Hoederer, ein vom Pech verfolgter Altachtundsechziger, überfällt die Bank einer kleinen Stadt. Das Glück stellt sich dem lebenslangen Pechvogel auch diesmal nicht auf seine Seite: Sein Warnschuß tötet unglücklich eine Frau. Auf seiner Flucht entwendet er ein Auto: Was Hoederer nicht weiß, ist, daß er jetzt auch zum Entführer geworden ist, denn im Fond des Wagens versteckt sich ein Mädchen im Engelskostüm: Malu, mit ihren zwölfeinhalb Jahren bereits ein berühmter Fernsehstar; sie war mit ihrem Chauffeur zu einem nächtlichen Dreh an einem See im Wald nördlich von Berlin unterwegs. Dort wartet das Team, insbesondere die resolute Produzentin und ihr Handlangerregisseur ungeduldig auf das Eintreffen des Mädchens. Hoederer faßt schon wieder einen fatalen Entschluß: Anstatt die Kleine freizulassen, verlangt er Lösegeld für die Freilassung des Mädchens. Auf der Suche nach einem geeigneten Versteck gelangen sie in einen tief verschneiten Wald. Und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen der kleinen Geisel, die bald die Situation in die Hand nimmt, und ihrem verzweifelten - letztlich jedoch gutherzigen Entführer. Doch reichen die zwölf Stunden bis zur Lösegeldübergabe mit der "kleinen Garbo", wie er sie nennt, aus, um sein versäumtes Leben nachzuholen?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2007Das Kind als Kumpel
Bodo Kirchhoff bekennt sich zum Schutzengel, der Garbo heißt
Bodo Kirchhoff hat ein deutsches Wintermärchen geschrieben. Wie schön! Er hat es aber so geschrieben, wie heute das deutsche Fernsehen Wintermärchen erzählen würde. Wie schade! Aber andererseits: Bodo Kirchhoff weiß natürlich genau, dass die Sehnsüchte, die früher in Märchen Erfüllung fanden, heute von den industrialisierten Phantasmagorien der Medien bedient werden. Wer ist denn noch so naiv, an Märchen zu glauben, die nicht wie Fernsehfilme daherkommen?
Deshalb hat der Leser des neuen Romans von Bodo Kirchhoff auch oft das Gefühl, er sitze eigentlich vor dem Fernsehapparat, und in höchstens neunzig Minuten sei das Ganze zu Ende. Aber auch diesen Effekt kalkuliert der Autor ein und erzählt deshalb, wie sich sein Wintermärchen parallel zu den Ereignissen in eine Fernsehproduktion verwandelt: Was da passiert, werden wir gewiss bald im Fernsehen sehen können. Wie schlau! Wie selbstreflexiv! Nur: Das kennen wir bereits; selbstreflexiv ist heute ja schon jeder "Tatort". Warum schauen wir uns dies Wintermärchen dann nicht gleich im Fernsehen an, wo es gewiss Eindruck machen würde; warum müssen wir noch den Roman lesen? Das ist schwer zu sagen.
Denn tatsächlich reicht die Grundidee des Romans eher für einen Fernsehfilm mit Paraderollen für zwei echte Rampensäue, die sich wechselseitig gegen die Wand spielen. Die Story: Der ewige Verlierer trifft in einer Situation absoluter Ausweglosigkeit auf einen berückenden Schutzengel und erlebt mit ihm doch noch einen Augenblick des Glücks, von dem sich sagen ließe: Verweile doch, du bist so schön. Oder genauer: Verweile doch, du bist zu schön. Schließlich sind wir im Fernsehen.
