Ab sofort als Serienadaption bei Disney+ verfügbar!Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem vermissten Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Ermittlungsmethoden in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind. Einer Welt, von der sie bis zu diesem Fall so gut wie nichts wusste. Ihre Arbeit findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und auch privat ist sie eine zurückgezogene Frau. Schon immer konnte sie mit ihrem Alleinsein umgehen. Mélanie dagegen kann ohne die Aufmerksamkeit ihrer Follower nicht leben. Alles, was sie ist und was sie erreicht hat, verdankt sie dem Netz. Nicht einen Moment kommt ihr der Gedanke, ihre Tochter könnte dieses Leben nicht lieben, könnte sich vielmehr danach sehnen, ein unbekanntes Mädchen zu sein. Den Vorwurf der Ausbeutung ihrer Kinder weist Mélanie verletzt von sich. Und doch wird sie Jahre nach Kimmys Verschwinden genau dessenangeklagt.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender hat ein paar Zweifel an der Indienstnahme der Literatur für aktuelle gesellschaftskritische Gedanken, wie sie Delphine de Vigan pflegt. Auch wenn die Autorin mit Humor und Überzeugungskraft die Geschichte einer Mutter erzählt, die ihre Kinder im Internet gewinnträchtig verheizt und in einen Entführungsfall schlittert, bleibt bei Bender das Gefühl einer etwas leblosen, sprachlich zu glatten Untersuchung mit einer moralischen Botschaft für Social-Media-Fans beizuwohnen. Die liebevoll gezeichnete Ermittlerin in diesem Krimi findet er allerdings durchaus sympathisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.07.2022Achtung, Youtube kann Ihr Aufwachsen behindern!
Mit Kindern Kasse machen in den sozialen Medien: Delphine de Vigans Gesellschaftskritik als Roman
Wieder mitten rein in die Schlammgrube der Gegenwart: Delphine de Vigans aktueller Roman, "Die Kinder sind Könige", nimmt sich wie seine Vorgänger ein aktuelles Problemthema vor. Diesmal geht es um Eltern, die ihre Kinder auf Youtube und Instagram exponieren, ausbeuten, verheizen. Konkret: Mélanie Claux und ihre Lieben, also der Ehemann Bruno Diore und die Kinder Sammy (acht Jahre, männlich) sowie Kimmy (sechs Jahre, weiblich). Die dürfen (Werbe-)Geschenke auspacken, Gags aufzeichnen, dümmliche Herausforderungen annehmen - alles mit dem Ziel, den Kanal Happy Récré (Happy Pause) im Bereich von fünf Millionen Abonnenten zu halten. Dass die lieben Kleinen nie die Chance hatten zu lernen, dass sie das eigentlich gar nicht wollen, ist die ganze Tragik der Geschichte.
Aufgezogen ist der Roman als Krimi: Eines schönen Tages im Jahre 2019 verschwindet Kimmy beim Versteckspielen. Angesichts von Jahreseinkünften jenseits der Million liegt eine Entführung nahe; tatsächlich geht kurz darauf eine Lösegeldforderung ein, die sich freilich als Scherz herausstellt. Eine Zeit lang verlaufen alle Spuren im Sand; die von Kimmy endet in der Tiefgarage, aus der irgendein roter Allerweltskleinwagen sie entführt haben muss. Schließlich treffen Botschaften des echten Entführers ein: Sie sind ernster, aber auch kryptischer, die Vorgänge werden mysteriöser - bis sich die Sache von allein zu lösen scheint.
Die Handlung wird aus zwei Perspektiven entwickelt: derjenigen von Mélanie Claux, die ernsthaft glaubt, mit ihren Followern in einer spirituell-emotionalen Gemeinschaft zu leben; den Profit nimmt sie gern und gierig mit, ihre eigentlichen Ziele sind jedoch Aufmerksamkeit und Liebe. Und derjenigen von Clara Roussel, "procédurière" bei der Kriminalpolizei und als solche für Dokumentation, Formalia und Kommunikation bei Ermittlungen zuständig. Die beiden Frauen sind als Gegensätze entworfen. Mélanie gibt die erfüllte Familienmutter, innere Leere kompensiert sie durch den emotionalen Kokon sozialer Medien. "Inzwischen jedoch waren die Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus zu ihrem Motor, zu ihrem Lebenszweck geworden: so etwas wie die Rendite einer emotionalen und effektiven Investition, auf die sie nicht verzichten konnte." Clara hingegen ist eine Einzelgängerin; die kleine, präzise und charismatische Frau stammt aus einer politisch links engagierten Familie. Sie blickt kritisch auf das Geschehen und hat eindeutig die Sympathie der Autorin.
