Ob Berlin oder Wien: Die strahlenden Städte, in denen wir?s uns gemütlich machen, sind in Wahrheit Gespensterstädte, unter dem Asphalt die Trümmer, in denen die Archäologen zu graben beginnen, Totenstädte ...
Robert Neumann, der berühmte Parodist und verkannte Romancier, entführt uns in einen Wiener Keller im Nachkriegsjahr 1946, in dem ein eigenwilliges Gemisch von Geräuschen und jiddischen, russischen, deutschen und amerikanischen Sprachfetzen zu hören ist, so authentisch, dass auch das Schaben, Kratzen und Huschen der Ratten auf den nackten Kellerböden von dem ganz unjungen Jargon einer Bande Halbwüchsiger nicht übertönt wird. Jid, Goy und Ewa heißen drei der sechs Kinder, die sich stehlend, hurend und hehlend eingerichtet haben im Nachkriegschaos, die vom Glück ihrer anarchistischen Freiheit ebenso wenig daher machen wie vom allgegenwärtigen Mangel - weil sie?s nicht anders kennen. Ihre Perspektive ist der Blick nach oben, durch die Schächte zum Licht, und was sie sehen, sind nackte Füße, Sandalen, kaputte Stiefel und den Exnazi in alliierten Diensten, der sie aus ihrem Ruinenkeller zu vertreiben, den schwarzen Armee-Pastor, der sie zu retten versucht ...
Die Kinder von Wien ist der kleine-große Roman des Nachkriegs, der dichter als jedes andere Buch von der zweiten Realität erzählt, deren Schatten uns begleiten (ob wir?s wissen oder nicht).
Robert Neumann, der berühmte Parodist und verkannte Romancier, entführt uns in einen Wiener Keller im Nachkriegsjahr 1946, in dem ein eigenwilliges Gemisch von Geräuschen und jiddischen, russischen, deutschen und amerikanischen Sprachfetzen zu hören ist, so authentisch, dass auch das Schaben, Kratzen und Huschen der Ratten auf den nackten Kellerböden von dem ganz unjungen Jargon einer Bande Halbwüchsiger nicht übertönt wird. Jid, Goy und Ewa heißen drei der sechs Kinder, die sich stehlend, hurend und hehlend eingerichtet haben im Nachkriegschaos, die vom Glück ihrer anarchistischen Freiheit ebenso wenig daher machen wie vom allgegenwärtigen Mangel - weil sie?s nicht anders kennen. Ihre Perspektive ist der Blick nach oben, durch die Schächte zum Licht, und was sie sehen, sind nackte Füße, Sandalen, kaputte Stiefel und den Exnazi in alliierten Diensten, der sie aus ihrem Ruinenkeller zu vertreiben, den schwarzen Armee-Pastor, der sie zu retten versucht ...
Die Kinder von Wien ist der kleine-große Roman des Nachkriegs, der dichter als jedes andere Buch von der zweiten Realität erzählt, deren Schatten uns begleiten (ob wir?s wissen oder nicht).
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2008Ich will Taschendieb lernen und dann Filmstar
Robert Neumanns hinreißende und zu Unrecht vergessene „Kinder von Wien” in der Anderen Bibliothek
Kaum zu glauben, dass dieses Buch zuerst auf Englisch erschien. Zu genau getroffen und eigentlich unübersetzbar wirkt das ostjüdisch und besatzungsamerikanisch geprägte Slang-Wienerisch der deutschen Fassung von Robert Neumanns berühmtem, nach dreißig Jahren wieder aufgelegtem Roman „Die Kinder von Wien”. Nun war der seit seinem Tod Mitte der siebziger Jahre etwas in Vergessenheit geratene Neumann ja 1897 in Wien geboren worden und hatte den größten Teil seines Lebens dort verbracht. Doch zum Zeitpunkt der nur vier Monate dauernden Niederschrift der „Children of Vienna” (September bis Dezember 1945) hatte er, der nach Dollfuss’ Ermordung 1934 ins Londoner Exil gegangen war, sich im walisischen Tan-y-Bwech eingerichtet und war noch nicht wieder in Wien gewesen.