Der Verlierer heißt Giacomo Hoederer und ist ein überaus alter 68er, zwar noch keine sechzig Jahre alt, aber komplett am Ende. Seine "glücklichste Zeit" waren die Tage des Ansturms "gegen das Hurra-Blatt-Gebäude", danach ging es kontinuierlich bergab: Lehrer konnte er wegen des Radikalenerlasses nicht werden; seinen letzten Job hat er gerade verloren, und nun hat ihn auch seine zunehmend vom Leben enttäuschte Ehefrau mit ihrem - ach, Kirchhoff! - Psychoanalytiker verlassen und treibt sich in der Karibik herum. Also besorgt sich Hoederer eine Pistole und fährt an einem verschneiten Wintertag in die Wälder Brandenburgs, um sich dort aus dem Leben zu helfen. Statt dies zu tun, raubt er aber, einem spontanen Einfall folgend, eine erbärmliche kleine Bank aus, um - ach, Kirchhoff! - seine Frau mit einer gemeinsamen Kreuzfahrt durch die Karibik zurückgewinnen zu können, und erschießt dabei versehentlich eine alte Frau. Und überschlägt sich bei der Flucht mit dem Motorrad. Und erschießt, wie es das Fatum des ewigen Verlierers verlangt, ebenso versehentlich den ihm zur Hilfe eilenden Fahrer einer Luxuslimousine. In die sich Hoederer nun setzt, um sich nach all dem Elend endlich selbst zu erschießen. Woran ihn aber die Tatsache hindert, dass auf dem Rücksitz ein Schutzengel mit seinem Schoßhündchen sitzt.
Der heißt Marie-Luise März und ist ein knapp dreizehnjähriger Fernseh-Kinderstar mit hinreißenden Augen im Kindergesicht und wattierten Flügeln auf dem Rücken, denn "die Kleine" - so heißt sie fortan in dem Buch - war gerade auf dem Weg zum Set, wo die Filmcrew auf sie wartet, weil sie über einem zugefrorenen See einem komplizierten Liebespaar als Schutzengel erscheinen sollte. Daraus wird nun nichts mehr, weil der Kleinen zu ihrer und Hoederers Verblüffung plötzlich die Rolle der Geisel eines geborenen Verlierers zugefallen ist, denn Giacomo Hoederer entschließt sich, da er eh nichts mehr zu verlieren hat, einfach dazu, vier Millionen Lösegeld für das Glückskind zu verlangen. Und wer jetzt noch nicht begriffen hat, wie leicht es ist, diesen Roman zu verreißen, dem wird auch der übelstgelaunte Kritiker nicht mehr helfen können.
Der Autor dieser Zeilen hat aber gar keine Lust, dieses Buch zu verreißen: zum einen, weil es zu einfach wäre; zum anderen, weil er ein professionelles Vergnügen daran empfindet zu beobachten, wie bewusst und treffsicher der Autor selbst dem Kritiker die sichersten Steilvorlagen liefert, denn Kirchhoff weiß schließlich selbst genau, was Schund ist; und zum dritten, weil Kirchhoff seine Geschichte als Märchenerzähler, der von allen Plausibilitätserwägungen befreit ist, zügig und vergnüglich, traurig und am Ende auch spannend, auf jeden Fall aber mit einem mutigen Ja zu Kitsch und Sentimentalität, wenn ihm danach ist, heruntererzählt.
Das Resultat ist ungewöhnlich und kann sich schon deshalb sehen lassen: die mystische Hochzeit von "Tatort" und Weihnachtsmärchen. Dass am Ende viel von einem Taschentuch Gebrauch gemacht wird, darf man getrost als Lektüreanweisung verstehen. So etwas schreit doch nach einem skrupellosen Regisseur! (Nicht nach dem windelweichen Routinier, mit dem die Kleine ihre Filme dreht und der am Ende auch als der Regisseur für die Verfilmung ihrer Entführung auserwählt wird.)