Denn dass die mediale Exposition des Intimsten ein Verbrechen an den Kindern ist, daran lässt Vigan keinen Zweifel. Man kann ihr nur zustimmen: Es ist unverständlich, dass Eltern meinen, ihren Kindern damit etwas Gutes zu tun, wie der zynische Titel des Buches, der ein Selbstlob Mélanies zitiert, nahelegt. Leider hat die fiktive Figur reale Entsprechungen zuhauf: Als ob Chancen auf Verdienst und eine Influencerkarriere es wert wären, das Privatleben Minderjähriger zu opfern, ja den Kindern von vorneherein jedes Gefühl von Geborgenheit und sinnvoller Grenzziehung vorzuenthalten. Vigan begnügt sich nicht mit der Anklage, sondern präsentiert die Handlung als Abschnitt einer größeren Mediengeschichte. In einer Art Prolog, der im Jahr 2001 spielt, führt sie Mélanie und Clara als Konsumentinnen prägender Medienformate ein, nämlich Reality-Fernsehshows im Stil von "Big Brother" (französisch: Loft Story). Der Epilog hingegen spielt 2031 und zeigt die Folgeschäden bei den nunmehr erwachsenen Youtube-Kinder-Stars auf: Sammy ist ein Fall für die Psychiatrie, während Kimmy um ihr Leben und gegen ihre Mutter kämpft.
Der Roman macht eine Verlustrechnung auf, der nur Nerds und Werbeprofis widersprechen werden. Er warnt vor zu großer Hoffnung auf den Gesetzgeber, indem er die Möglichkeiten skrupelloser Eltern zeigt, Regelungen zu umgehen. Er spendet dennoch etwas Trost, indem er die Rabenmutter Mélanie vor die Trümmer ihres Lebens setzt: Balsam für leidende Leserseelen. Natürlich dient die Zerstörung ihres naiv-dreisten Lebenstraums als Lektion für alle Social-Media-Gläubigen, die es mal so richtig verdient haben. Vigan erzählt das spannend, aber mit relativ wenig Schadenfreude. Dennoch fragt sich der Leser mit jeder Seite dringlicher, ob "Die Kinder sind Könige" nicht allzu allegorisch ist.
Literatur sollte mehr zu beißen bieten als ein sprachlich und erzählerisch glatt durchkonjugiertes Exempel: So entsteht der Eindruck, dass sie zum transparenten - also: leblosen - Medium gesellschaftskritischer Überlegungen wird. In einem zweiten Schritt folgt die Frage, warum Vigan überhaupt den Roman wählt, wenn sie Themen wie Demenz, Alkoholismus oder Magersucht präsentiert. Ihre Texte sind illustrativ und bieten eine Minimaltherapie für zivilisationsmüde Leser, indem sie versichern, dass es eine positive Entwicklung gebe (in unserem Fall: kritischen Umgang mit Social Media) oder dass Gutes aus Leid erwachse. Nun mag man der Bibliotherapie, der Heilung durch Bücher, etwas abgewinnen; in der literaturwissenschaftlichen Forschung ist sie Modethema. Aber Texte, die darauf angelegt sind, überspringen die wichtige Etappe, ein eigengesetzliches Leben zu führen.
Anregend sind Vigans Romane, in ihren Positionen überzeugend, amüsant mitunter auch. Am Ende von "Die Kinder sind Könige" erlaubt die Autorin sich sogar eine paranoide Pointe, als sie andeutet, ein Schmetterling könnte eine Kamera tragen - Sammys Verfolgungswahn wäre berechtigt. Dennoch: Mit ihrer gut gemeinten Dienstbarmachung der Literatur arbeitet sie aktiv daran mit, die Widerständigkeiten unserer Welt zu schleifen. Zwar liefert Vigan noch keine Instagram-Kunst, aber Nützlichkeits- und Verwertungsdenken ist ihr leider nicht fremd. NIKLAS BENDER
Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige". Roman.
Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Verlag, Köln 2022. 318 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Kindern Kasse machen in den sozialen Medien: Delphine de Vigans Gesellschaftskritik als Roman
Wieder mitten rein in die Schlammgrube der Gegenwart: Delphine de Vigans aktueller Roman, "Die Kinder sind Könige", nimmt sich wie seine Vorgänger ein aktuelles Problemthema vor. Diesmal geht es um Eltern, die ihre Kinder auf Youtube und Instagram exponieren, ausbeuten, verheizen. Konkret: Mélanie Claux und ihre Lieben, also der Ehemann Bruno Diore und die Kinder Sammy (acht Jahre, männlich) sowie Kimmy (sechs Jahre, weiblich). Die dürfen (Werbe-)Geschenke auspacken, Gags aufzeichnen, dümmliche Herausforderungen annehmen - alles mit dem Ziel, den Kanal Happy Récré (Happy Pause) im Bereich von fünf Millionen Abonnenten zu halten. Dass die lieben Kleinen nie die Chance hatten zu lernen, dass sie das eigentlich gar nicht wollen, ist die ganze Tragik der Geschichte.
Aufgezogen ist der Roman als Krimi: Eines schönen Tages im Jahre 2019 verschwindet Kimmy beim Versteckspielen. Angesichts von Jahreseinkünften jenseits der Million liegt eine Entführung nahe; tatsächlich geht kurz darauf eine Lösegeldforderung ein, die sich freilich als Scherz herausstellt. Eine Zeit lang verlaufen alle Spuren im Sand; die von Kimmy endet in der Tiefgarage, aus der irgendein roter Allerweltskleinwagen sie entführt haben muss. Schließlich treffen Botschaften des echten Entführers ein: Sie sind ernster, aber auch kryptischer, die Vorgänge werden mysteriöser - bis sich die Sache von allein zu lösen scheint.
Die Handlung wird aus zwei Perspektiven entwickelt: derjenigen von Mélanie Claux, die ernsthaft glaubt, mit ihren Followern in einer spirituell-emotionalen Gemeinschaft zu leben; den Profit nimmt sie gern und gierig mit, ihre eigentlichen Ziele sind jedoch Aufmerksamkeit und Liebe. Und derjenigen von Clara Roussel, "procédurière" bei der Kriminalpolizei und als solche für Dokumentation, Formalia und Kommunikation bei Ermittlungen zuständig. Die beiden Frauen sind als Gegensätze entworfen. Mélanie gibt die erfüllte Familienmutter, innere Leere kompensiert sie durch den emotionalen Kokon sozialer Medien. "Inzwischen jedoch waren die Likes, die Herzchen, der virtuelle Applaus zu ihrem Motor, zu ihrem Lebenszweck geworden: so etwas wie die Rendite einer emotionalen und effektiven Investition, auf die sie nicht verzichten konnte." Clara hingegen ist eine Einzelgängerin; die kleine, präzise und charismatische Frau stammt aus einer politisch links engagierten Familie. Sie blickt kritisch auf das Geschehen und hat eindeutig die Sympathie der Autorin.
Denn dass die mediale Exposition des Intimsten ein Verbrechen an den Kindern ist, daran lässt Vigan keinen Zweifel. Man kann ihr nur zustimmen: Es ist unverständlich, dass Eltern meinen, ihren Kindern damit etwas Gutes zu tun, wie der zynische Titel des Buches, der ein Selbstlob Mélanies zitiert, nahelegt. Leider hat die fiktive Figur reale Entsprechungen zuhauf: Als ob Chancen auf Verdienst und eine Influencerkarriere es wert wären, das Privatleben Minderjähriger zu opfern, ja den Kindern von vorneherein jedes Gefühl von Geborgenheit und sinnvoller Grenzziehung vorzuenthalten. Vigan begnügt sich nicht mit der Anklage, sondern präsentiert die Handlung als Abschnitt einer größeren Mediengeschichte. In einer Art Prolog, der im Jahr 2001 spielt, führt sie Mélanie und Clara als Konsumentinnen prägender Medienformate ein, nämlich Reality-Fernsehshows im Stil von "Big Brother" (französisch: Loft Story). Der Epilog hingegen spielt 2031 und zeigt die Folgeschäden bei den nunmehr erwachsenen Youtube-Kinder-Stars auf: Sammy ist ein Fall für die Psychiatrie, während Kimmy um ihr Leben und gegen ihre Mutter kämpft.
