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Ein Baum, ein Streichholz, eine Schachtel: Walter Benjamin hatte einen kleinen Baum auf Ibiza, dem er das Erlebnis der "Aura" verdankte. Rudolf Carnap brachte ein verbranntes Streichholz dazu, sich aus dem Schlamassel der dispositionalen Möglichkeiten zu befreien. Und Ludwig Wittgenstein diente ein Käfer in einer Schachtel dazu, sich existentielle Fragen zu stellen. Manfred Geier zeigt, daß nicht selten Alltagsgegenstände am Anfang großer, philosophischer Denkprozesse stehen. Sein Buch bietet die bescheidene Einsicht, daß es letztlich die konkreten Dinge sind, an denen sich das Denken…mehr

Produktbeschreibung
Ein Baum, ein Streichholz, eine Schachtel: Walter Benjamin hatte einen kleinen Baum auf Ibiza, dem er das Erlebnis der "Aura" verdankte. Rudolf Carnap brachte ein verbranntes Streichholz dazu, sich aus dem Schlamassel der dispositionalen Möglichkeiten zu befreien. Und Ludwig Wittgenstein diente ein Käfer in einer Schachtel dazu, sich existentielle Fragen zu stellen. Manfred Geier zeigt, daß nicht selten Alltagsgegenstände am Anfang großer, philosophischer Denkprozesse stehen. Sein Buch bietet die bescheidene Einsicht, daß es letztlich die konkreten Dinge sind, an denen sich das Denken entzündet.
"An Manfred Geiers kleinem, wunderschön ausgestattetem Buch kann man sich wärmen, ohne daß es uns in die Sauna des reinen Denkens einschlösse." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Autorenporträt
Manfred Geier, geboren 1943, lehrte viele Jahre Sprach- und Literaturwissenschaft an den Universitäten Marburg und Hannover. Jetzt lebt er als freier Publizist und Privatdozent in Hamburg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2001