Zehn kleine Negerlein
Robert Neumann ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die sich sofort nach ihrer Ankunft im Ausland umstellen konnten. „Children of Vienna”, das englisch 1946 erschien, war schon sein drittes Buch in der neuen Sprache. Doch warum schreibt ein 50-Jähriger einen Roman über Trümmerkinder? Neumanns einziger Sohn Heinrich war kurz zuvor mit dreiundzwanzig an einer Sepsis gestorben. Der unglücklich-schuldbewusste Neumann, der neu verheiratet war, hatte das Gefühl, sich zu wenig um ihn gekümmert zu haben und fand in den ihm von der Mutter zugesandten Notizen Heinrichs Aufzeichnungen zu einem Roman, den der damals Sechzehnjährige 1938 zusammen mit ihm in Sanary-sur-Mer geplant hatte. Er sollte „Zehn kleine Negerlein” heißen und Kinder auf der Flucht zeigen. Es scheint, als habe Neumann das Projekt spät vollenden wollen. Daneben hatte er wohl die Absicht, den Londoner Verleger Victor Golliancz zu unterstützen, der gerade „Save Europe Now” initiierte, ein Kinderhilfswerk, das den Roman zu Propagandazwecken benutzen konnte.
Eine ungewöhnliche Vorgeschichte. Doch dabei herausgekommen ist eine noch sechs Jahrzehnte später schockierend überzeugende Bilderfolge. Eigentliche Hauptfigur ist Jid, „er ist dreizehn, klein wie zehn, mit Augen ungeglänzt wie ein Mann von fünfunddreißig Jahren”, ein „Jiddisch Kind mit einem langen deutschen jiddischen Namen, erster Name, zweiter Name, alles komplett, man kann es nicht gebrauchen, es ist zu lang”. Darum also Jid. „Seine Hände sind lang mit dünnen Fingern immer in Bewegung, man glaubt Krabben, Spinnen, Schlangen was weiß ich, so bewegliche Hände hat der.” Immer wieder tanzt etwas aus einer Tasche in Jids Hände.
Jenseits von braven Gedanken an ein ideales Menschenbild und orthodoxe Kommasetzung mischt Neumann gekonnt bizarre Stimmungen und Charaktere, ordnet die Sätze ihrer holprig gesprochenen Variante gemäß. Jedes einzelne Mitglied dieser Sonder-Gesellschaft, die in einem Kellerloch wohnt, trägt zur makabren Gesamt-Wirkung bei. Auf weiblicher Seite Ate, „die Adeltraut hieß oder so was”, aber so möchte sie, das Nazi-Mädchen, das die Eltern verpfiff, weil sie Feindsender hörten, nicht mehr genannt werden: „ein bissel starr vielleicht das Gesicht aber gewaschen, ein bissel nicht in Ordnung vielleicht aber so rein wie desinfiziert und abgekocht.” Und: „Jemand hat diese prima gewaschenen blauen Augen genommen und hereingeschmissen in eine Höhle. Es schaut aus wie mit zwei plötzlichen Pfützen drin. Da schwimmen sie jetzt in einem ganzen Teich aus Schatten.”
Über alle ehemaligen Grenzen hinweg halten die Kinder zusammen. Ihre Wohnung ist kein Palast, aber sie hat etwas: einen funktionierenden Abort. Godot ist schon da. „Regenmantel”, ein ehemaliger Politischer, will den Keller für sich, er hat ein Recht darauf. Die Kinder weichen nicht. Er holt Verstärkung. Einen Mann mit Bowler und Zigarre, einen, der immer oben schwimmt. Auch Herr Müller, ein ehemaliger SS-ler, erscheint. Er ist brutal und wird von den Kindern brutal bekämpft. Einmal schlägt ihn Goy beinahe tot. Aber Müller ist einfach nicht tot zu kriegen, taucht, als er schon begraben scheint, wieder auf: Ein makabrer, wirklichkeitsgesättigter Scherz Neumanns: der ewige Nazi.