Der müsste sich aber zu beherzten Eingriffen in die Story entschließen. Denn sie wird dadurch in die Länge gezogen, dass sich der alte Achtundsechziger relativ rasch als deutscher Oberlehrer entpuppt, was man wohl als Generationsschicksal verstehen muss, denn Hoederer selbst teilt der Kleinen mit, sein Jahrgang sei "der letzte" gewesen. Bodo Kirchhoff wird es wissen; schließlich gehört auch er ihm an. Nun aber kommt das Wunder: Die Generation der jetzt Kleinen scheint sich nach solchen Oberlehrern zu sehnen. Das Prinzip Hoffnung! ("Warum soll ein Hund keine Hoffnungen haben?") Jedenfalls gibt die Kleine, die aus einem Elternhaus von gutsituierter Oberflächlichkeit stammt und sich im übrigen in dem Alter befindet, in dem Töchter ihre Väter peinlich zu finden beginnen, ihrem Entführer die Chance, bei dem langen nächtlichen Warten auf die Geldübergabe im kalten Winterwald, durch den die Wölfe streifen, seine lange unterdrückten Talente als Lehrer unter Beweis zu stellen: Bruchrechnung, Dialektik, Theologie, "Macbeth", hier wird kaum etwas ausgelassen, und spätestens an dieser Stelle merkt der Leser, wie schlimm es sein muss, eine Geisel zu sein. Es gibt also für den künftigen Regisseur Möglichkeiten für mächtige Striche.
Die Grundsituation muss allerdings erhalten bleiben, denn aus ihr ergibt sich die Essenz der Story. Die selbstbewusst-widerständige Kleine entdeckt in ihrem erbärmlichen Entführer den klugen Lehrer, dem sie Vertrauen schenken kann, und so kommt es denn zu jenem Prozess emotionaler Verkumpelung, der das Publikum heute offensichtlich an Entführungen am meisten interessiert: Zuerst teilt man sich die Decke, dann kommt das Du, und am Ende dieser Geschichte, in der viel "Tatort"-Blut fließt, erweist sich die Kleine im Rahmen ihrer Möglichkeiten tatsächlich als das, was die Filmrolle ihr ohnehin schon vorgeschrieben hat: als Schutzengel. "Wie im Märchen kam ihr das plötzlich vor" - gewiss, aber musste das wirklich noch gesagt werden? Schließlich ist schon auf Seite 122 eine Sternschnuppe über das ungleiche Paar im Winterwald hinweggezogen; die beiden haben sie zwar nicht gesehen, der Leser aber hat sie leider gesehen und stapft von da an frohgemut durch Kälte und Schnee dem Ende entgegen.
Ein Mann braucht eben nur einen Engel, um kein Verlierer zu werden. Genauer gesagt: Er braucht ein Kind. Ebendies ist die Essenz dieses Buches. Natürlich ist Giacomo Hoederer, so elend er auch dasteht, gar kein wirklicher Verlierer, denn sonst könnte er in Situationen absoluter Ausweglosigkeit nicht ein so wunderbarer Lehrer sein und Sätze bilden wie: "Weißt du, was Stolz ist? Das Gefühl einer selbst erreichten Freiheit." (Wie totale Verlierer in ihrer Sprachlosigkeit aussehen, lernt man bei anderen Autoren, etwa bei Ludwig Fels.) Und vor allem ist er seelisch nicht so abgestumpft oder gar erloschen, dass er in der Winterwaldnacht mit der Kleinen nicht rasch spüren würde, was da in seine Existenz getreten ist: "das Stück Leben, das er nicht gekannt hatte bisher". Ein Kind eben, das ihn mit dem "Strom des Lebens" - so steht es wirklich da - verbindet.
Natürlich hätte auch er Kinder haben können, aber er hat sie abtreiben lassen, und dass er das nicht hätte tun sollen, das lehrt ihn nun sein Engel. Und so schleudert er denn bei der Geldübergabe dem Staatsanwalt die Botschaft dieser kalten Winternacht entgegen - das ganz große Bekenntnis zum Kind: "Aber Leben heißt, etwas weitergeben, egal, an wen, egal, unter welchen Umständen, auch fast egal, was - Hauptsache geben! Milch aufsetzen, ein Brot streichen, gute Miene machen, den Schulweg mitgehen." Das sind literarisch natürlich ganz gruselige Sätze, aufgrund ihres brutalen Willens zur Eindeutigkeit viel gruseliger jedenfalls als die Szene, in der Hoederer ein Ohr weggeschossen wird.
