J. M. Coetzees großer Roman >Die Kindheit Jesu< ist ein Meteor voller Intensität, Überraschung und Schönheit. Emigration, Einsamkeit, das Rätsel einer Ankunft: In einem fremden Land finden sich ein Mann und ein Junge wieder, wo sie ohne Erinnerung ihr Leben neu erfinden müssen. Sie müssen nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch dem Jungen eine Mutter suchen. - In einem dunklen Glas spiegelt J. M. Coetzee unsere Welt, so dass sich alles Nebensächliche unseres Umgangs verliert und die elementarsten Gesten sichtbar werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angela Schader ist begeistert von der Fähigkeit des Autors, alle aus dem Titel sich ergebenden Erwartungen des Lesers aufs Beste zu enttäuschen. Die Kindheit Jesu hat statt weder an einem besonders himmlischen noch an einem besonders infernalischen Ort, stellt die Rezensentin fest. Und auch über Coetzees Figur im Buch ist der Heiligenschein für Schader nur vage auszumachen, in den Reden der anderen etwa. Wo ein anderer Autor vielleicht metaphysisch ordentlich ausgeholt hätte, beglückt Coetzee die Rezensentin mit sparsamer Kolorierung und angenehm zwischen Rätsel und Banalität, respektive Diesseits und Jenseits oszillierenden Handlungselementen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.201312. Die Hölle des Idealismus
Zwei Menschen kommen in der neuen Welt an, in einem Ort namens Novilla, ein Mann namens Simón, ein Junge namens David, auch ihre Namen sind neu. Man hat sie ihnen gegeben, im Flüchtlingslager, in dem sie vorher waren, wo sie "reingewaschen" wurden vom alten Denken, vom Wissen über die Welt, wie sie einmal war. Übrig sind nur fragmentarische Erinnerungen: daran vor allem, dass der Junge seine Mutter verloren hat. Weshalb der Mann, der nicht sein Vater ist, jetzt nach ihr sucht. Er weiß nichts von ihr, aber er ist sich sicher: Er wird sie erkennen.
Irgendein Unglück muss passiert sein, eine Katastrophe, über die man nichts erfährt und doch bald denkt, dass sie nicht halb so schlimm gewesen sein kann wie der Horror jener Lehren, die die Menschen offensichtlich daraus gezogen haben. Denn diese neue Welt ist ein Spuk, eine Hölle des Idealismus: Alles ist ordentlich geregelt, Arbeit und Wohnung gibt es vom Staat, alle halten sich an die Regeln. Ein allgemeines Wohlwollen schlägt den Neuankömmlingen überall entgegen, aber es gibt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnen würde. Genuss ist eine ferne Erinnerung, Sex gibt es nur auf Krankenschein, und dass es offenbar auch keine Kriminalität mehr gibt, liegt einfach daran, dass es nichts mehr gibt, was man einander wegnehmen wollte. Es gibt kein Verlangen nach Luxus, weil es grundsätzlich kein Verlangen mehr gibt. Und wer, wie Simón, sich nach kleinen Freuden sehnt, nach einem Stück Fleisch im Bratensaft, verstrickt sich in Argumentationen, die im Koordinatensystem der neuen Weltordnung wie die eines Verrückten wirken.
J. M. Coetzee hat alle philosophischen und moralischen Gewissheiten in einen großen Mixer geworfen. Am Ende ist man sich nicht einmal sicher, ob dabei eine Dystopie herauskommt oder nur eine schaurige Parallelwelt. Was das alles mit Jesus zu tun hat, auch darüber kann man lange rätseln. Nur eins steht fest: Eine Welt ohne Sünde braucht keinen Gott mehr.
Harald Staun
J. M. Coetzee: "Die Kindheit Jesu". S. Fischer, 352 Seiten, 21,99 Euro
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Zwei Menschen kommen in der neuen Welt an, in einem Ort namens Novilla, ein Mann namens Simón, ein Junge namens David, auch ihre Namen sind neu. Man hat sie ihnen gegeben, im Flüchtlingslager, in dem sie vorher waren, wo sie "reingewaschen" wurden vom alten Denken, vom Wissen über die Welt, wie sie einmal war. Übrig sind nur fragmentarische Erinnerungen: daran vor allem, dass der Junge seine Mutter verloren hat. Weshalb der Mann, der nicht sein Vater ist, jetzt nach ihr sucht. Er weiß nichts von ihr, aber er ist sich sicher: Er wird sie erkennen.
Irgendein Unglück muss passiert sein, eine Katastrophe, über die man nichts erfährt und doch bald denkt, dass sie nicht halb so schlimm gewesen sein kann wie der Horror jener Lehren, die die Menschen offensichtlich daraus gezogen haben. Denn diese neue Welt ist ein Spuk, eine Hölle des Idealismus: Alles ist ordentlich geregelt, Arbeit und Wohnung gibt es vom Staat, alle halten sich an die Regeln. Ein allgemeines Wohlwollen schlägt den Neuankömmlingen überall entgegen, aber es gibt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnen würde. Genuss ist eine ferne Erinnerung, Sex gibt es nur auf Krankenschein, und dass es offenbar auch keine Kriminalität mehr gibt, liegt einfach daran, dass es nichts mehr gibt, was man einander wegnehmen wollte. Es gibt kein Verlangen nach Luxus, weil es grundsätzlich kein Verlangen mehr gibt. Und wer, wie Simón, sich nach kleinen Freuden sehnt, nach einem Stück Fleisch im Bratensaft, verstrickt sich in Argumentationen, die im Koordinatensystem der neuen Weltordnung wie die eines Verrückten wirken.
J. M. Coetzee hat alle philosophischen und moralischen Gewissheiten in einen großen Mixer geworfen. Am Ende ist man sich nicht einmal sicher, ob dabei eine Dystopie herauskommt oder nur eine schaurige Parallelwelt. Was das alles mit Jesus zu tun hat, auch darüber kann man lange rätseln. Nur eins steht fest: Eine Welt ohne Sünde braucht keinen Gott mehr.
Harald Staun
J. M. Coetzee: "Die Kindheit Jesu". S. Fischer, 352 Seiten, 21,99 Euro
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Ein leises Buch, das die volle Aufmerksamkeit fordert, aber wertvolle Denkanstöße liefert. Freundin 201312