Fetisch Tisch
Manfred Geier studiert, wie kleine
Dinge große Philosophie inspirieren
Was verbindet die Blätter der Fächerpalme mit einem schlichten Schreibtisch, eine Holzspule mit einem Käfer in der Schachtel, ein abgebranntes Streichholz mit einem Glas Wasser? Sie funktionierten, möchte Manfred Geier in seinem neuen Buch demonstrieren, als Katalysatoren bei Denkern wie Dichtern: Goethe und Marx, Freud und Wittgenstein, Carnap und Popper – jedesmal verdankt sich der privilegierte Augenblick der Erkenntnis auch einer biografischen Ausnahmesituation, meistens einer Krise.
Als Freud im Herbst 1915 seine Tochter Sophie in Hamburg besucht, beobachtet er fasziniert ein Spiel seines 18 Monate alten Enkels Ernst. Die ‚Versuchsanordnung‘ besteht aus einer mit einem Faden verknüpften Holzspule, die das Kind in sein Bett wirft, wo sie verschwindet (von Ernstl mit einem langgezogenen „o-o-o ...” begleitet), um darauf von dem Knaben mit einem freudigen „Da” am Faden wieder herausgezogen zu werden. Freud deutet das Geschehen symbolisch – wenn die Spule ein Muttersymbol darstellt, dann übt sich das Kind darin, die Anwesenheit/Abwesenheit seiner Mutter spielerisch zu beherrschen, es übt Triebverzicht. Ein gutes Jahr darauf wird Freud Zeuge, wie Ernstl ein Spielzeug, über das er sich geärgert, mit dem Ausruf „Geh’n K(r)ieg!” zu Boden wirft. Da sein Vater derzeit in einem Lazarett liegt, lautet Freuds Hypothese, dass das Kind den Vater nicht vermisse.
1920 stirbt dann Sophie an den Folgen einer Grippe, doch der fast sechsjährige Ernstl bezeugt „keine Trauer um sie”. Der Analytiker sieht sich veranlasst, einen eigenständigen Todestrieb zu akzeptieren. „Das Ziel des Lebens ist der Tod.” Auf den ersten Blick erleidet das Pansexuelle seiner Lehre mit dieser Aussage einen Riss. Widersprachen nicht auch die Albträume der sogenannten Kriegsneurotiker der These vom Traum als Wunscherfüllung? Dennoch bleibt Freuds Theoriegebäude kohärent – bereits 1920 gab es das Diktum: „Das Leblose war früher da als das Lebende.” Dem Satz würde jeder Buddhist zustimmen, doch das psychoanalytische Nirwanaprinzip verdankt mehr den Gesetzen der Thermodynamik – so wird die orgastische Befriedigung zu einem Intervall zwischen zwei Unlustzuständen, die nur der reale Tod beendet. Um so mehr steht Geiers Fazit zur Disposition: „Der Großvater projizierte in das Spiel seines Enkels, was in ihm selbst seelisch vorging.”
Baum und Sprache
Vom Kleinkinder- zum Sprachspiel: Nach einer Phase philosophischer Abstinenz nahm Ludwig Wittgenstein 1929 seine sprach- und erkenntniskritischen Untersuchungen wieder auf. Seit dem „Tractatus” (1918) trieb ihn die Frage um, wie Kommunikation möglich ist, wenn zwischen Signifikant (Zeichen) und Signifikat (Bezeichnetem), Empfinden/Bewusstsein und Sprache kein zwingender Zusammenhang besteht. Was er „Sprachspiele” nennen wird, löst vermeintlich das Problem des Solipsismus, dessen Formel lautet: „Die Welt ist meine Welt.” In den Fragmenten der „Philosophischen Untersuchungen” gebrauchte er die Metapher vom Käfer in einer Schachtel, wenn jemand äußere, er empfinde Schmerzen – und Geier deutet dies als existentielle Wende des Philosophen.
Als unübersehbar erweist sich freilich immer wieder die Kluft zwischen poetischer und wissenschaftlich-philosophischer Wahrnehmung. Inspirierten Goethe 1787 in Palermo die Blätter der Fächerpalme zur idée fixe einer „Urpflanze”, die er in der „Metamorphose der Pflanzen” (1790) systematisierte, so verdankt sich dies einem analogischen Denken. Walter Benjamins Satori-Erlebnis unter einem Baum, im Sommer 1932 auf Ibiza, nach zahlreichen persönlichen Niederlagen, führt dagegen nur zu einem Aufschub des Suizids. Ein Zeugnis jener paradiesischen Erfahrung, der „Vermählung von Baum und Sprache”, sei das Stück „Der Baum und die Sprache”.
Auch im Karl Marx’ gewidmeten Kapitel begegnen wir indirekt dem numinosen Charakter von Bäumen wieder. Im Londoner Exil setzen dem 31-jährigen Philosophen materielle wie gesundheitliche Probleme gleichermaßen zu, die er mit Nikotin und Alkohol zu vergessen sucht. Beim Studium historischen Materials im Britischen Museum fasziniert ihn zunehmend die Maserung seines Arbeitstischs. „Noch zeichnet sich nicht ab”, so Geier, „welche zentrale Rolle der Tisch in einer Schlüsselszene von Das Kapital spielen wird, in der Marx den ‚Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis‘ dekonstruieren wird.”
Gab dem Sozialutopisten der Tisch Denkanstöße für das Verhältnis Gebrauchswert/Tauschwert, so reflektierte über den Tisch in der Psychiatrie von Rodez Antonin Artaud im Jahr 1945: „Der Tisch, an dem ich esse, ist aus rohem Holz; ohne Opium sehe ich ihn schmutziggelb, während er es im Grunde nicht ist. Das Opium macht ihn mir so, wie er auf der Erde seines Waldes ist, ein Diener voller Erbarmen, Breughelrot, Blut der Martern, die die ganze Materie erlitten hat, bevor sie mich zu ertragen vermochte.” Hätte es ohne den Silvaplanersee, an dessen Ufer Nietzsche im Sommer 1881 wandelte, weder die Idee der ‚ewigen Wiederkehr‘ noch den Zarathustra gegeben? Die kleinen Dinge der großen Philosophen sind eine rhapsodische Einladung zum ‚wilden‘ Denken. Ein notwendiger Einspruch wider die Fiktion wissenschaftlicher Objektivität.
BERND MATTHEUS
MANFRED GEIER: Die kleinen Dinge der großen Philosophen. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. Hamburg 2001. 276 S., 39 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Zeig mir deinen Käfer
Und Manfred Geier sagt dir, wer du bist / Von Dieter Thomä

Aus dem Blick durchs Schlüsselloch des verführerischen Hauses der Philosophie hat Manfred Geier ein Buch gemacht - ein Schlüssel-Buch über Schlüssel-Erlebnisse. Geier wirft einen Blick in die Wohn- und Werkstätten großer Denker just in dem Moment, da in ihnen philosophische Spreng-Sätze gemischt wurden. Er macht sich zum Zeugen der Geburtsstunden von Gedanken, die die Welt bedeuten. So ist sein Buch eine Sammlung von Miniaturen, in denen sich Erlebnisse und Erfahrungen langsam, aber sicher zu Theorien und Systemen auswachsen. Und da die Philosophen bei ihren Geburtswehen ertappt werden, sind sie in dem Moment, da Geier sie erwischt, tatsächlich einmal ungeschützt und unverstellt zugänglich. Kurz: Man versteht in diesem Buch wirklich, worum es ihnen geht.

