Als die Mutter ihr die Gebrauchsanweisung gibt, ist es schon lange passiert. Zehn Jahre später berichtet die Tochter ihrer Mutter, wie sie ihre Unschuld verlor - an einem heißen Sommernachmittag, vor den großen Ferien, die Mutter war in der Redaktion, der Vater auf Reisen, und der Nachbar, der amerikanische Kammersänger Mr. Waterhouse, wollte mit ihr, der damals Vierzehnjährigen, ein Lied einstudieren. Dass "Wasserhäuschen", wie die beiden ihn liebevoll nannten, auch der Liebhaber der Mutter ist, dass die Mutter einen ganzen Sommer lang von ihrer Tochter betrogen wurde, das enthüllt diese ihr im Laufe der Erzählung allmählich, voll grausamer Zärtlichkeit, und genüsslich wirft sie einen gnadenlosen Blick zurück auf die banalen Details dieses erwarteten Ereignisses: der Likörfleck auf dem Teppich, die zwei Handtücher, die Haarsträhne über der Glatze ihres ersten Liebhabers, das flache Schächtelchen in seiner Hand ...
Diese brillant erzählte Mutter-Tochter-Geschichte eröffnet den neuen Band mit Erzählungen Alissa Walsers wie ein Pendant zur Vater-Tochter-Geschichte "Geschenkt", für die sie 1992 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.
Geschichten wie die Geschichte, scheinbar hinter uns, tief wie der Schlaf der Konvention, aus und vorbei zwar - aber die Ausnüchterung bleibt dem Individuum überlassen. In diesem Zwischenraum von Exzess und Nüchternheit entstehen die Weltbilder der Figuren Alissa Walsers.
Diese brillant erzählte Mutter-Tochter-Geschichte eröffnet den neuen Band mit Erzählungen Alissa Walsers wie ein Pendant zur Vater-Tochter-Geschichte "Geschenkt", für die sie 1992 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt.
Geschichten wie die Geschichte, scheinbar hinter uns, tief wie der Schlaf der Konvention, aus und vorbei zwar - aber die Ausnüchterung bleibt dem Individuum überlassen. In diesem Zwischenraum von Exzess und Nüchternheit entstehen die Weltbilder der Figuren Alissa Walsers.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2000Die Kälte des Backfisches
Alles bleibt in der Schwebe: Neue Adoleszentinnen-Erzählungen von Alissa Walser
Graue Briefe mit halbtransparenten Umschlägen sind es, die Alissa Walser verschickt, elegante und indifferente Mitteilungen aus einer kunstvoll verrätselten Wirklichkeit. In den sieben Geschichten ihres zweiten Buches (eine davon heißt „Graue Briefe”) wird nichts erklärt, sondern nur angedeutet. Alles bleibt in der Schwebe, gerät zur Sache der Interpretation. Es ist dieselbe abgeklärte, in ihrer Kühle aufreizende Gleichgültigkeit, die bereits ihr Debüt „Dies ist nicht meine ganze Geschichte” von 1994 prägte. Auch damals wurden die knapp hundert Seiten von seriellen, vignettenartigen Zeichnungen der Autorin gedehnt und aufgelockert. Jetzt sind es schematisch dargestellte Festtagsbraten, Gänse mit Stopftrichter im Schnabel oder amorphe weibliche Akte.
An Walsers Stil und ihren Themen hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert; eine erzählerische Entwicklung lässt sich somit nicht feststellen. Selbst der schwer fassliche Georg des ersten Buchs taucht wieder auf, diesmal als Empfänger der „Grauen Briefe” einer undurchsichtigen Institution. Dahinter steckt natürlich eine Frau – die designierte Nachfolgerin der betrogenen Ich-Erzählerin. In solchen resignativen Momenten wirkt die Hälfte des Himmels, die Hälfte der Welt, die den Frauen angeblich zusteht, eindeutig kleiner – nämlich von diesen selbst vorauseilend verkleinert.