Der Roman macht eine Verlustrechnung auf, der nur Nerds und Werbeprofis widersprechen werden. Er warnt vor zu großer Hoffnung auf den Gesetzgeber, indem er die Möglichkeiten skrupelloser Eltern zeigt, Regelungen zu umgehen. Er spendet dennoch etwas Trost, indem er die Rabenmutter Mélanie vor die Trümmer ihres Lebens setzt: Balsam für leidende Leserseelen. Natürlich dient die Zerstörung ihres naiv-dreisten Lebenstraums als Lektion für alle Social-Media-Gläubigen, die es mal so richtig verdient haben. Vigan erzählt das spannend, aber mit relativ wenig Schadenfreude. Dennoch fragt sich der Leser mit jeder Seite dringlicher, ob "Die Kinder sind Könige" nicht allzu allegorisch ist.
Literatur sollte mehr zu beißen bieten als ein sprachlich und erzählerisch glatt durchkonjugiertes Exempel: So entsteht der Eindruck, dass sie zum transparenten - also: leblosen - Medium gesellschaftskritischer Überlegungen wird. In einem zweiten Schritt folgt die Frage, warum Vigan überhaupt den Roman wählt, wenn sie Themen wie Demenz, Alkoholismus oder Magersucht präsentiert. Ihre Texte sind illustrativ und bieten eine Minimaltherapie für zivilisationsmüde Leser, indem sie versichern, dass es eine positive Entwicklung gebe (in unserem Fall: kritischen Umgang mit Social Media) oder dass Gutes aus Leid erwachse. Nun mag man der Bibliotherapie, der Heilung durch Bücher, etwas abgewinnen; in der literaturwissenschaftlichen Forschung ist sie Modethema. Aber Texte, die darauf angelegt sind, überspringen die wichtige Etappe, ein eigengesetzliches Leben zu führen.
Anregend sind Vigans Romane, in ihren Positionen überzeugend, amüsant mitunter auch. Am Ende von "Die Kinder sind Könige" erlaubt die Autorin sich sogar eine paranoide Pointe, als sie andeutet, ein Schmetterling könnte eine Kamera tragen - Sammys Verfolgungswahn wäre berechtigt. Dennoch: Mit ihrer gut gemeinten Dienstbarmachung der Literatur arbeitet sie aktiv daran mit, die Widerständigkeiten unserer Welt zu schleifen. Zwar liefert Vigan noch keine Instagram-Kunst, aber Nützlichkeits- und Verwertungsdenken ist ihr leider nicht fremd. NIKLAS BENDER
Delphine de Vigan: "Die Kinder sind Könige". Roman.
Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Verlag, Köln 2022. 318 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.05.2022Mein Kind soll Influencer werden
Beinharte Fröhlichkeit: Delphine de Vigan hat einen Roman über die Instagram-Wracks der Zukunft geschrieben
Ein sechsjähriges Kind ist entführt worden, die Ermittler tappen im Dunklen, keine Hypothese zur Lösung des Falls hält länger als drei Stunden. Mittlerweile hoffen die Kommissare schon auf eine Lösegeldforderung, dann wäre es wenigstens kein Kinderschänder. Kimmy ist ein hinreißend hübsches Mädchen, Millionen Menschen kennen sie, denn sie ist der Star der Youtube-Seite „Happy Récré“, die ihre Mutter Mélanie gegründet hat und die inzwischen, dank der Abertausenden Follower, aus Werbung und Product Placement ein Vermögen eingespielt hat.
Als endlich eine Geld-Forderung eintrifft, soll die zugunsten der Kinderschutz-Organisation „Enfance en danger“ sein. Die Eltern sind nur allzu bereit zu zahlen, die altgedienten Kriminalpolizisten aus der Zentrale der Pariser Kripo sind irritiert. Allein Clara, Angehörige der Mordkommission und Protokollantin des Falls, ahnt etwas. Sie hatte es auf sich genommen, sämtliche Storys und Posts mit und um Kimmy anzuschauen.