Der künftige Regisseur wird sie unbedingt streichen müssen, denn nicht einmal die übelste Knattercharge würde sie sprechen können. Und dennoch läuft bei diesem Buch alles auf diese Sätze hinaus, und deshalb wird man es, bei all seinen Schwächen, als Zeitsymptom doch hochinteressant finden dürfen. Es erzählt von der Sehnsucht nach einem Kind, das uns zuhört und uns durch seine Anwesenheit Augenblicke des Glücks schenkt. Zu dieser Einsicht haben es die alten Achtundsechziger also nun auch gebracht. Doch soll man es den Kindern wirklich wünschen, dass sie zu Geiseln solcher späten Sehnsüchte werden?
Aber wir befinden uns ja irgendwie in einem Märchen, und dass Kinder, die plötzlich in kalten Winternächten erscheinen, Großes bewirken können, dafür gibt es bedeutende Beispiele. Und so wird denn die Sehnsucht nach dem Kind zu dem Thema, das Bodo Kirchhoffs kruden "Tatort" ins Weihnachtsmärchen umkippen lässt. Der Verlierer und sein Engel werfen ihr bisschen Glauben an Gott zusammen, so dass es reichen könnte: "Für ein verdammtes Wunder. Mit dem wir hier irgendwie durch die Nacht kommen, du und ich und der Hund. So was wie Weihnachten, verstehst du?" Kamera ab! Damit wir uns das im nächsten Advent im Fernsehen anschauen können. Nachbarin, Euer Taschentuch!
ERNST OSTERKAMP
Bodo Kirchhoff: "Die kleine Garbo". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 287 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bodo Kirchhoff bekennt sich zum Schutzengel, der Garbo heißt
Bodo Kirchhoff hat ein deutsches Wintermärchen geschrieben. Wie schön! Er hat es aber so geschrieben, wie heute das deutsche Fernsehen Wintermärchen erzählen würde. Wie schade! Aber andererseits: Bodo Kirchhoff weiß natürlich genau, dass die Sehnsüchte, die früher in Märchen Erfüllung fanden, heute von den industrialisierten Phantasmagorien der Medien bedient werden. Wer ist denn noch so naiv, an Märchen zu glauben, die nicht wie Fernsehfilme daherkommen?
Deshalb hat der Leser des neuen Romans von Bodo Kirchhoff auch oft das Gefühl, er sitze eigentlich vor dem Fernsehapparat, und in höchstens neunzig Minuten sei das Ganze zu Ende. Aber auch diesen Effekt kalkuliert der Autor ein und erzählt deshalb, wie sich sein Wintermärchen parallel zu den Ereignissen in eine Fernsehproduktion verwandelt: Was da passiert, werden wir gewiss bald im Fernsehen sehen können. Wie schlau! Wie selbstreflexiv! Nur: Das kennen wir bereits; selbstreflexiv ist heute ja schon jeder "Tatort". Warum schauen wir uns dies Wintermärchen dann nicht gleich im Fernsehen an, wo es gewiss Eindruck machen würde; warum müssen wir noch den Roman lesen? Das ist schwer zu sagen.
Denn tatsächlich reicht die Grundidee des Romans eher für einen Fernsehfilm mit Paraderollen für zwei echte Rampensäue, die sich wechselseitig gegen die Wand spielen. Die Story: Der ewige Verlierer trifft in einer Situation absoluter Ausweglosigkeit auf einen berückenden Schutzengel und erlebt mit ihm doch noch einen Augenblick des Glücks, von dem sich sagen ließe: Verweile doch, du bist so schön. Oder genauer: Verweile doch, du bist zu schön. Schließlich sind wir im Fernsehen.
