Über die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien ist wenig bekannt. In diesem Buch stellt eine deutsch-britische Arbeitsgruppe aus verschiedenen Disziplinen den aktuellen Stand ihrer Forschungen vor. Darüber hinaus enthält der Band autobiographische Texte, u. a. von Fred Jordan , Ilse Aichinger und ihrer Zwillingsschwester Helga Michie.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003Hübsch und blond
KINDERTRANSPORTE. Am Bahnhof Liverpool Street steht neuerdings eine Statue, die an die Ankunft jener Kinder erinnert, die 1938 und 1939 aus dem "Dritten Reich" in London ankamen. Unmittelbar nach der "Reichskristallnacht" hatte die britische Regierung ihre sonst rigiden Einreisebestimmungen gelockert und jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei ein rettendes Exil angeboten. Rund 10 000 Kinder zwischen zwei und 17 Jahren konnten auf diese Weise, bis der Kriegsausbruch weitere Transporte vereitelte, vor dem sicheren Tod bewahrt werden. Während das Schicksal dieser Kinder über dem Gedenken der im Holocaust Umgekommenen zunächst in den Hintergrund getreten war, gerät es seit 1989, als sich die Betroffenen anläßlich des 50. Jahrestages ihres Exodus versammelten, zunehmend in den Blickpunkt von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Nachdem diverse Selbstzeugnisse der "Kinder" publiziert wurden, legen hier Forscherinnen aus verschiedenen Disziplinen von der Geschichts- oder Literaturwissenschaft bis zur Psychoanalyse die Ergebnisse ihrer unterschiedlich intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik vor. Dabei stehen auch sie vor der strukturellen Problematik, daß Studien zur Judenverfolgung entweder zur nüchternen Institutionengeschichte gerinnen, die insofern über die Köpfe der Betroffenen hinweggeht, als sie das persönliche Elend nicht einfängt, oder sich im Nachvollzug individueller Leidenswege zerfasern. Der von Wolfgang Benz eingeleitete Sammelband versucht den Spagat zwischen beiden Ansätzen, indem nach den Analysen zu organisatorischen und institutionellen Aspekten drei Zeitzeugen zu Wort kommen. Zudem bemühen sich die Autorinnen, Strukturen und Gemeinsamkeiten auch in der Erlebniswelt der betroffenen Kinder herauszuschälen, wenngleich auch immer wieder durchscheint, daß das Trauma der Trennung je nach Alter, Reifegrad, Persönlichkeit, familiären, sozialen und politischen Vorerlebnissen und Erfahrungen in der aufnehmenden Gesellschaft in höchst unterschiedlicher Form verarbeitet wurde. Besonders frappiert dabei die Erkenntnis, daß die so gutgewillten Retter bei der Auswahl der Kinder unbewußt Selektionsprinzipien der Nationalsozialisten übernahmen: Vorzugsweise hübsche, blonde, anpassungsfähige und vor allem kerngesunde Kinder kamen auf die Listen. Körperlich oder geistig kranken Kindern gab niemand eine Chance. (Wolfgang Benz /Claudia Curio/ Andrea Hammel : Die Kindertransporte 1938/39. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003. 253 Seiten, 12,90 [Euro].)