Aufgefallen war ihr die beinharte, brutale Fröhlichkeit der Mutter, wenn sie „meine Lieben“ zu Abos und Likes auffordert. „Hallo, meine Lieben, tausend Dank! Ihr wart sehr, sehr viele, die abgestimmt haben, um uns zu helfen, und ihr habt für Kimmy die goldenen Nike Air ausgesucht!“ Daneben die nachlassende Begeisterung des kleinen Mädchens, das wie ein dressiertes Tier zu allen möglichen Aktionen geleitet wurde, die die Mutter und die Produzenten der beworbenen Produkte sich ausgedacht hatten. Womöglich ist es keine Kindesentführung, sondern das Kind könnte sich dem Zwang immer neu zu produzierender Filmchen selbst entzogen haben.
Mit dem Ende der Ermittlung, Kimmy war in das Auto einer früheren Nachbarin gestiegen und ein paar Tage bei ihr geblieben, ist die Geschichte für die Autorin nicht zu Ende. Sie projiziert das Leben von Kimmy und ihrem Bruder Sammy ins Jahr 2031, in der sie volljährig sind. Kimmy will jetzt mit Claras Hilfe ihre Akten einsehen und erhebt Klage gegen ihre Mutter: Missbrauch und das Recht am eigenen Bild. Sammy, der bravere Sohn, hat noch eine Zeit großen Blogger-Ruhms erlebt, dann erfasste ihn der Verfolgungswahn.
Nur Mélanie, die Youtuber-Mutter, lässt nicht nach. Dabei geht es ihr noch nicht einmal um die Einnahmen: Es sind die Steigerungen der Follower-Zahlen, der Bedeutungszuwachs, der sie antreibt wie eine Sucht: „Sie brauchte die Aufmerksamkeit dieser Menschen. Ihre Komplimente. Sie gaben ihr das Gefühl, einzigartig zu sein. Ein Mensch, der Beachtung verdiente. Dafür musste sie sich nicht schämen.“ Parallel zu Mélanies Gier nach Publikum verspürt Clara genau wie die vielen Fans eine Faszination – ob es Mélanies Charisma ist oder ihre hübsche Tochter, lässt de Vigan offen. Stattdessen lässt sie zurückblicken auf Mélanies Jugend, als sie mit der Familie die französische Version von Dschungelcamp schaute und von deren Stars fasziniert war, während sie selbst ein eher unauffälliges Mädchen war, dem die eigene Mutter kaum ein Talent zugestand.
Schon zwei andere Büchern von Delphine de Vigan hatten das Thema, welche Verheerungen das Verhalten der Erwachsenen in den Seelen der Kinder anrichten kann. In „Das Lächeln meiner Mutter“ erzählt sie die Geschichte einer Frau, die als Mädchen in den Fünfzigern und Sechzigern durch Vermittlung ihrer Mutter erfolgreich Model ist und später eine völlig zerrüttete Existenz; in „Loyalitäten“ zeigt sie, dass Kinder zu ihren Eltern halten, wie schlimm die auch mit ihnen umgehen, und wie sehr es auf ihnen lasten kann, wenn sie unversehens für die Eltern Verantwortung tragen müssen.
Die Erträge ihrer Recherchen kleidet de Vigan in kurze Dialoge oder macht sie zu Elementen der Handlung. Vergleiche mit früheren Fällen von Kindesentführung und die typografisch abgesetzten Protokolle der Polizei lassen diesen Roman streckenweise wie einen Bericht erscheinen. Im Deutschen haben die unterschiedlichen Register ihres Vokabulars dank der Übersetzerin eine gelungene Entsprechung gefunden. Wie bereits bei ihren vorhergegangenen Büchern, mag man den Roman deshalb kaum noch aus der Hand legen: die Kriminalgeschichte einer vermeintlichen Entführung, dazu der engagierte Roman um die Auswirkungen der sozialen Medien und schließlich das psychologische Drama einer Abhängigen, ihres in Co-Abhängigkeit gefangenen Mannes und der ihr ausgelieferten Kinder, von denen das eine in Loyalität verharrt, bis der Schaden angerichtet ist, während das andere noch rechtzeitig aussteigen kann.
