Ob Berlin oder Wien: Die strahlenden Städte, in denen wir?s uns gemütlich machen, sind in Wahrheit Gespensterstädte, unter dem Asphalt die Trümmer, in denen die Archäologen zu graben beginnen, Totenstädte ...
Robert Neumann, der berühmte Parodist und verkannte Romancier, entführt uns in einen Wiener Keller im Nachkriegsjahr 1946, in dem ein eigenwilliges Gemisch von Geräuschen und jiddischen, russischen, deutschen und amerikanischen Sprachfetzen zu hören ist, so authentisch, dass auch das Schaben, Kratzen und Huschen der Ratten auf den nackten Kellerböden von dem ganz unjungen Jargon einer Bande Halbwüchsiger nicht übertönt wird. Jid, Goy und Ewa heißen drei der sechs Kinder, die sich stehlend, hurend und hehlend eingerichtet haben im Nachkriegschaos, die vom Glück ihrer anarchistischen Freiheit ebenso wenig daher machen wie vom allgegenwärtigen Mangel - weil sie?s nicht anders kennen. Ihre Perspektive ist der Blick nach oben, durch die Schächte zum Licht, und was sie sehen, sind nackte Füße, Sandalen, kaputte Stiefel und den Exnazi in alliierten Diensten, der sie aus ihrem Ruinenkeller zu vertreiben, den schwarzen Armee-Pastor, der sie zu retten versucht ...
Die Kinder von Wien ist der kleine-große Roman des Nachkriegs, der dichter als jedes andere Buch von der zweiten Realität erzählt, deren Schatten uns begleiten (ob wir?s wissen oder nicht).
Robert Neumann, der berühmte Parodist und verkannte Romancier, entführt uns in einen Wiener Keller im Nachkriegsjahr 1946, in dem ein eigenwilliges Gemisch von Geräuschen und jiddischen, russischen, deutschen und amerikanischen Sprachfetzen zu hören ist, so authentisch, dass auch das Schaben, Kratzen und Huschen der Ratten auf den nackten Kellerböden von dem ganz unjungen Jargon einer Bande Halbwüchsiger nicht übertönt wird. Jid, Goy und Ewa heißen drei der sechs Kinder, die sich stehlend, hurend und hehlend eingerichtet haben im Nachkriegschaos, die vom Glück ihrer anarchistischen Freiheit ebenso wenig daher machen wie vom allgegenwärtigen Mangel - weil sie?s nicht anders kennen. Ihre Perspektive ist der Blick nach oben, durch die Schächte zum Licht, und was sie sehen, sind nackte Füße, Sandalen, kaputte Stiefel und den Exnazi in alliierten Diensten, der sie aus ihrem Ruinenkeller zu vertreiben, den schwarzen Armee-Pastor, der sie zu retten versucht ...
Die Kinder von Wien ist der kleine-große Roman des Nachkriegs, der dichter als jedes andere Buch von der zweiten Realität erzählt, deren Schatten uns begleiten (ob wir?s wissen oder nicht).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2008Meridiane der Verzweiflung
Robert Neumann lässt die Kriegskinder sprechen
Robert Neumann (1897 bis 1975) wird heute nur noch wenigen Lesern durch seine genialen Parodienbände "Mit fremden Federn" und "Unter falscher Flagge" bekannt sein, an denen sich nicht nur vor dem Krieg die Geister schieden. Über ihn schrieb der "Völkische Beobachter" 1938, er sei "das typische Beispiel für die semitische Zersetzung", seine Parodien seien Krankheit, "die Achtung vor der ewigen Größe des Schöpferischen ableugnet". Schon 1933 waren seine Werke verboten worden. Im Londoner Exil schrieb er in schlichtem Emigrantenenglisch über einige verwahrloste Kinder im Keller einer Ruine den kleinen Roman "The children of Vienna" (1946), der nichts mehr vom geistreichen Sprachspieler an sich zu haben schien. Es war ein Stück engagierter Literatur, das die Siegermächte an das Schicksal der Kinder der Besiegten erinnern sollte, und tatsächlich erregte das Buch in England und Amerika einiges Aufsehen. 1948 erschien in Amsterdam eine deutsche Übersetzung von Franziska Becker, Neumanns damaliger Ehefrau.