Mit fremden Federn
Einer der bestechendsten Aspekte des Buchs ist seine Dramaturgie. Der zweite von vier Teilen ist siebzig Seiten lang und liest sich wie das Drehbuch zu einer unglaublichen, langen, ungeschnittenen Filmszene. Zu Beginn taucht eine beinahe brechtische Figur auf, der gute Mensch von Wien, ein schwarzer Armeepfarrer, „Reverend Hosea Washington Smith von Jesus Church, Beulah, bei Claxtonville, Louisiana”. Und obwohl diesem guten Menschen klassisch „die Schuppen von den Augen fallen”, versinkt Neumann nicht im moralisierenden Lehrstück. Während laufend Figuren auf- und abtreten, scheint sich das Schicksal der Kinder immer wieder grundsätzlich zu wenden, werden Gut und Böse derart drastisch durcheinander geschmissen, dass ein schematischerer Zugriff, der vielleicht geplant war, immer wieder vergessen geht.
Seinen größten Ruhm erreichte Neumann 1927 mit der ätzenden Parodiensammlung „Mit fremden Federn”, die Thomas Mann zum Buch des Jahres wählte, aus der aber auch Goebbels immer wieder begeistert vorgelesen haben soll. Der Erfolg in allen Lagern, der Neumanns Bücher wenig später nicht vor der Verbrennung rettete, hatte jedenfalls zur Folge, dass der damals Dreißigjährige für kurze Zeit einen Teil des Jahres auf Capri und in Alt-Aussee verbrachte.
Interessant an Neumanns Parodienbegabung scheint hier, dass sie eine Basis für das Rollen-Sprechen gewesen sein dürfte, ohne das die Wiener Nachkriegszeit kaum derart plastisch-drastisch hätte wieder auferstehen können.
Selbstverständlich war die damalige Wiener Kritik anderer Meinung. Sie nahm sich des Buches, das 1948 im Amsterdamer Querido-Verlag zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschien, mit aller Liebe an: „Es geht nicht an, dass Österreich widerspruchslos ein Buch akzeptiert, das für das Land, für die Stadt, für ihr millionenfaches Blutopfer und die jahrelange Bitterkeit gequälter Menschen nicht mehr übrig hat als ein zynisches Kaleidoskop.”
Heute kann man sagen: Die „Children” sollten eher vor dem Hintergrund von Carol Reeds „Drittem Mann” gesehen werden; als Ergänzung zu Wolfgang Borchert – von ganz anderer Seite. Und auch wenn die dem Band beigegebenen zeitgenössischen Kinder-Fotografien von Ernst Haas manchmal stilisiert wirken – einen Eindruck der sehr frühreifen Kindheit damals vermitteln sie. Oder wie Jid einmal zu einem noch kleineren sagt: „Ich kann dich anlernen für alles. Eine Zigarett’ eine Lektion.” Meint Curls: „Ich will Taschendieb lernen. Und Filmstar.”
Zur Verfilmung kam es nie, doch „Die Kinder von Wien” blieb für Neumann eines der liebsten Bücher. Noch kurz vor seinem Tod fertigte er die eigene, großartige Übersetzung ins Deutsche an, die man jetzt wieder lesen kann.HANS-PETER KUNISCH
ROBERT NEUMANN: Die Kinder von Wien. Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Die andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 235 Seiten, 30 Euro.
Das Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die perfekte Abenteuer-Kulisse: Szene aus Carol Reeds „Der dritte Mann” (hier mit Orson Welles) Foto: Cinetext
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Robert Neumanns hinreißende und zu Unrecht vergessene „Kinder von Wien” in der Anderen Bibliothek
Kaum zu glauben, dass dieses Buch zuerst auf Englisch erschien. Zu genau getroffen und eigentlich unübersetzbar wirkt das ostjüdisch und besatzungsamerikanisch geprägte Slang-Wienerisch der deutschen Fassung von Robert Neumanns berühmtem, nach dreißig Jahren wieder aufgelegtem Roman „Die Kinder von Wien”. Nun war der seit seinem Tod Mitte der siebziger Jahre etwas in Vergessenheit geratene Neumann ja 1897 in Wien geboren worden und hatte den größten Teil seines Lebens dort verbracht. Doch zum Zeitpunkt der nur vier Monate dauernden Niederschrift der „Children of Vienna” (September bis Dezember 1945) hatte er, der nach Dollfuss’ Ermordung 1934 ins Londoner Exil gegangen war, sich im walisischen Tan-y-Bwech eingerichtet und war noch nicht wieder in Wien gewesen.