RUDOLF VON BITTER
Sammy hat noch Blogger-Ruhm
erlebt, dann erfasste ihn
der Verfolgungswahn
Delphine de Vigan:
Die Kinder sind Könige. Roman. Aus dem
Französischen von
Doris Heinemann.
Dumont Verlag,
Köln 2022.
320 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Beinharte Fröhlichkeit: Delphine de Vigan hat einen Roman über die Instagram-Wracks der Zukunft geschrieben
Ein sechsjähriges Kind ist entführt worden, die Ermittler tappen im Dunklen, keine Hypothese zur Lösung des Falls hält länger als drei Stunden. Mittlerweile hoffen die Kommissare schon auf eine Lösegeldforderung, dann wäre es wenigstens kein Kinderschänder. Kimmy ist ein hinreißend hübsches Mädchen, Millionen Menschen kennen sie, denn sie ist der Star der Youtube-Seite „Happy Récré“, die ihre Mutter Mélanie gegründet hat und die inzwischen, dank der Abertausenden Follower, aus Werbung und Product Placement ein Vermögen eingespielt hat.
Als endlich eine Geld-Forderung eintrifft, soll die zugunsten der Kinderschutz-Organisation „Enfance en danger“ sein. Die Eltern sind nur allzu bereit zu zahlen, die altgedienten Kriminalpolizisten aus der Zentrale der Pariser Kripo sind irritiert. Allein Clara, Angehörige der Mordkommission und Protokollantin des Falls, ahnt etwas. Sie hatte es auf sich genommen, sämtliche Storys und Posts mit und um Kimmy anzuschauen.
Aufgefallen war ihr die beinharte, brutale Fröhlichkeit der Mutter, wenn sie „meine Lieben“ zu Abos und Likes auffordert. „Hallo, meine Lieben, tausend Dank! Ihr wart sehr, sehr viele, die abgestimmt haben, um uns zu helfen, und ihr habt für Kimmy die goldenen Nike Air ausgesucht!“ Daneben die nachlassende Begeisterung des kleinen Mädchens, das wie ein dressiertes Tier zu allen möglichen Aktionen geleitet wurde, die die Mutter und die Produzenten der beworbenen Produkte sich ausgedacht hatten. Womöglich ist es keine Kindesentführung, sondern das Kind könnte sich dem Zwang immer neu zu produzierender Filmchen selbst entzogen haben.
Mit dem Ende der Ermittlung, Kimmy war in das Auto einer früheren Nachbarin gestiegen und ein paar Tage bei ihr geblieben, ist die Geschichte für die Autorin nicht zu Ende. Sie projiziert das Leben von Kimmy und ihrem Bruder Sammy ins Jahr 2031, in der sie volljährig sind. Kimmy will jetzt mit Claras Hilfe ihre Akten einsehen und erhebt Klage gegen ihre Mutter: Missbrauch und das Recht am eigenen Bild. Sammy, der bravere Sohn, hat noch eine Zeit großen Blogger-Ruhms erlebt, dann erfasste ihn der Verfolgungswahn.
Nur Mélanie, die Youtuber-Mutter, lässt nicht nach. Dabei geht es ihr noch nicht einmal um die Einnahmen: Es sind die Steigerungen der Follower-Zahlen, der Bedeutungszuwachs, der sie antreibt wie eine Sucht: „Sie brauchte die Aufmerksamkeit dieser Menschen. Ihre Komplimente. Sie gaben ihr das Gefühl, einzigartig zu sein. Ein Mensch, der Beachtung verdiente. Dafür musste sie sich nicht schämen.“ Parallel zu Mélanies Gier nach Publikum verspürt Clara genau wie die vielen Fans eine Faszination – ob es Mélanies Charisma ist oder ihre hübsche Tochter, lässt de Vigan offen. Stattdessen lässt sie zurückblicken auf Mélanies Jugend, als sie mit der Familie die französische Version von Dschungelcamp schaute und von deren Stars fasziniert war, während sie selbst ein eher unauffälliges Mädchen war, dem die eigene Mutter kaum ein Talent zugestand.
