, ein Trinker, schlägt seinen Sohn jeden Abend. Und Celestes Mutter Carmela, die Prostituierte des Viertels, schickt ihre Tochter auf den Balkon, wenn sie ihre Freier empfängt. Die drei Kinder haben ein Idol: Totò, Ganove, der besser schießt als jeder andere. Sie wollen so sein wie er, sie wissen nicht, dass auch Totò von einem anderen Leben träumt ..."Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres." Corriere della Sera
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2020Das Gewicht der Wurst
Giosuè Calaciuras Roman "Die Kinder des Borgo Vecchio"
Jede Wette, dass zumindest hier und da der erste Impuls lautet: Nicht schon wieder ein Roman über den armen Süden Italiens. Und jede Wette, dass Adjektive wie "archaisch" und "atmosphärisch" die Sache nicht besser machen. Aber ebenfalls jede Wette, dass in diesem Zusammenhang zunächst niemand an Zeitvertreibe denkt wie den, auf das exakte Gewicht einer Mortadella Geld zu setzen.
Genau das aber tut man im Borgo Vecchio, im alten Armenviertel Palermos. Eine der wenigen Zerstreuungen besteht darin, auf alles und jeden zu wetten, auf Fußballspiele, Pferde und eben auf einen Trinker, Cristofaros Vater, der im Leben nicht mehr zustande bringt, als das Wurstgewicht aufs Gramm genau zu bestimmen.
Das hört sich eigentlich ganz sympathisch an, aber am Ende ist dieser Zocker die einzige wirklich brutal und fast eindimensional gezeichnete Figur: Er prügelt seinen Sohn zu Tode. Denn natürlich geht es in diesem Roman um Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Prekariat, wo bliebe sonst die Sicilianità?
Aber es wird neu erzählt: teils surrealistisch und langsam - eine Kunst bei einem derart kurzen Roman, der dennoch prall ist von Motiven, Gedanken und Themen -, mit einfacher Syntax und originellen Bildern. Verena von Koskull hat Calaciuras Italienisch gekonnt transponiert, so dass ihre deutsche Fassung in einer schlichten, aber nie naiven Sprache daherkommt. Da halten Markthändler mit Wasser ihr Gemüse wach, "das in der Dürre des Nachmittags weggedämmert war". Da schlüpft der Duft des Brotes "aus der Backstubentür und fiel hinterrücks über den Borgo Vecchio her. Obwohl zweimal am Tag gebacken wurde, frühmorgens und bei Sonnenuntergang, war die Verblüffung jedes Mal so groß, als wäre dieser Duft ganz neu, und voller Überzeugung, noch nie etwas Vergleichbares gerochen zu haben, bekreuzigte man sich."
In diesem olfaktorischen Rausch ist die "eigentliche" Geschichte rasch erzählt. Mimmo, Cristofaro und Celeste wachsen in einem Milieu der Tristesse und Gewalt auf. Trost finden sie miteinander, im Pferd Nanà, im Fußball, im Erdkundebuch und ein wenig auch noch in ihren Träumen. Für einen kurzen Moment wird der unabänderlich anmutende Lauf der Dinge und des Schicksals durchbrochen, als die lokale Gaunergröße Totò Celestes Mutter, die Hure Carmela, heiraten möchte, womit er in seiner Selbstwahrnehmung - warum kleckern, wenn man auch klotzen kann? - denn auch gleich die Weltrettung einläutet. Immerhin spricht er mit Cristofaros Vater, der seinen Sohn daraufhin vorerst nicht mehr prügelt.
Am Hochzeitstag verrät einer von Totòs Kumpanen, genauer der Trauzeuge, die kriminelle Größe an die Polizei. Dies ist womöglich der einzige erzählerisch schwache Moment, denn Calaciura legt seinem Totò einen letzten Gedanken in den Kopf: Judas! Diese Explizität tut dem ansonsten auf seine Bilder vertrauenden Roman nicht gut und hält die Leserschaft für dümmer, als sie sein kann, wenn sie Gefallen an dem Werk findet. Das Ende ist offen und sei der Spannung halber nicht verraten.
Giosuè Calaciura wurde 1960 in Palermo geboren und lebt heute in Rom. In seinen Werken spürt er immer wieder den Auswirkungen der Sozialisation und den Existenzbedingungen schutzloser Lebewesen nach. Eine Erzählsammlung heißt "Bambini e altri animali" (Kinder und andere Tiere). In den "Kindern des Borgo Vecchio" gibt es zwar für die wenigen Seiten recht viele Tote, trotzdem wird hier nie Brutalität in extenso beschrieben. Eher heftet Calaciura ihr das Etikett "in aeternum" an, denn Menschengewalt und Naturgewalt liegen bei ihm dicht beieinander. Es scheinen fast Konstanten im Gang der Geschichte. Dieser Sicht muss man nicht zustimmen. Aber der Roman gibt zu denken, heute vielleicht mehr denn je.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Giosuè Calaciura: "Die Kinder des Borgo Vecchio".
Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 160 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Giosuè Calaciuras Roman "Die Kinder des Borgo Vecchio"
Jede Wette, dass zumindest hier und da der erste Impuls lautet: Nicht schon wieder ein Roman über den armen Süden Italiens. Und jede Wette, dass Adjektive wie "archaisch" und "atmosphärisch" die Sache nicht besser machen. Aber ebenfalls jede Wette, dass in diesem Zusammenhang zunächst niemand an Zeitvertreibe denkt wie den, auf das exakte Gewicht einer Mortadella Geld zu setzen.
Genau das aber tut man im Borgo Vecchio, im alten Armenviertel Palermos. Eine der wenigen Zerstreuungen besteht darin, auf alles und jeden zu wetten, auf Fußballspiele, Pferde und eben auf einen Trinker, Cristofaros Vater, der im Leben nicht mehr zustande bringt, als das Wurstgewicht aufs Gramm genau zu bestimmen.
Das hört sich eigentlich ganz sympathisch an, aber am Ende ist dieser Zocker die einzige wirklich brutal und fast eindimensional gezeichnete Figur: Er prügelt seinen Sohn zu Tode. Denn natürlich geht es in diesem Roman um Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Prekariat, wo bliebe sonst die Sicilianità?
Aber es wird neu erzählt: teils surrealistisch und langsam - eine Kunst bei einem derart kurzen Roman, der dennoch prall ist von Motiven, Gedanken und Themen -, mit einfacher Syntax und originellen Bildern. Verena von Koskull hat Calaciuras Italienisch gekonnt transponiert, so dass ihre deutsche Fassung in einer schlichten, aber nie naiven Sprache daherkommt. Da halten Markthändler mit Wasser ihr Gemüse wach, "das in der Dürre des Nachmittags weggedämmert war". Da schlüpft der Duft des Brotes "aus der Backstubentür und fiel hinterrücks über den Borgo Vecchio her. Obwohl zweimal am Tag gebacken wurde, frühmorgens und bei Sonnenuntergang, war die Verblüffung jedes Mal so groß, als wäre dieser Duft ganz neu, und voller Überzeugung, noch nie etwas Vergleichbares gerochen zu haben, bekreuzigte man sich."
In diesem olfaktorischen Rausch ist die "eigentliche" Geschichte rasch erzählt. Mimmo, Cristofaro und Celeste wachsen in einem Milieu der Tristesse und Gewalt auf. Trost finden sie miteinander, im Pferd Nanà, im Fußball, im Erdkundebuch und ein wenig auch noch in ihren Träumen. Für einen kurzen Moment wird der unabänderlich anmutende Lauf der Dinge und des Schicksals durchbrochen, als die lokale Gaunergröße Totò Celestes Mutter, die Hure Carmela, heiraten möchte, womit er in seiner Selbstwahrnehmung - warum kleckern, wenn man auch klotzen kann? - denn auch gleich die Weltrettung einläutet. Immerhin spricht er mit Cristofaros Vater, der seinen Sohn daraufhin vorerst nicht mehr prügelt.
Am Hochzeitstag verrät einer von Totòs Kumpanen, genauer der Trauzeuge, die kriminelle Größe an die Polizei. Dies ist womöglich der einzige erzählerisch schwache Moment, denn Calaciura legt seinem Totò einen letzten Gedanken in den Kopf: Judas! Diese Explizität tut dem ansonsten auf seine Bilder vertrauenden Roman nicht gut und hält die Leserschaft für dümmer, als sie sein kann, wenn sie Gefallen an dem Werk findet. Das Ende ist offen und sei der Spannung halber nicht verraten.
Giosuè Calaciura wurde 1960 in Palermo geboren und lebt heute in Rom. In seinen Werken spürt er immer wieder den Auswirkungen der Sozialisation und den Existenzbedingungen schutzloser Lebewesen nach. Eine Erzählsammlung heißt "Bambini e altri animali" (Kinder und andere Tiere). In den "Kindern des Borgo Vecchio" gibt es zwar für die wenigen Seiten recht viele Tote, trotzdem wird hier nie Brutalität in extenso beschrieben. Eher heftet Calaciura ihr das Etikett "in aeternum" an, denn Menschengewalt und Naturgewalt liegen bei ihm dicht beieinander. Es scheinen fast Konstanten im Gang der Geschichte. Dieser Sicht muss man nicht zustimmen. Aber der Roman gibt zu denken, heute vielleicht mehr denn je.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Giosuè Calaciura: "Die Kinder des Borgo Vecchio".
Roman.
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 160 S., geb., 18,- [Euro].
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»Giosuè Calaciura versteht die Kunst, inmitten der Brutalität und Grausamkeit dieser Welt einen poetischen Ton anzuschlagen.« Gudrun Braunsperger ORF1 Büchersendung Ex Libirs 20200126