Der Verlierer heißt Giacomo Hoederer und ist ein überaus alter 68er, zwar noch keine sechzig Jahre alt, aber komplett am Ende. Seine "glücklichste Zeit" waren die Tage des Ansturms "gegen das Hurra-Blatt-Gebäude", danach ging es kontinuierlich bergab: Lehrer konnte er wegen des Radikalenerlasses nicht werden; seinen letzten Job hat er gerade verloren, und nun hat ihn auch seine zunehmend vom Leben enttäuschte Ehefrau mit ihrem - ach, Kirchhoff! - Psychoanalytiker verlassen und treibt sich in der Karibik herum. Also besorgt sich Hoederer eine Pistole und fährt an einem verschneiten Wintertag in die Wälder Brandenburgs, um sich dort aus dem Leben zu helfen. Statt dies zu tun, raubt er aber, einem spontanen Einfall folgend, eine erbärmliche kleine Bank aus, um - ach, Kirchhoff! - seine Frau mit einer gemeinsamen Kreuzfahrt durch die Karibik zurückgewinnen zu können, und erschießt dabei versehentlich eine alte Frau. Und überschlägt sich bei der Flucht mit dem Motorrad. Und erschießt, wie es das Fatum des ewigen Verlierers verlangt, ebenso versehentlich den ihm zur Hilfe eilenden Fahrer einer Luxuslimousine. In die sich Hoederer nun setzt, um sich nach all dem Elend endlich selbst zu erschießen. Woran ihn aber die Tatsache hindert, dass auf dem Rücksitz ein Schutzengel mit seinem Schoßhündchen sitzt.
Der heißt Marie-Luise März und ist ein knapp dreizehnjähriger Fernseh-Kinderstar mit hinreißenden Augen im Kindergesicht und wattierten Flügeln auf dem Rücken, denn "die Kleine" - so heißt sie fortan in dem Buch - war gerade auf dem Weg zum Set, wo die Filmcrew auf sie wartet, weil sie über einem zugefrorenen See einem komplizierten Liebespaar als Schutzengel erscheinen sollte. Daraus wird nun nichts mehr, weil der Kleinen zu ihrer und Hoederers Verblüffung plötzlich die Rolle der Geisel eines geborenen Verlierers zugefallen ist, denn Giacomo Hoederer entschließt sich, da er eh nichts mehr zu verlieren hat, einfach dazu, vier Millionen Lösegeld für das Glückskind zu verlangen. Und wer jetzt noch nicht begriffen hat, wie leicht es ist, diesen Roman zu verreißen, dem wird auch der übelstgelaunte Kritiker nicht mehr helfen können.
Der Autor dieser Zeilen hat aber gar keine Lust, dieses Buch zu verreißen: zum einen, weil es zu einfach wäre; zum anderen, weil er ein professionelles Vergnügen daran empfindet zu beobachten, wie bewusst und treffsicher der Autor selbst dem Kritiker die sichersten Steilvorlagen liefert, denn Kirchhoff weiß schließlich selbst genau, was Schund ist; und zum dritten, weil Kirchhoff seine Geschichte als Märchenerzähler, der von allen Plausibilitätserwägungen befreit ist, zügig und vergnüglich, traurig und am Ende auch spannend, auf jeden Fall aber mit einem mutigen Ja zu Kitsch und Sentimentalität, wenn ihm danach ist, heruntererzählt.
Das Resultat ist ungewöhnlich und kann sich schon deshalb sehen lassen: die mystische Hochzeit von "Tatort" und Weihnachtsmärchen. Dass am Ende viel von einem Taschentuch Gebrauch gemacht wird, darf man getrost als Lektüreanweisung verstehen. So etwas schreit doch nach einem skrupellosen Regisseur! (Nicht nach dem windelweichen Routinier, mit dem die Kleine ihre Filme dreht und der am Ende auch als der Regisseur für die Verfilmung ihrer Entführung auserwählt wird.)
