Afrika vor 200 000 Jahren. Der Junge Suth, das Mädchen Noli und vier ihrer Gefährten haben sich von ihrem Stamm getrennt, um auf eigene Faust neue gute Jagdgründe zu finden. Außer Stöcken und Steinen besitzen sie nichts, um sich gegen mordende Banden, gefährliche Tiere und verheerende Naturkatastrophen zu behaupten. Die einzigen Stärken, die sie den Bedrohungen entgegenzusetzen haben, sind ihr scharfer Verstand, ihr Erfindungsreichtum und ihre Fähigkeit, sich mit Hilfe der Sprache verständlich zu machen. Trotzdem gelingt es ihnen nicht immer, friedlich zusammenzuleben... Urgeschichte aus neuem Blickwinkel Großer Roman über die Geburt unserer Zivilisation Vielfach preisgekrönter Autor
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999Kampf mit dem Leoparden
Totemtiere und Träume: ein Kinderroman über die Frühgeschichte
Eine Geschichte aus der Urzeit der Menschheit: Sechs Kinder trennen sich von ihrem Stamm. Peter Dickinson, der 1927 im heutigen Sambia geboren wurde, hat aus dem Stoff einen großen Roman gesponnen und dazu eine imaginative Anthropologie, mit der er nach Afrika zurückkehrt, in eine Welt der totemistischen, nach Tier-Ahnen benannten Stämme, zu ihren Heiratsregeln, ihren Kämpfen um Nahrung und Sicherheit, zu ihren inneren Rivalitäten und ihren primitiven Werkzeugen. Es ist eine fremde und gefährliche Natur, in der die Kinder um ihr Überleben kämpfen: Ein Bergsee, aus dem nur zuweilen Schwefelgeruch aufsteigt, weist auf einen Vulkan.
Suth, der Junge an der Grenze zur männlichen Initiation, und Noli, das Mädchen, aus dem der Totem spricht, brechen in der Nacht auf. Im Traum hat Mondfalke, der Stammes-Ahn, Noli gewarnt: Die Marschroute des alten Häuptlings Bal geht fehl, Wasser ist anderswo zu finden. Gemeinsam retten Suth und Noli vier Kinder, die der Stamm zurückgelassen hatte: die kleinere Tinu, das scheue Mädchen mit dem schiefen Mund, das dann mit seinem Mut und seinem Erfindungsgeist zu einer der sympathischsten Figuren des Buches wird; noch kleiner sind Ko und Mana, Otan hat gerade erst laufen gelernt. Es geht um das nackte Überleben, aber auch, und dies in einem mehrfachen Sinn, um die Identität. Die beiden Älteren erleben die Krise innerer Veränderungen. Suth gelingt es, die Mannesprobe, die im alten Mondfalken-Stamm nicht mehr möglich war, auf eigene Faust zu überstehen. Als die Kinder von einem Leoparden angegriffen werden, rammt er ihm sein Grabscheit in den Rachen. Die Wunden, die er dafür einfängt, hinterlassen ziemlich genau die Narben, die er auch bei der Zeremonie erhalten hätte.
Aber die Identität steht auch in einem anderen Sinn auf dem Spiel: Die Kinder finden Asyl bei einem anderen Stamm. Dort hat man ein eigenes Interesse, die Fremden bei sich aufzunehmen: Es häufen sich die Missgeburten, der Stamm ist durch Inzucht verkommen und will die Kinder mit Zwang bei sich halten, um sich selbst zu erneuern und überlebensfähig zu werden. Die große Katastrophe eines Erdbebens mit anschließendem Vulkanausbruch erweist sich für die Kinder als Chance. Sie können sich retten. Wieder müssen sie neue Jagdgründe suchen. Aber im Sendesystem der Totemtiere ist Verwirrung ausgebrochen: Mondfalke spricht nicht mehr. Andere Wesen drängen sich in Nolis Traum-Empfangsstation.
Während der erste Teil Suths Eintritt in den Kreis der Männer zum Mittelpunkt hat, ist der zweite auf Nolis Bewährung konzentriert. Ihr Sehertum ist zugleich authentischer und offener als das des alten Häuptlings. Noli ist es, die gemeinsam mit den anderen Kindern erkennt, dass es sich bei den leicht andersfarbigen Stämmen, denen sie begegnen, nicht um Tiere handelt, sondern um Menschen, dass sie nicht nur Grunzlaute von sich geben, sondern sprechen, und dass die vorsichtige Kooperation Vorteile für alle bringt. Und Noli ist es, die, als der Stamm der Mondfalken wieder vereint ist, ihren Entschluss ausspricht, sich mit einem der Andersfarbigen zu verbinden. Eine neue Zeit bricht an, der Mondfalke spricht wieder zu ihr und durch sie, aber auch er ist anders geworden.