Zehn kleine Negerlein
Robert Neumann ist einer der wenigen deutschsprachigen Schriftsteller, die sich sofort nach ihrer Ankunft im Ausland umstellen konnten. „Children of Vienna”, das englisch 1946 erschien, war schon sein drittes Buch in der neuen Sprache. Doch warum schreibt ein 50-Jähriger einen Roman über Trümmerkinder? Neumanns einziger Sohn Heinrich war kurz zuvor mit dreiundzwanzig an einer Sepsis gestorben. Der unglücklich-schuldbewusste Neumann, der neu verheiratet war, hatte das Gefühl, sich zu wenig um ihn gekümmert zu haben und fand in den ihm von der Mutter zugesandten Notizen Heinrichs Aufzeichnungen zu einem Roman, den der damals Sechzehnjährige 1938 zusammen mit ihm in Sanary-sur-Mer geplant hatte. Er sollte „Zehn kleine Negerlein” heißen und Kinder auf der Flucht zeigen. Es scheint, als habe Neumann das Projekt spät vollenden wollen. Daneben hatte er wohl die Absicht, den Londoner Verleger Victor Golliancz zu unterstützen, der gerade „Save Europe Now” initiierte, ein Kinderhilfswerk, das den Roman zu Propagandazwecken benutzen konnte.
Eine ungewöhnliche Vorgeschichte. Doch dabei herausgekommen ist eine noch sechs Jahrzehnte später schockierend überzeugende Bilderfolge. Eigentliche Hauptfigur ist Jid, „er ist dreizehn, klein wie zehn, mit Augen ungeglänzt wie ein Mann von fünfunddreißig Jahren”, ein „Jiddisch Kind mit einem langen deutschen jiddischen Namen, erster Name, zweiter Name, alles komplett, man kann es nicht gebrauchen, es ist zu lang”. Darum also Jid. „Seine Hände sind lang mit dünnen Fingern immer in Bewegung, man glaubt Krabben, Spinnen, Schlangen was weiß ich, so bewegliche Hände hat der.” Immer wieder tanzt etwas aus einer Tasche in Jids Hände.
Jenseits von braven Gedanken an ein ideales Menschenbild und orthodoxe Kommasetzung mischt Neumann gekonnt bizarre Stimmungen und Charaktere, ordnet die Sätze ihrer holprig gesprochenen Variante gemäß. Jedes einzelne Mitglied dieser Sonder-Gesellschaft, die in einem Kellerloch wohnt, trägt zur makabren Gesamt-Wirkung bei. Auf weiblicher Seite Ate, „die Adeltraut hieß oder so was”, aber so möchte sie, das Nazi-Mädchen, das die Eltern verpfiff, weil sie Feindsender hörten, nicht mehr genannt werden: „ein bissel starr vielleicht das Gesicht aber gewaschen, ein bissel nicht in Ordnung vielleicht aber so rein wie desinfiziert und abgekocht.” Und: „Jemand hat diese prima gewaschenen blauen Augen genommen und hereingeschmissen in eine Höhle. Es schaut aus wie mit zwei plötzlichen Pfützen drin. Da schwimmen sie jetzt in einem ganzen Teich aus Schatten.”
Über alle ehemaligen Grenzen hinweg halten die Kinder zusammen. Ihre Wohnung ist kein Palast, aber sie hat etwas: einen funktionierenden Abort. Godot ist schon da. „Regenmantel”, ein ehemaliger Politischer, will den Keller für sich, er hat ein Recht darauf. Die Kinder weichen nicht. Er holt Verstärkung. Einen Mann mit Bowler und Zigarre, einen, der immer oben schwimmt. Auch Herr Müller, ein ehemaliger SS-ler, erscheint. Er ist brutal und wird von den Kindern brutal bekämpft. Einmal schlägt ihn Goy beinahe tot. Aber Müller ist einfach nicht tot zu kriegen, taucht, als er schon begraben scheint, wieder auf: Ein makabrer, wirklichkeitsgesättigter Scherz Neumanns: der ewige Nazi.