BIRGIT ASCHMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
KINDERTRANSPORTE. Am Bahnhof Liverpool Street steht neuerdings eine Statue, die an die Ankunft jener Kinder erinnert, die 1938 und 1939 aus dem "Dritten Reich" in London ankamen. Unmittelbar nach der "Reichskristallnacht" hatte die britische Regierung ihre sonst rigiden Einreisebestimmungen gelockert und jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei ein rettendes Exil angeboten. Rund 10 000 Kinder zwischen zwei und 17 Jahren konnten auf diese Weise, bis der Kriegsausbruch weitere Transporte vereitelte, vor dem sicheren Tod bewahrt werden. Während das Schicksal dieser Kinder über dem Gedenken der im Holocaust Umgekommenen zunächst in den Hintergrund getreten war, gerät es seit 1989, als sich die Betroffenen anläßlich des 50. Jahrestages ihres Exodus versammelten, zunehmend in den Blickpunkt von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Nachdem diverse Selbstzeugnisse der "Kinder" publiziert wurden, legen hier Forscherinnen aus verschiedenen Disziplinen von der Geschichts- oder Literaturwissenschaft bis zur Psychoanalyse die Ergebnisse ihrer unterschiedlich intensiven Auseinandersetzung mit der Thematik vor. Dabei stehen auch sie vor der strukturellen Problematik, daß Studien zur Judenverfolgung entweder zur nüchternen Institutionengeschichte gerinnen, die insofern über die Köpfe der Betroffenen hinweggeht, als sie das persönliche Elend nicht einfängt, oder sich im Nachvollzug individueller Leidenswege zerfasern. Der von Wolfgang Benz eingeleitete Sammelband versucht den Spagat zwischen beiden Ansätzen, indem nach den Analysen zu organisatorischen und institutionellen Aspekten drei Zeitzeugen zu Wort kommen. Zudem bemühen sich die Autorinnen, Strukturen und Gemeinsamkeiten auch in der Erlebniswelt der betroffenen Kinder herauszuschälen, wenngleich auch immer wieder durchscheint, daß das Trauma der Trennung je nach Alter, Reifegrad, Persönlichkeit, familiären, sozialen und politischen Vorerlebnissen und Erfahrungen in der aufnehmenden Gesellschaft in höchst unterschiedlicher Form verarbeitet wurde. Besonders frappiert dabei die Erkenntnis, daß die so gutgewillten Retter bei der Auswahl der Kinder unbewußt Selektionsprinzipien der Nationalsozialisten übernahmen: Vorzugsweise hübsche, blonde, anpassungsfähige und vor allem kerngesunde Kinder kamen auf die Listen. Körperlich oder geistig kranken Kindern gab niemand eine Chance. (Wolfgang Benz /Claudia Curio/ Andrea Hammel : Die Kindertransporte 1938/39. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003. 253 Seiten, 12,90 [Euro].)
BIRGIT ASCHMANN
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2003Letzte Gesten
Kindertransporte ins Ungewisse
WOLFGANG BENZ, CLAUDIA CURIO, ANDREA HAMMEL (Hrsg.): Die Kindertransporte 1938/39. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 2003. 253 Seiten, 12,90 Euro.
„Ich weiß noch, dass ich durch das Fenster zu meiner Mutter und meiner Schwester hinaussah, aber ich kann mich weder meiner Gedanken noch meiner Gefühle entsinnen.” Fred Jordan beschreibt, wie er aus dem Fenster eines Zuges zum letzten Mal das Gesicht seiner Mutter sah. Der 13jährige verließ Wien 1939 in einem Kindertransport. Er war eines von 10000 jüdischen Kindern, die durch den Einsatz von Hilfsorganisationen vor dem Holocaust gerettet wurden. Der vorliegende Band ist der Bericht zweier Tagungen in Brighton 2001 und Berlin 2002. Jordan und zwei andere Überlebende berichten kurz, aber bewegend und dicht von ihren Erlebnissen. Seit sich die Kinder von einst dann 1988 in der Londoner Reunion of Kindertransport selbst zu organisieren begannen, hat die Wissenschaft ihr Schicksal entdeckt.
Was Fred Jordan bewegte, haben auch andere so erlebt: Viele der Kinder haben die NS-Zeit wie in einem Nebel verbracht, von ihren Eltern abgeschottet vom Horror des Alltags. Sie begreifen bis heute nicht, wie sie die meist endgültige Trennung von ihrer Familie verkraften konnten. Sequentielle Traumatisierung nennt die Psychoanalyse die für diese Kinder typische, brutale Kette von Schicksalsschlägen: Ausgrenzung in Deutschland, Verlust der Familie, Ankunft in einer teils ablehnenden Gesellschaft, Verlust der Muttersprache, Integration in eine fremde Kultur, erneute Trennungen von Pflegeeltern und Erziehern, schließlich die Nachricht von der Ermordung der Eltern und Geschwister. Ungeheure Bedeutung bekamen die Objekte des letzten Augenblicks: ein von der Mutter gefaltetes Handtuch, ein Waschlappen, ein für die Reise gekauftes Paar Schuhe – Objekte, die ein Leben lang den Platz geliebter Menschen einnahmen. Selbstkritisch ziehen die Wissenschaftler Bilanz: Spät erst hätten sie begriffen, dass es auch andere Holocaust-Opfer als die Ermordeten und Überlebenden gibt. Weiter stellen sie fest, dass die Erfahrungen der Kindertransporte durchaus übertragbar seien auf Erfahrungen, die minderjährige Flüchtlinge heute machen. Was noch zu erforschen bleibt, ist das Trauma der Kinder, die nach 1945 in das Land der Täter zurückkehrten, empfangen von einer Atmosphäre des nach wie vor latenten Antisemitismus.