Schon zwei andere Büchern von Delphine de Vigan hatten das Thema, welche Verheerungen das Verhalten der Erwachsenen in den Seelen der Kinder anrichten kann. In „Das Lächeln meiner Mutter“ erzählt sie die Geschichte einer Frau, die als Mädchen in den Fünfzigern und Sechzigern durch Vermittlung ihrer Mutter erfolgreich Model ist und später eine völlig zerrüttete Existenz; in „Loyalitäten“ zeigt sie, dass Kinder zu ihren Eltern halten, wie schlimm die auch mit ihnen umgehen, und wie sehr es auf ihnen lasten kann, wenn sie unversehens für die Eltern Verantwortung tragen müssen.
Die Erträge ihrer Recherchen kleidet de Vigan in kurze Dialoge oder macht sie zu Elementen der Handlung. Vergleiche mit früheren Fällen von Kindesentführung und die typografisch abgesetzten Protokolle der Polizei lassen diesen Roman streckenweise wie einen Bericht erscheinen. Im Deutschen haben die unterschiedlichen Register ihres Vokabulars dank der Übersetzerin eine gelungene Entsprechung gefunden. Wie bereits bei ihren vorhergegangenen Büchern, mag man den Roman deshalb kaum noch aus der Hand legen: die Kriminalgeschichte einer vermeintlichen Entführung, dazu der engagierte Roman um die Auswirkungen der sozialen Medien und schließlich das psychologische Drama einer Abhängigen, ihres in Co-Abhängigkeit gefangenen Mannes und der ihr ausgelieferten Kinder, von denen das eine in Loyalität verharrt, bis der Schaden angerichtet ist, während das andere noch rechtzeitig aussteigen kann.
RUDOLF VON BITTER
Sammy hat noch Blogger-Ruhm
erlebt, dann erfasste ihn
der Verfolgungswahn
Delphine de Vigan:
Die Kinder sind Könige. Roman. Aus dem
Französischen von
Doris Heinemann.
Dumont Verlag,
Köln 2022.
320 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Die Kinder sind Könige« ist so spannend, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. [...] Ein Roman, der sich gerade durch diesen Widerspruch so interessant macht, dass man ihn, kaum am Ende angekommen, gleich wieder von vorne lesen möchte« FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG »Wie bereits bei ihren vorhergegangenen Büchern, mag man den Roman [...] kaum noch aus der Hand legen« Rudolf von Bitter, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Dass die mediale Exposition des Intimsten ein Verbrechen an den Kindern ist, daran lässt Vigan keinen Zweifel. Man kann ihr nur zustimmen.« Niklas Bender, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »Eine der kraftvollsten französischen Gegenwartsautorinnen.« NDR KULTUR »Ein gelungenes literarisches Werk [...] Sprachlich brillant.« Birgit Koß, DEUTSCHLANDFUNK KULTUR »Es reizt sie [de Vigan], der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, ohne die Rolle der Scharfrichterin zu spielen.« Ute Cohen, DIE WELT »Mit 'Die Kinder sind Könige' hat [Delphine de Vigan] jetzt ihr Meisterwerk geschrieben - einen Roman, der sich wie ein Thriller liest.« Marietta Bernasconi, WDR 2 »Aktueller kann ein Roman nicht sein!« Bernd Kielmann, BUCH-MAGAZIN »Ein hochaktueller, packender Roman.« Tanja Reuschling, FLOW »So wie der Roman geschickt mit Elementen aus Kriminal-, Medien- und Gesellschaftsroman spielt, so zieht die Autorin auch stilistisch verschiedene Register.« Oliver Pfohlmann, TAZ »Ein weiterer kurzweiliger Roman von Delphine de Vigan, in dem es um gar nicht so kurzweilige Problematiken geht.« SÜDDEUTSVHE ZEITUNG BÜCHER DES MONATS »[de Vigan] schreibt über dieses hochaktuelle Thema wieder einmal in jener einzigartigen Mischung aus kühler Genauigkeit und poetischer Empathie, die auch ihre früheren Bücher auszeichnen.