Erst ein Jahr vor seinem Freitod schrieb der an Krebs erkrankte Neumann die eigene deutsche Fassung "Die Kinder von Wien", die nun in der "Anderen Bibliothek" wieder vorliegt. Neumann konzipierte sie als Denkmal der Gestorbenen und ihrer Sprache. Das in der englischen Version schon spärliche Wiener Lokalkolorit nahm er dafür noch weiter zurück: "Es kann jeder Keller gewesen sein überall, damals Anno fünfundvierzig, jenseits von dem Meridian der Verzweiflung." Die Anordnung der Erzählung gleicht eher der eines existentialistischen Bühnenstücks mit wenigen Requisiten. Ein Keller, aber mit funktionierendem Wasserklosett, von draußen der Klang einer Drehorgel. Wenige Personen haben sich hier zu einer Überlebensgemeinschaft gefunden: Jid, ein dem KZ entkommener Schwarzhändler, der blonde Goy, der im Verschickungslager war, Curls, der Erbe der Ruine, Ewa, minderjährige Prostituierte, und Ate, die ehemalige BDM-Führerin, kümmern sich schwatzend um ein halbverhungertes "Kindl" in einem Wagen.
Zu dieser Gemeinschaft stößt der schwarze Reverend Smith, der die Kinder umerziehen, später vor einem Altnazi retten will, der sich der Ruine bemächtigen will. Er wird aber verhaftet, weil er bezichtigt wird, mit Ewa verkehrt zu haben. Die Kinder werden zerstreut, das Klosett fällt an die Siegermächte. Im Keller findet man später einen erschossenen SS-Mann und ein totes Baby. Das ist schon die ganze Handlung. Verstörender ist die Sprache der Kinder: ein Kunstidiom aus Deutsch, Jiddisch, Rotwelsch, Amerikanisch, Polnisch und Russisch, vulgär, obszön und gebrochen. Hier kehrt der Sprachspieler wieder, aber mit ganz anderen Vorzeichen.
Beschädigte Sprache erscheint als Ausdruck der moralischen Katastrophe und des beschädigten Lebens, die gleichwohl dem Überleben jenseits der Moral dient. Das Experiment löste seinerzeit bei der Kritik Beurteilungen zwischen "unerträglich" und "große Literatur" aus, zwiespältige Gefühle erzeugt es noch heute. Die Neuausgabe setzt dem abstrakten Raum der Erzählung kontrapunktisch Fotografien von Ernst Haas (1921 bis 1968) entgegen, die er zwischen 1945 und 1948 im zerstörten Wien aufgenommen hat.
FRIEDMAR APEL
Robert Neumann: "Die Kinder von Wien". Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 264 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Neumann lässt die Kriegskinder sprechen
Robert Neumann (1897 bis 1975) wird heute nur noch wenigen Lesern durch seine genialen Parodienbände "Mit fremden Federn" und "Unter falscher Flagge" bekannt sein, an denen sich nicht nur vor dem Krieg die Geister schieden. Über ihn schrieb der "Völkische Beobachter" 1938, er sei "das typische Beispiel für die semitische Zersetzung", seine Parodien seien Krankheit, "die Achtung vor der ewigen Größe des Schöpferischen ableugnet". Schon 1933 waren seine Werke verboten worden. Im Londoner Exil schrieb er in schlichtem Emigrantenenglisch über einige verwahrloste Kinder im Keller einer Ruine den kleinen Roman "The children of Vienna" (1946), der nichts mehr vom geistreichen Sprachspieler an sich zu haben schien. Es war ein Stück engagierter Literatur, das die Siegermächte an das Schicksal der Kinder der Besiegten erinnern sollte, und tatsächlich erregte das Buch in England und Amerika einiges Aufsehen. 1948 erschien in Amsterdam eine deutsche Übersetzung von Franziska Becker, Neumanns damaliger Ehefrau.
