Spätestens seit dem Mittelalter gibt es in Japan eine Eremitenkultur, die literarische Spuren hinterlassen hat. Schon in der „Geschichte des Prinzen Genji“ ist der Rückzug von der Welt ein ständig wiederkehrendes Motiv, das dort einen rein buddhistischen Hintergrund hat. Aber die Tradition reicht
sogar noch weiter zurück: „Die Klause der Illusionen“ versammelt vier klassische Texte, die zwischen…mehrSpätestens seit dem Mittelalter gibt es in Japan eine Eremitenkultur, die literarische Spuren hinterlassen hat. Schon in der „Geschichte des Prinzen Genji“ ist der Rückzug von der Welt ein ständig wiederkehrendes Motiv, das dort einen rein buddhistischen Hintergrund hat. Aber die Tradition reicht sogar noch weiter zurück: „Die Klause der Illusionen“ versammelt vier klassische Texte, die zwischen 816 und 1690 entstanden, davon drei in Japan und einer in China. Der früheste Text, Bai Juyis „Aufzeichnungen aus meiner grasgedeckten Hütte“, weicht insofern von den anderen ab, als dass der Autor ein wohlhabender hoher Beamter war, der seinen Rückzugsort nicht dauerhaft bewohnte. Nur wenn ihm die Amtsgeschäfte die Möglichkeit ließen, zog er sich in die malerischen Lu-Berge zurück und genoss die mystische Atmosphäre der abwechslungsreichen Landschaft. Weitere Unterschiede sind, dass Bai nur ein Jahr dort blieb, bevor er nach Hangzhou versetzt wurde und in seiner Klause gewisse Annehmlichkeiten, wahrscheinlich sogar Dienerschaft vorhanden waren.
Ganz im Gegensatz dazu das „Hôjôki“ (Aufzeichnungen aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte) von Kamo no Chômei: Im Jahr 1212 bezog der verarmte Adelige eine selbst errichtete Hütte im Wald, die sein letztes Zuhause werden sollte. Sein Bericht ist durchzogen von Wehmut und Abscheu vor der Welt, die er nicht freiwillig verlassen hatte. Die alte Hauptstadt Kyoto war einige Jahre zuvor abgebrannt, kurz darauf zerstörte ein schweres Erdbeben den Rest der Stadt. Kamo no Chômei hatte da längst seine Stellung verloren und geriet in einen Abwärtssog, dem er nicht mehr entkam. So ist sein Lobpreis der Einsamkeit gleichzeitig eine autobiografische Abrechnung mit seinem vergeudeten Leben.
Matsuo Bashô hatte im Jahr 1690 eine ganz andere Haltung: Im Laufe seines Lebens zog er sich immer wieder in abgeschiedene Regionen und selbst gezimmerte Hütten zurück, aber für ihn waren diese Orte nie Orte des Scheiterns. Die „Klause der Illusionen“ stand in der Nähe des Biwa Sees, mit einem traumhaften Blick in die Landschaft, in der sich die Jahreszeiten spiegelten. Als sensibler Beobachter schöpft Basho dichterische Inspiration aus allen Erscheinungsformen der Natur, die er ganz im Geist des Haiku verarbeitet. „Die Klause der Illusionen“ ist Bashôs bedeutendstes Haibun, das hier in zwei Textfassungen vorliegt: Einer älteren und etwas längeren, die nicht ganz so ausgewogen erscheint, wie die spätere Version, die zwar alle Motive wiederholt, sie aber besser aufeinander abstimmt und den Fluss der Jahreszeiten wie auf einem Rollbild zeichnet. Hier zeigt Bashô seine Meisterschaft in Perfektion.
Alle Texte und Übersetzungen sind zwar schon publiziert, aber teilweise seit Jahrzehnten vergriffen. In dieser spannend zusammengestellten Anthologie spiegelt sich die literarische Wahrnehmung des Motivs „Rückzug von der Welt“ über einen Zeitraum von fast 1000 Jahren und lässt den jeweiligen Zeitgeist deutlich erkennen. Vom Genussmenschen Bai Juyi über den Endzeitpropheten Kamo no Chômei bis hin zur lichten und durchkomponierten Prosa eines Matsuo Bashô.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)