Besonders geglückt ist die Mythologie, die Dickinson in den "Ursagen" erzählt. Diese wechseln mit der Haupterzählung ab. So wird die abenteuerliche Geschichte durch ein System innerer Spiegelungen auf die totemistische Weltsicht bezogen, jeder einzelne Zug erscheint als Reflex. Der vorliegende Band erzählt den ersten Teil der Mondfalken-Geschichte. Ein zweiter, der eine spätere Epoche aus der Perspektive der jüngeren Kinder Ko und Mana erzählt, soll folgen.
LORENZ JÄGER
Peter Dickinson: "Die Kinder des Mondfalken". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carlsen Verlag, Hamburg 1999, 320 S., geb., 39,90 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Totemtiere und Träume: ein Kinderroman über die Frühgeschichte
Eine Geschichte aus der Urzeit der Menschheit: Sechs Kinder trennen sich von ihrem Stamm. Peter Dickinson, der 1927 im heutigen Sambia geboren wurde, hat aus dem Stoff einen großen Roman gesponnen und dazu eine imaginative Anthropologie, mit der er nach Afrika zurückkehrt, in eine Welt der totemistischen, nach Tier-Ahnen benannten Stämme, zu ihren Heiratsregeln, ihren Kämpfen um Nahrung und Sicherheit, zu ihren inneren Rivalitäten und ihren primitiven Werkzeugen. Es ist eine fremde und gefährliche Natur, in der die Kinder um ihr Überleben kämpfen: Ein Bergsee, aus dem nur zuweilen Schwefelgeruch aufsteigt, weist auf einen Vulkan.
Suth, der Junge an der Grenze zur männlichen Initiation, und Noli, das Mädchen, aus dem der Totem spricht, brechen in der Nacht auf. Im Traum hat Mondfalke, der Stammes-Ahn, Noli gewarnt: Die Marschroute des alten Häuptlings Bal geht fehl, Wasser ist anderswo zu finden. Gemeinsam retten Suth und Noli vier Kinder, die der Stamm zurückgelassen hatte: die kleinere Tinu, das scheue Mädchen mit dem schiefen Mund, das dann mit seinem Mut und seinem Erfindungsgeist zu einer der sympathischsten Figuren des Buches wird; noch kleiner sind Ko und Mana, Otan hat gerade erst laufen gelernt. Es geht um das nackte Überleben, aber auch, und dies in einem mehrfachen Sinn, um die Identität. Die beiden Älteren erleben die Krise innerer Veränderungen. Suth gelingt es, die Mannesprobe, die im alten Mondfalken-Stamm nicht mehr möglich war, auf eigene Faust zu überstehen. Als die Kinder von einem Leoparden angegriffen werden, rammt er ihm sein Grabscheit in den Rachen. Die Wunden, die er dafür einfängt, hinterlassen ziemlich genau die Narben, die er auch bei der Zeremonie erhalten hätte.
Aber die Identität steht auch in einem anderen Sinn auf dem Spiel: Die Kinder finden Asyl bei einem anderen Stamm. Dort hat man ein eigenes Interesse, die Fremden bei sich aufzunehmen: Es häufen sich die Missgeburten, der Stamm ist durch Inzucht verkommen und will die Kinder mit Zwang bei sich halten, um sich selbst zu erneuern und überlebensfähig zu werden. Die große Katastrophe eines Erdbebens mit anschließendem Vulkanausbruch erweist sich für die Kinder als Chance. Sie können sich retten. Wieder müssen sie neue Jagdgründe suchen. Aber im Sendesystem der Totemtiere ist Verwirrung ausgebrochen: Mondfalke spricht nicht mehr. Andere Wesen drängen sich in Nolis Traum-Empfangsstation.
Während der erste Teil Suths Eintritt in den Kreis der Männer zum Mittelpunkt hat, ist der zweite auf Nolis Bewährung konzentriert. Ihr Sehertum ist zugleich authentischer und offener als das des alten Häuptlings. Noli ist es, die gemeinsam mit den anderen Kindern erkennt, dass es sich bei den leicht andersfarbigen Stämmen, denen sie begegnen, nicht um Tiere handelt, sondern um Menschen, dass sie nicht nur Grunzlaute von sich geben, sondern sprechen, und dass die vorsichtige Kooperation Vorteile für alle bringt. Und Noli ist es, die, als der Stamm der Mondfalken wieder vereint ist, ihren Entschluss ausspricht, sich mit einem der Andersfarbigen zu verbinden. Eine neue Zeit bricht an, der Mondfalke spricht wieder zu ihr und durch sie, aber auch er ist anders geworden.
Besonders geglückt ist die Mythologie, die Dickinson in den "Ursagen" erzählt. Diese wechseln mit der Haupterzählung ab. So wird die abenteuerliche Geschichte durch ein System innerer Spiegelungen auf die totemistische Weltsicht bezogen, jeder einzelne Zug erscheint als Reflex. Der vorliegende Band erzählt den ersten Teil der Mondfalken-Geschichte. Ein zweiter, der eine spätere Epoche aus der Perspektive der jüngeren Kinder Ko und Mana erzählt, soll folgen.
LORENZ JÄGER
Peter Dickinson: "Die Kinder des Mondfalken". Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Carlsen Verlag, Hamburg 1999, 320 S., geb., 39,90 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main