Triebstau eines Handybesitzers
Wie von weit weg gesprochen schildert sie Figuren, die Masken anprobieren, Rollen übernehmen, sich in Provokationen versuchen. Sie beschreibt sich entwickelnde weibliche Ichs, die noch einmal in schönem Eigensinn auflodern, bis sie sich in einer Gesellschaft der allumfassenden Optimierung einfinden müssen. Dieses Schema bedingt, dass Walsers Handlungsträgerinnen in der Mehrzahl Adoleszentinnen sind. Nicht nur für die Heldin der Titelgeschichte, die ihre Mutter mit deren Liebhaber betrügt, gilt die Lebensweisheit: „Solche Blicke bekommt man, wenn man um die vierzehn ist, langes Haar hat und glaubt, man könne weder sterben noch erwachsen werden. ”
Die Walserschen Backfische gewinnen ihre Sentenzen allein durch distanziertes Beobachten. Stumm und kalt läuft dieser Prozess ab, ganz nach Art der Fische. So verfolgt eine nächtliche Anhalterin mit naturwissenschaftlichem Interesse, wie sich ihre Freundin auf dem Beifahrersitz an ihrer Stelle dem Triebstau eines Handybesitzers opfert („Die Lust der Gans am Gestopftwerden”). Im Hintergrund des Rastplatzes nimmt die Ich-Erzählerin gleichzeitig Toilettenhäuschen ins Visier: „Sie spülen und spülen, als seien sie allein die Überlebenden einer Katastrophe und versuchten nun, sich selbst wegzuspülen. ” In solchen ausgefallenen Metaphern spiegelt sich die latente Gewalt, die über vielen Szenen liegt. Es ist ein dezidiert weibliches Verhältnis zur – sexuellen – Gewalt, das sich als basso continuo durch die Texte zieht und fortwährend reflektiert wird.
Mit Lust wird sie andererseits von den Lauras, Leas, Pias selbst an Hummern, Bedienungen und sonstigen untergeordneten Geschöpfen exerziert. Die Männer als eigentlicher Widerpart, als diejenigen, die sich der direkten Auseinandersetzung der Geschlechter nach Möglichkeit entziehen, bleiben seltsam untangiert.
Alissa Walser, 1961 geborene Tochter von Martin Walser und ausgebildete Malerin, hat sich vor allem durch ihre Übersetzung der Tagebücher von Sylvia Plath besondere Verdienste erworben. In einem Aufsatz zum 65. Geburtstag der Lyrikerin 1997 ging Alissa Walser ausführlich auf Plath’ Beziehung zur Gewalt ein (Frankfurter Rundschau vom 25.10.97): Zeit ihres kurzen, von eigener Hand beendeten Lebens „wünschte sie sich, ein universelles Mann-Frau-Wesen” zu sein. Für die Dichterin habe Brutalität das Ergebnis einer Schmerzerfahrung wie auch eine Art persönliche und schöpferische Antriebskraft dargestellt, resümiert Walser. Diese Kraft habe Plath als aus sich selbst stammend empfunden, aber zugleich als von außen gegen sie gerichtet.
Die Erzählungen aus „Die kleinere Hälfte der Welt” – der Titel klingt nach dem banalen Schlagertrost „Du bist nicht allein auf dieser Welt” – erscheinen vor diesem Hintergrund wie Illustrationen des Plathschen Gewaltverständnisses, eines Faszinosums, dem offenbar auch ihre deutsche Übersetzerin anheim gefallen ist. Sie möbelt das Grundthema mit salopper Schmissigkeit und gesuchten Bildsymbolen auf, bis ein Sound entsteht, der die Nachtseite von Frauenzeitschriften der höheren Preiskategorie verkörpert. Der sehnlich und ängstlich erwartete Verlust der Unschuld wird zum „Gemetzel unterm Rock”, das ausführende Organ wirkt auf die pubertierende Heldin „wie ein kleines weiches Tiermaul, das er in eine rosa Folie packte. Ich sah ihm zu und fühlte mich frei. ”
Die verbalerotisch gespickte Vater-Tochter-Geschichte „Geschenkt”, mit der Alissa Walser 1992 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, erhält im neuen Buch ihr Pendant in der titelgebenden Mutter-Tochter-Erzählung. Während die Mutter über ihre „kleinere Hälfte der Welt”, den häuslichen Garten, wacht beziehungsweise sich zur „Tatzeit” in der Redaktion aufhält, beginnt sich der sexuell unbeachtete Teenager freizuschwimmen. Die Tochter geht eine Liaison mit dem Nachbarn ein, einem schwammigen englischen Kammersänger. Derart klare und fassliche Schauplätze zeichnet Alissa Walser höchst selten. Die übrigen Geschichten versinken in einem Andeutungsnebel aus Restaurantbesuchen, Atelierwohnungen, launischer Gelegenheitsprostitution und Strandaufenthalten. Für das dritte Buch erhoffen wir uns mehr als eine weitere Variation der exquisiten kalten Fischhäppchen.