Mit fremden Federn
Einer der bestechendsten Aspekte des Buchs ist seine Dramaturgie. Der zweite von vier Teilen ist siebzig Seiten lang und liest sich wie das Drehbuch zu einer unglaublichen, langen, ungeschnittenen Filmszene. Zu Beginn taucht eine beinahe brechtische Figur auf, der gute Mensch von Wien, ein schwarzer Armeepfarrer, „Reverend Hosea Washington Smith von Jesus Church, Beulah, bei Claxtonville, Louisiana”. Und obwohl diesem guten Menschen klassisch „die Schuppen von den Augen fallen”, versinkt Neumann nicht im moralisierenden Lehrstück. Während laufend Figuren auf- und abtreten, scheint sich das Schicksal der Kinder immer wieder grundsätzlich zu wenden, werden Gut und Böse derart drastisch durcheinander geschmissen, dass ein schematischerer Zugriff, der vielleicht geplant war, immer wieder vergessen geht.
Seinen größten Ruhm erreichte Neumann 1927 mit der ätzenden Parodiensammlung „Mit fremden Federn”, die Thomas Mann zum Buch des Jahres wählte, aus der aber auch Goebbels immer wieder begeistert vorgelesen haben soll. Der Erfolg in allen Lagern, der Neumanns Bücher wenig später nicht vor der Verbrennung rettete, hatte jedenfalls zur Folge, dass der damals Dreißigjährige für kurze Zeit einen Teil des Jahres auf Capri und in Alt-Aussee verbrachte.
Interessant an Neumanns Parodienbegabung scheint hier, dass sie eine Basis für das Rollen-Sprechen gewesen sein dürfte, ohne das die Wiener Nachkriegszeit kaum derart plastisch-drastisch hätte wieder auferstehen können.
Selbstverständlich war die damalige Wiener Kritik anderer Meinung. Sie nahm sich des Buches, das 1948 im Amsterdamer Querido-Verlag zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erschien, mit aller Liebe an: „Es geht nicht an, dass Österreich widerspruchslos ein Buch akzeptiert, das für das Land, für die Stadt, für ihr millionenfaches Blutopfer und die jahrelange Bitterkeit gequälter Menschen nicht mehr übrig hat als ein zynisches Kaleidoskop.”
Heute kann man sagen: Die „Children” sollten eher vor dem Hintergrund von Carol Reeds „Drittem Mann” gesehen werden; als Ergänzung zu Wolfgang Borchert – von ganz anderer Seite. Und auch wenn die dem Band beigegebenen zeitgenössischen Kinder-Fotografien von Ernst Haas manchmal stilisiert wirken – einen Eindruck der sehr frühreifen Kindheit damals vermitteln sie. Oder wie Jid einmal zu einem noch kleineren sagt: „Ich kann dich anlernen für alles. Eine Zigarett’ eine Lektion.” Meint Curls: „Ich will Taschendieb lernen. Und Filmstar.”
Zur Verfilmung kam es nie, doch „Die Kinder von Wien” blieb für Neumann eines der liebsten Bücher. Noch kurz vor seinem Tod fertigte er die eigene, großartige Übersetzung ins Deutsche an, die man jetzt wieder lesen kann.HANS-PETER KUNISCH
ROBERT NEUMANN: Die Kinder von Wien. Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Die andere Bibliothek. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 235 Seiten, 30 Euro.
Das Wien der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die perfekte Abenteuer-Kulisse: Szene aus Carol Reeds „Der dritte Mann” (hier mit Orson Welles) Foto: Cinetext
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2008Meridiane der Verzweiflung
Robert Neumann lässt die Kriegskinder sprechen
Robert Neumann (1897 bis 1975) wird heute nur noch wenigen Lesern durch seine genialen Parodienbände "Mit fremden Federn" und "Unter falscher Flagge" bekannt sein, an denen sich nicht nur vor dem Krieg die Geister schieden. Über ihn schrieb der "Völkische Beobachter" 1938, er sei "das typische Beispiel für die semitische Zersetzung", seine Parodien seien Krankheit, "die Achtung vor der ewigen Größe des Schöpferischen ableugnet". Schon 1933 waren seine Werke verboten worden. Im Londoner Exil schrieb er in schlichtem Emigrantenenglisch über einige verwahrloste Kinder im Keller einer Ruine den kleinen Roman "The children of Vienna" (1946), der nichts mehr vom geistreichen Sprachspieler an sich zu haben schien. Es war ein Stück engagierter Literatur, das die Siegermächte an das Schicksal der Kinder der Besiegten erinnern sollte, und tatsächlich erregte das Buch in England und Amerika einiges Aufsehen. 1948 erschien in Amsterdam eine deutsche Übersetzung von Franziska Becker, Neumanns damaliger Ehefrau.