Der müsste sich aber zu beherzten Eingriffen in die Story entschließen. Denn sie wird dadurch in die Länge gezogen, dass sich der alte Achtundsechziger relativ rasch als deutscher Oberlehrer entpuppt, was man wohl als Generationsschicksal verstehen muss, denn Hoederer selbst teilt der Kleinen mit, sein Jahrgang sei "der letzte" gewesen. Bodo Kirchhoff wird es wissen; schließlich gehört auch er ihm an. Nun aber kommt das Wunder: Die Generation der jetzt Kleinen scheint sich nach solchen Oberlehrern zu sehnen. Das Prinzip Hoffnung! ("Warum soll ein Hund keine Hoffnungen haben?") Jedenfalls gibt die Kleine, die aus einem Elternhaus von gutsituierter Oberflächlichkeit stammt und sich im übrigen in dem Alter befindet, in dem Töchter ihre Väter peinlich zu finden beginnen, ihrem Entführer die Chance, bei dem langen nächtlichen Warten auf die Geldübergabe im kalten Winterwald, durch den die Wölfe streifen, seine lange unterdrückten Talente als Lehrer unter Beweis zu stellen: Bruchrechnung, Dialektik, Theologie, "Macbeth", hier wird kaum etwas ausgelassen, und spätestens an dieser Stelle merkt der Leser, wie schlimm es sein muss, eine Geisel zu sein. Es gibt also für den künftigen Regisseur Möglichkeiten für mächtige Striche.
Die Grundsituation muss allerdings erhalten bleiben, denn aus ihr ergibt sich die Essenz der Story. Die selbstbewusst-widerständige Kleine entdeckt in ihrem erbärmlichen Entführer den klugen Lehrer, dem sie Vertrauen schenken kann, und so kommt es denn zu jenem Prozess emotionaler Verkumpelung, der das Publikum heute offensichtlich an Entführungen am meisten interessiert: Zuerst teilt man sich die Decke, dann kommt das Du, und am Ende dieser Geschichte, in der viel "Tatort"-Blut fließt, erweist sich die Kleine im Rahmen ihrer Möglichkeiten tatsächlich als das, was die Filmrolle ihr ohnehin schon vorgeschrieben hat: als Schutzengel. "Wie im Märchen kam ihr das plötzlich vor" - gewiss, aber musste das wirklich noch gesagt werden? Schließlich ist schon auf Seite 122 eine Sternschnuppe über das ungleiche Paar im Winterwald hinweggezogen; die beiden haben sie zwar nicht gesehen, der Leser aber hat sie leider gesehen und stapft von da an frohgemut durch Kälte und Schnee dem Ende entgegen.
Ein Mann braucht eben nur einen Engel, um kein Verlierer zu werden. Genauer gesagt: Er braucht ein Kind. Ebendies ist die Essenz dieses Buches. Natürlich ist Giacomo Hoederer, so elend er auch dasteht, gar kein wirklicher Verlierer, denn sonst könnte er in Situationen absoluter Ausweglosigkeit nicht ein so wunderbarer Lehrer sein und Sätze bilden wie: "Weißt du, was Stolz ist? Das Gefühl einer selbst erreichten Freiheit." (Wie totale Verlierer in ihrer Sprachlosigkeit aussehen, lernt man bei anderen Autoren, etwa bei Ludwig Fels.) Und vor allem ist er seelisch nicht so abgestumpft oder gar erloschen, dass er in der Winterwaldnacht mit der Kleinen nicht rasch spüren würde, was da in seine Existenz getreten ist: "das Stück Leben, das er nicht gekannt hatte bisher". Ein Kind eben, das ihn mit dem "Strom des Lebens" - so steht es wirklich da - verbindet.
Natürlich hätte auch er Kinder haben können, aber er hat sie abtreiben lassen, und dass er das nicht hätte tun sollen, das lehrt ihn nun sein Engel. Und so schleudert er denn bei der Geldübergabe dem Staatsanwalt die Botschaft dieser kalten Winternacht entgegen - das ganz große Bekenntnis zum Kind: "Aber Leben heißt, etwas weitergeben, egal, an wen, egal, unter welchen Umständen, auch fast egal, was - Hauptsache geben! Milch aufsetzen, ein Brot streichen, gute Miene machen, den Schulweg mitgehen." Das sind literarisch natürlich ganz gruselige Sätze, aufgrund ihres brutalen Willens zur Eindeutigkeit viel gruseliger jedenfalls als die Szene, in der Hoederer ein Ohr weggeschossen wird.