September 1786: Johann Wolfgang Goethe entdeckt während der italienischen Reise die Fächerpalme, in der er das "Urphänomen" seiner Naturphilosophie gefunden zu haben meint. Sommer 1849: Zum ersten Mal setzt sich Karl Marx im Britischen Museum an jenen Tisch, jenes "sinnlich übersinnliche Ding", an dem ihm der Unterschied zwischen Gebrauchs- und Tauschwert aufgehen wird. September 1915: Sigmund Freud beobachtet seinen Enkel beim Spiel mit einer Spule, aus dem er die unbewußte Dynamik der Symbolbildung ableitet. Juli 1932: Walter Benjamin wandert über die staubigen Felder Ibizas, um, unter einem Baum ruhend, dessen "Aura" zu erfahren. Manfred Geier erzählt Geschichten von Dingen und Gedanken, genauer: von Palme (Goethe), Tisch (Marx), Käfer (Wittgenstein), Streichholz (Carnap), Glas Wasser (Popper), Baum (Benjamin) und anderem.

All diese Geschichten sind nie - oder nur ganz selten - an den Haaren herbeigezogen, und die Lebenserfahrungen, die Geier den Theorien zur Seite stellt, sind immer weit mehr als nur hübsche Illustration. Letztlich geht es ihm nicht um das lebensgeschichtliche Beiwerk, sondern um die philosophische Zutat; geboten wird ein Plädoyer für die Lebensnähe der Philosophie, bei dem sich weder die Philosophie beim Leben anbiedert (wie dies in jüngerer Zeit bei selbsternannten philosophisch-ethischen Ratgebern der Fall ist) noch das Leben mit aller Gewalt der Philosophie zugeschlagen wird. "Philosophen sind nicht verrückt. Aber in der Philosophie vollzieht sich eine ständige Verrückung der Standorte und der Ebenen . . . Die Verwirrung dessen, was sonst das Vertrauteste ist, eröffnet einen neuen Blick auf die Dinge."

In Hans-Georg Gadamers "Wahrheit und Methode" stolpert man über den Satz: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache." Auch wenn Gadamer bei Geier nicht erwähnt wird, gewinnt man den Eindruck, sein Buch sei ein einziger Einspruch gegen diesen Satz, genauer gesagt: gegen dessen Verschwommenheit. Denn was Gadamer mit ihm im Sinn hat, ist einigermaßen undurchsichtig. Welch wundersame Verwandlung von Sein in Sprache schwebt ihm vor? Und wenn - im Sinne einer ganz und gar wohlmeinenden Exegese Gadamers - doch noch irgendein unverstandenes oder gar unverständliches Sein übrigbleiben sollte, das sich zur Sprache querstellt, bliebe in jedem Fall die Frage übrig: Wie hätten wir dann mit ihm zu tun?

Während Gadamer den Mantel der Sprache über dieses Geheimnis ausbreitet, entdeckt Geier an unserem Verhältnis zu den Dingen, zu der sperrigen Welt, in der wir leben, eine Wunde - die Wunde, die wir lecken, wenn wir denken. Weil die Philosophie mit aller Kraft darum bemüht ist, über Gemeinplätze und Gewohnheiten hinauszukommen, betreibt sie eben die "Verrückung" unseres herkömmlichen Selbstverständnisses. Statt sich im Labyrinth einer sprachlichen Ordnung gemütlich einzurichten, bricht Geier zum Erkennen aus, nimmt die "kleinen Dinge" als Herausforderungen für das Denken, welches ihnen doch nie ganz gewachsen ist.

So mischt sich in diesem Buch auf anrührende Weise die Bewunderung für die großen Entwürfe der Philosophie mit der bescheidenen Einsicht, daß die Dinge, an denen das Denken sich entzündet, letztlich doch etwas Fremdes, Unfaßbares behalten. "Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt", heißt es bei Hölderlin. An Manfred Geiers kleinem, übrigens wunderschön ausgestatteten Buch kann man sich wärmen, ohne daß es uns in die Sauna des reinen Denkens einschlösse.

Manfred Geier: "Die kleinen Dinge der großen Philosophen". Verlag Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2001. 276 S., geb., 39,- DM.

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