Erst ein Jahr vor seinem Freitod schrieb der an Krebs erkrankte Neumann die eigene deutsche Fassung "Die Kinder von Wien", die nun in der "Anderen Bibliothek" wieder vorliegt. Neumann konzipierte sie als Denkmal der Gestorbenen und ihrer Sprache. Das in der englischen Version schon spärliche Wiener Lokalkolorit nahm er dafür noch weiter zurück: "Es kann jeder Keller gewesen sein überall, damals Anno fünfundvierzig, jenseits von dem Meridian der Verzweiflung." Die Anordnung der Erzählung gleicht eher der eines existentialistischen Bühnenstücks mit wenigen Requisiten. Ein Keller, aber mit funktionierendem Wasserklosett, von draußen der Klang einer Drehorgel. Wenige Personen haben sich hier zu einer Überlebensgemeinschaft gefunden: Jid, ein dem KZ entkommener Schwarzhändler, der blonde Goy, der im Verschickungslager war, Curls, der Erbe der Ruine, Ewa, minderjährige Prostituierte, und Ate, die ehemalige BDM-Führerin, kümmern sich schwatzend um ein halbverhungertes "Kindl" in einem Wagen.
Zu dieser Gemeinschaft stößt der schwarze Reverend Smith, der die Kinder umerziehen, später vor einem Altnazi retten will, der sich der Ruine bemächtigen will. Er wird aber verhaftet, weil er bezichtigt wird, mit Ewa verkehrt zu haben. Die Kinder werden zerstreut, das Klosett fällt an die Siegermächte. Im Keller findet man später einen erschossenen SS-Mann und ein totes Baby. Das ist schon die ganze Handlung. Verstörender ist die Sprache der Kinder: ein Kunstidiom aus Deutsch, Jiddisch, Rotwelsch, Amerikanisch, Polnisch und Russisch, vulgär, obszön und gebrochen. Hier kehrt der Sprachspieler wieder, aber mit ganz anderen Vorzeichen.
Beschädigte Sprache erscheint als Ausdruck der moralischen Katastrophe und des beschädigten Lebens, die gleichwohl dem Überleben jenseits der Moral dient. Das Experiment löste seinerzeit bei der Kritik Beurteilungen zwischen "unerträglich" und "große Literatur" aus, zwiespältige Gefühle erzeugt es noch heute. Die Neuausgabe setzt dem abstrakten Raum der Erzählung kontrapunktisch Fotografien von Ernst Haas (1921 bis 1968) entgegen, die er zwischen 1945 und 1948 im zerstörten Wien aufgenommen hat.
FRIEDMAR APEL
Robert Neumann: "Die Kinder von Wien". Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 264 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Robert Neumann lässt die Kriegskinder sprechen
Robert Neumann (1897 bis 1975) wird heute nur noch wenigen Lesern durch seine genialen Parodienbände "Mit fremden Federn" und "Unter falscher Flagge" bekannt sein, an denen sich nicht nur vor dem Krieg die Geister schieden. Über ihn schrieb der "Völkische Beobachter" 1938, er sei "das typische Beispiel für die semitische Zersetzung", seine Parodien seien Krankheit, "die Achtung vor der ewigen Größe des Schöpferischen ableugnet". Schon 1933 waren seine Werke verboten worden. Im Londoner Exil schrieb er in schlichtem Emigrantenenglisch über einige verwahrloste Kinder im Keller einer Ruine den kleinen Roman "The children of Vienna" (1946), der nichts mehr vom geistreichen Sprachspieler an sich zu haben schien. Es war ein Stück engagierter Literatur, das die Siegermächte an das Schicksal der Kinder der Besiegten erinnern sollte, und tatsächlich erregte das Buch in England und Amerika einiges Aufsehen. 1948 erschien in Amsterdam eine deutsche Übersetzung von Franziska Becker, Neumanns damaliger Ehefrau.