LORENZ BECKHARDT
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Kindertransporte ins Ungewisse
WOLFGANG BENZ, CLAUDIA CURIO, ANDREA HAMMEL (Hrsg.): Die Kindertransporte 1938/39. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt, 2003. 253 Seiten, 12,90 Euro.
„Ich weiß noch, dass ich durch das Fenster zu meiner Mutter und meiner Schwester hinaussah, aber ich kann mich weder meiner Gedanken noch meiner Gefühle entsinnen.” Fred Jordan beschreibt, wie er aus dem Fenster eines Zuges zum letzten Mal das Gesicht seiner Mutter sah. Der 13jährige verließ Wien 1939 in einem Kindertransport. Er war eines von 10000 jüdischen Kindern, die durch den Einsatz von Hilfsorganisationen vor dem Holocaust gerettet wurden. Der vorliegende Band ist der Bericht zweier Tagungen in Brighton 2001 und Berlin 2002. Jordan und zwei andere Überlebende berichten kurz, aber bewegend und dicht von ihren Erlebnissen. Seit sich die Kinder von einst dann 1988 in der Londoner Reunion of Kindertransport selbst zu organisieren begannen, hat die Wissenschaft ihr Schicksal entdeckt.
Was Fred Jordan bewegte, haben auch andere so erlebt: Viele der Kinder haben die NS-Zeit wie in einem Nebel verbracht, von ihren Eltern abgeschottet vom Horror des Alltags. Sie begreifen bis heute nicht, wie sie die meist endgültige Trennung von ihrer Familie verkraften konnten. Sequentielle Traumatisierung nennt die Psychoanalyse die für diese Kinder typische, brutale Kette von Schicksalsschlägen: Ausgrenzung in Deutschland, Verlust der Familie, Ankunft in einer teils ablehnenden Gesellschaft, Verlust der Muttersprache, Integration in eine fremde Kultur, erneute Trennungen von Pflegeeltern und Erziehern, schließlich die Nachricht von der Ermordung der Eltern und Geschwister. Ungeheure Bedeutung bekamen die Objekte des letzten Augenblicks: ein von der Mutter gefaltetes Handtuch, ein Waschlappen, ein für die Reise gekauftes Paar Schuhe – Objekte, die ein Leben lang den Platz geliebter Menschen einnahmen. Selbstkritisch ziehen die Wissenschaftler Bilanz: Spät erst hätten sie begriffen, dass es auch andere Holocaust-Opfer als die Ermordeten und Überlebenden gibt. Weiter stellen sie fest, dass die Erfahrungen der Kindertransporte durchaus übertragbar seien auf Erfahrungen, die minderjährige Flüchtlinge heute machen. Was noch zu erforschen bleibt, ist das Trauma der Kinder, die nach 1945 in das Land der Täter zurückkehrten, empfangen von einer Atmosphäre des nach wie vor latenten Antisemitismus.
LORENZ BECKHARDT
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Im Bericht zweier Tagungen in Brighton und Berlin fassen die Herausgeber die Erlebnisse von Überlebenden des Holocaust zusammen, die als Kinder aus Deutschland flüchten konnten, schreibt Lorenz Beckhardt. Hilfsorganisationen brachten in den Jahren 1938 und 1939 zehntausend jüdische Kinder außer Landes, die dadurch vor dem Tod gerettet, jedoch durch Trennung und den Verlust der Familie auch traumatisiert wurden, wie der Rezensent ausführlich beschreibt. Die Forschung habe dies bisher nicht eingehend berücksichtigt, kritisierten die Wissenschaftler in ihrem Bericht. Zumal es heute wieder zahlreiche minderjährige Flüchtlinge gebe, die ähnliche Erfahrungen machten, was die Aktualität der Aufzeichnungen belege.
© Perlentaucher Medien GmbH
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