Erst ein Jahr vor seinem Freitod schrieb der an Krebs erkrankte Neumann die eigene deutsche Fassung "Die Kinder von Wien", die nun in der "Anderen Bibliothek" wieder vorliegt. Neumann konzipierte sie als Denkmal der Gestorbenen und ihrer Sprache. Das in der englischen Version schon spärliche Wiener Lokalkolorit nahm er dafür noch weiter zurück: "Es kann jeder Keller gewesen sein überall, damals Anno fünfundvierzig, jenseits von dem Meridian der Verzweiflung." Die Anordnung der Erzählung gleicht eher der eines existentialistischen Bühnenstücks mit wenigen Requisiten. Ein Keller, aber mit funktionierendem Wasserklosett, von draußen der Klang einer Drehorgel. Wenige Personen haben sich hier zu einer Überlebensgemeinschaft gefunden: Jid, ein dem KZ entkommener Schwarzhändler, der blonde Goy, der im Verschickungslager war, Curls, der Erbe der Ruine, Ewa, minderjährige Prostituierte, und Ate, die ehemalige BDM-Führerin, kümmern sich schwatzend um ein halbverhungertes "Kindl" in einem Wagen.
Zu dieser Gemeinschaft stößt der schwarze Reverend Smith, der die Kinder umerziehen, später vor einem Altnazi retten will, der sich der Ruine bemächtigen will. Er wird aber verhaftet, weil er bezichtigt wird, mit Ewa verkehrt zu haben. Die Kinder werden zerstreut, das Klosett fällt an die Siegermächte. Im Keller findet man später einen erschossenen SS-Mann und ein totes Baby. Das ist schon die ganze Handlung. Verstörender ist die Sprache der Kinder: ein Kunstidiom aus Deutsch, Jiddisch, Rotwelsch, Amerikanisch, Polnisch und Russisch, vulgär, obszön und gebrochen. Hier kehrt der Sprachspieler wieder, aber mit ganz anderen Vorzeichen.
Beschädigte Sprache erscheint als Ausdruck der moralischen Katastrophe und des beschädigten Lebens, die gleichwohl dem Überleben jenseits der Moral dient. Das Experiment löste seinerzeit bei der Kritik Beurteilungen zwischen "unerträglich" und "große Literatur" aus, zwiespältige Gefühle erzeugt es noch heute. Die Neuausgabe setzt dem abstrakten Raum der Erzählung kontrapunktisch Fotografien von Ernst Haas (1921 bis 1968) entgegen, die er zwischen 1945 und 1948 im zerstörten Wien aufgenommen hat.
FRIEDMAR APEL
Robert Neumann: "Die Kinder von Wien". Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 264 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kaum fasslich bleibt es für Hans-Peter Kunisch, dass dieser Roman von Robert Neumann, der so frappant den "ostjüdisch und besatzungsamerikanisch geprägten" Ton des Wiens der Nachkriegszeit trifft, zuerst auf Englisch erschien. Neumann hatte ihn 1946 im Londoner Exil mit Material aus dem Nachlass seines verstorbenen Sohnes verfasst und erst 1948 erschien eine deutsche Übersetzung, teilt der Rezensent mit. Der Roman erzählt aus dem Leben von Kindern, die sich in einem Kellerloch im Nachkriegs-Wien eingerichtet haben und sich gegen Ansprüche auf ihren Unterschlupf von einem "Politischen" namens "Regenmantel" und dem ehemaligen SS-Mann Müller zur Wehr setzen müssen. Auch heute noch ergibt sich daraus eine "schockierende" Erzählung, die zudem dramaturgisch höchst faszinierend dargeboten wird, wie Kunisch preist. Der zweite, siebzig Seiten lange Teil des Buches gleicht nämlich einer einzigen ungeschnittenen Filmszene, so der begeisterte Rezensent weiter. Neumanns unglaubliches Talent zur Parodie der verschiedensten Jargons hat diesem Roman seine anschaulich-drastische Gestalt verliehen, meint Kunisch hingerissen, der sich außerordentlich freut, dass jetzt eine Neuausgabe der aus den 70er Jahren stammenden grandiosen deutschen Übersetzung vom Autor selbst vorliegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"
"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
"
"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
"
"
"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
"
"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
"