Erst ein Jahr vor seinem Freitod schrieb der an Krebs erkrankte Neumann die eigene deutsche Fassung "Die Kinder von Wien", die nun in der "Anderen Bibliothek" wieder vorliegt. Neumann konzipierte sie als Denkmal der Gestorbenen und ihrer Sprache. Das in der englischen Version schon spärliche Wiener Lokalkolorit nahm er dafür noch weiter zurück: "Es kann jeder Keller gewesen sein überall, damals Anno fünfundvierzig, jenseits von dem Meridian der Verzweiflung." Die Anordnung der Erzählung gleicht eher der eines existentialistischen Bühnenstücks mit wenigen Requisiten. Ein Keller, aber mit funktionierendem Wasserklosett, von draußen der Klang einer Drehorgel. Wenige Personen haben sich hier zu einer Überlebensgemeinschaft gefunden: Jid, ein dem KZ entkommener Schwarzhändler, der blonde Goy, der im Verschickungslager war, Curls, der Erbe der Ruine, Ewa, minderjährige Prostituierte, und Ate, die ehemalige BDM-Führerin, kümmern sich schwatzend um ein halbverhungertes "Kindl" in einem Wagen.
Zu dieser Gemeinschaft stößt der schwarze Reverend Smith, der die Kinder umerziehen, später vor einem Altnazi retten will, der sich der Ruine bemächtigen will. Er wird aber verhaftet, weil er bezichtigt wird, mit Ewa verkehrt zu haben. Die Kinder werden zerstreut, das Klosett fällt an die Siegermächte. Im Keller findet man später einen erschossenen SS-Mann und ein totes Baby. Das ist schon die ganze Handlung. Verstörender ist die Sprache der Kinder: ein Kunstidiom aus Deutsch, Jiddisch, Rotwelsch, Amerikanisch, Polnisch und Russisch, vulgär, obszön und gebrochen. Hier kehrt der Sprachspieler wieder, aber mit ganz anderen Vorzeichen.
Beschädigte Sprache erscheint als Ausdruck der moralischen Katastrophe und des beschädigten Lebens, die gleichwohl dem Überleben jenseits der Moral dient. Das Experiment löste seinerzeit bei der Kritik Beurteilungen zwischen "unerträglich" und "große Literatur" aus, zwiespältige Gefühle erzeugt es noch heute. Die Neuausgabe setzt dem abstrakten Raum der Erzählung kontrapunktisch Fotografien von Ernst Haas (1921 bis 1968) entgegen, die er zwischen 1945 und 1948 im zerstörten Wien aufgenommen hat.
FRIEDMAR APEL
Robert Neumann: "Die Kinder von Wien". Roman. Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 264 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Kaum fasslich bleibt es für Hans-Peter Kunisch, dass dieser Roman von Robert Neumann, der so frappant den "ostjüdisch und besatzungsamerikanisch geprägten" Ton des Wiens der Nachkriegszeit trifft, zuerst auf Englisch erschien. Neumann hatte ihn 1946 im Londoner Exil mit Material aus dem Nachlass seines verstorbenen Sohnes verfasst und erst 1948 erschien eine deutsche Übersetzung, teilt der Rezensent mit. Der Roman erzählt aus dem Leben von Kindern, die sich in einem Kellerloch im Nachkriegs-Wien eingerichtet haben und sich gegen Ansprüche auf ihren Unterschlupf von einem "Politischen" namens "Regenmantel" und dem ehemaligen SS-Mann Müller zur Wehr setzen müssen. Auch heute noch ergibt sich daraus eine "schockierende" Erzählung, die zudem dramaturgisch höchst faszinierend dargeboten wird, wie Kunisch preist. Der zweite, siebzig Seiten lange Teil des Buches gleicht nämlich einer einzigen ungeschnittenen Filmszene, so der begeisterte Rezensent weiter. Neumanns unglaubliches Talent zur Parodie der verschiedensten Jargons hat diesem Roman seine anschaulich-drastische Gestalt verliehen, meint Kunisch hingerissen, der sich außerordentlich freut, dass jetzt eine Neuausgabe der aus den 70er Jahren stammenden grandiosen deutschen Übersetzung vom Autor selbst vorliegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
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"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
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"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
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"Ein glänzender Autor mit genialischen Zügen, (...) ein politischer Publizist und Polemiker von außergewöhnlichem Rang und nicht zuletzt einer der amüsantesten, geistreichsten Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts." Ulrich Weinzierl
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