Der künftige Regisseur wird sie unbedingt streichen müssen, denn nicht einmal die übelste Knattercharge würde sie sprechen können. Und dennoch läuft bei diesem Buch alles auf diese Sätze hinaus, und deshalb wird man es, bei all seinen Schwächen, als Zeitsymptom doch hochinteressant finden dürfen. Es erzählt von der Sehnsucht nach einem Kind, das uns zuhört und uns durch seine Anwesenheit Augenblicke des Glücks schenkt. Zu dieser Einsicht haben es die alten Achtundsechziger also nun auch gebracht. Doch soll man es den Kindern wirklich wünschen, dass sie zu Geiseln solcher späten Sehnsüchte werden?
Aber wir befinden uns ja irgendwie in einem Märchen, und dass Kinder, die plötzlich in kalten Winternächten erscheinen, Großes bewirken können, dafür gibt es bedeutende Beispiele. Und so wird denn die Sehnsucht nach dem Kind zu dem Thema, das Bodo Kirchhoffs kruden "Tatort" ins Weihnachtsmärchen umkippen lässt. Der Verlierer und sein Engel werfen ihr bisschen Glauben an Gott zusammen, so dass es reichen könnte: "Für ein verdammtes Wunder. Mit dem wir hier irgendwie durch die Nacht kommen, du und ich und der Hund. So was wie Weihnachten, verstehst du?" Kamera ab! Damit wir uns das im nächsten Advent im Fernsehen anschauen können. Nachbarin, Euer Taschentuch!
ERNST OSTERKAMP
Bodo Kirchhoff: "Die kleine Garbo". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2006. 287 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Rezensent Wolf-Bernhard Essig hat dieser Roman das "Zeug zum Bestseller". Denn noch virtuoser als in seinem "Schundroman" verbindet Bodo Kirchhoff darin seiner Ansicht nach literarische und filmische "Genre-Ingredienzen" zu etwas ganz und gar Originellem. Im Zentrum steht der Beschreibung des Rezensenten zufolge Luise März, ein "pubertierender Kinderstar", die mit ihrem Hund Lorca zufälliges Opfer einer Entführung wird. Der Täter ist kein wirklicher Bösewicht, sondern eher durch unglückliche Fügung in die Sache herein geschlittert und die Art, wie nun Kirchhoff in seiner Geschichte Realistisches mit Märchenhaftem und Schauerelementen mischt, begeistert den Rezensenten bis zur letzten Seite. Da treten, wie er uns mit größtem Vergnügen wissen lässt, heulende Wölfe ebenso in Erscheinung wie die geld- und aufmerksamkeitsgeile Sphäre des Privatfernsehens. "Wie kann man einem die Welt erklären, der nicht fernsieht", zitiert der Rezensent das an ihrem altmodischen Entführer verzweifelnde Entführungsopfer und freut sich diebisch an Kirchhoffs kongenialem Mix, in dem es neben "bedeutungsschweren Naturimpressionen" auch eine Art Soundtrack aus Schlagern, Pop-Stücken und Opern gibt, und der seinen populärem Geschmack ebenso gerecht zu werden versteht wie seinen intellektuellen Ansprüchen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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In seinem Roman 'Die kleine Garbo' erzählt Bodo Kirchhoff die ebenso zeitgemäße wie wunderbare Geschichte vom Glück im Unglück. Morgenpost Sachsen 20121130
»In seinem Roman >Die kleine Garbo< erzählt Bodo Kirchhoff die ebenso zeitgemäße wie wunderbare Geschichte vom Glück im Unglück.« Dresdner Morgenpost 30.11.2012