« Jutta Duhm-Heitmann, WDR »Ein fesselnder, ausgesprochen erhellender Roman« Saskia Aaro, FREUNDIN »Mit großer Erzählkunst und einem atemberaubenden Plot regt Delphine de Vigan in 'Die Kinder sind Könige' wieder einmal auf ihre einfühlsame Weise zum Nachdenken über ein hochbrisantes Thema an.« Franziska Trost, KRONEN ZEITUNG »Aufwühlend!.[...] Ein tolles Buch.« Jörg Magenau, RBB KULTUR »Eine Empfehlung von uns beiden - unbedingt! [...] Ein Buch, das man eigentlich allen Eltern schenken kann« Jan Ehlert & Katharina Mahrenholtz, NDR EAT.READ.SLEEP »Sie schreibt über dieses hochaktuelle Thema wieder einmal in jener einzigartigen Mischung aus kühler Genauigkeit und poetischer Empathie, die auch ihre früheren Bücher auszeichnete.« Jutta Duhm-Heitzmann, WDR »Großartig wäre es, wenn dieses Buch von Delphine de Vigan sofort zur Schullektüre würde. Es ist wahrlich spannend genug, um Leserinnen und Leser aller Altersklassen zu fesseln.« Annemarie Stoltenberg, NDR KULTUR »Möge dieses Buch wachrütteln.« Barbara Weitzel, WELT AM SONNTAG »Sind diese Kinder Könige oder vielleicht doch eher Sklaven?« Annabelle Hirsch, FAZ QUARTERLY »Nüchtern, sozialkritisch, situationskomisch« Christine Ritzenhoff, EMOTION »Eine der meistbeachteten literarischen Stimmen Frankreichs.« Romy Strassenburg, DER FREITAG »'Die Kinder sind Könige' überrascht nicht nur mit einer unerwarteten kriminalistischen Auflösung, sondern vor allem mit einer Vielschichtigkeit, die zum Nachdenken anregt.« Sibylle Peine, DPA »Delphine de Vigan hat ein untrügliches Gespür für gesellschaftliche Abgründe.« Martina Läubli, NZZ AM SONNTAG »Eine brillante Mischung aus Auftrag, Empathie, Diskurshoheit und Offenheit.« René Hamann, NEUES DEUTSCHLAND »So grandios wie verstörend« Cornelia Geissler, BERLINER ZEITUNG »Mit feinem, genauem Blick auf psychische Vorgänge sensibilisiert die Autorin für ein brisantes Thema.« Karin Schütze, OÖNACHRICHTEN »De Vigan [gelingt es], mit großer Eindringlichkeit auf die Fallstricke der schönen, neuen Social-Media-Welt hinzuweisen.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Dieses Buch sollte Schullektüre werden« Kristian Teetz, RND »Zu fesseln, ja aufzurütteln vermögen 'Die Kinder sind Könige'.« Julia Schröder, STUTTGARTER ZEITUNG »'Die Kinder sind Könige' überrascht nicht nur mit einer unerwarteten kriminalistischen Auflösung, sondern vor allem mit einer Vielschichtigkeit, die zum Nachdenken anregt.« Cornelia Geißler, FRANKFURTER RUNDSCHAU »Ein wichtiges Buch« Katja Kraft, MÜNCHNER MERKUR »Dass man sich bestens unterhalten fühlt, liegt am bitterbösen Humor und der gekonnt orchestrierten Spannung.« Georg Renöckl, FALTER »Ein wichtiges Buch« Michael Mahnke, LAND UND FORST »Beklemmend und brillant« Madelaine Gullert, AACHENER ZEITUNG »Ein guter und ein notwendiger Roman« Wolfgang Schütz, AUGSBURGER ALLGEMEINE »schrecklich, erhellend und trotzdem so spannend, dass man es kaum aus der Hand legen kann.« Gabi Rudolph, FAST FORWARD MAGAZINE
Rezensent Rudolf von Bitter kann Delphine de Vigans Roman über eine Mutter, die ihre kleine Tochter auf Youtube vermarktet, bis das Kind schließlich verschwindet, kaum aus der Hand legen. Geschickt findet er de Vigans Montage von Recherchen und Polizeiprotokollen zu einer auf verschiedenen Zeitebenen spielenden Kriminalgeschichte mit beinharter Kritik an den sozialen Medien, an medialer Selbstvermarktung und Eltern, die ihre Kinder instrumentalisieren. Auch sprachlich scheint ihm der Text überzeugend. Der Registerreichtum ist auch in der deutschen Übersetzung wirksam, meint der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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