KATRIN HILLGRUBER
ALISSA WALSER: Die kleinere Hälfte der Welt. Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 112 Seiten mit Illustrationen der Autorin, 26 Mark.
Alissa Walser Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Alles bleibt in der Schwebe: Neue Adoleszentinnen-Erzählungen von Alissa Walser
Graue Briefe mit halbtransparenten Umschlägen sind es, die Alissa Walser verschickt, elegante und indifferente Mitteilungen aus einer kunstvoll verrätselten Wirklichkeit. In den sieben Geschichten ihres zweiten Buches (eine davon heißt „Graue Briefe”) wird nichts erklärt, sondern nur angedeutet. Alles bleibt in der Schwebe, gerät zur Sache der Interpretation. Es ist dieselbe abgeklärte, in ihrer Kühle aufreizende Gleichgültigkeit, die bereits ihr Debüt „Dies ist nicht meine ganze Geschichte” von 1994 prägte. Auch damals wurden die knapp hundert Seiten von seriellen, vignettenartigen Zeichnungen der Autorin gedehnt und aufgelockert. Jetzt sind es schematisch dargestellte Festtagsbraten, Gänse mit Stopftrichter im Schnabel oder amorphe weibliche Akte.
An Walsers Stil und ihren Themen hat sich in der Zwischenzeit nichts geändert; eine erzählerische Entwicklung lässt sich somit nicht feststellen. Selbst der schwer fassliche Georg des ersten Buchs taucht wieder auf, diesmal als Empfänger der „Grauen Briefe” einer undurchsichtigen Institution. Dahinter steckt natürlich eine Frau – die designierte Nachfolgerin der betrogenen Ich-Erzählerin. In solchen resignativen Momenten wirkt die Hälfte des Himmels, die Hälfte der Welt, die den Frauen angeblich zusteht, eindeutig kleiner – nämlich von diesen selbst vorauseilend verkleinert.
Triebstau eines Handybesitzers
Wie von weit weg gesprochen schildert sie Figuren, die Masken anprobieren, Rollen übernehmen, sich in Provokationen versuchen. Sie beschreibt sich entwickelnde weibliche Ichs, die noch einmal in schönem Eigensinn auflodern, bis sie sich in einer Gesellschaft der allumfassenden Optimierung einfinden müssen. Dieses Schema bedingt, dass Walsers Handlungsträgerinnen in der Mehrzahl Adoleszentinnen sind. Nicht nur für die Heldin der Titelgeschichte, die ihre Mutter mit deren Liebhaber betrügt, gilt die Lebensweisheit: „Solche Blicke bekommt man, wenn man um die vierzehn ist, langes Haar hat und glaubt, man könne weder sterben noch erwachsen werden. ”
Die Walserschen Backfische gewinnen ihre Sentenzen allein durch distanziertes Beobachten. Stumm und kalt läuft dieser Prozess ab, ganz nach Art der Fische. So verfolgt eine nächtliche Anhalterin mit naturwissenschaftlichem Interesse, wie sich ihre Freundin auf dem Beifahrersitz an ihrer Stelle dem Triebstau eines Handybesitzers opfert („Die Lust der Gans am Gestopftwerden”). Im Hintergrund des Rastplatzes nimmt die Ich-Erzählerin gleichzeitig Toilettenhäuschen ins Visier: „Sie spülen und spülen, als seien sie allein die Überlebenden einer Katastrophe und versuchten nun, sich selbst wegzuspülen. ” In solchen ausgefallenen Metaphern spiegelt sich die latente Gewalt, die über vielen Szenen liegt. Es ist ein dezidiert weibliches Verhältnis zur – sexuellen – Gewalt, das sich als basso continuo durch die Texte zieht und fortwährend reflektiert wird.
Mit Lust wird sie andererseits von den Lauras, Leas, Pias selbst an Hummern, Bedienungen und sonstigen untergeordneten Geschöpfen exerziert. Die Männer als eigentlicher Widerpart, als diejenigen, die sich der direkten Auseinandersetzung der Geschlechter nach Möglichkeit entziehen, bleiben seltsam untangiert.
Alissa Walser, 1961 geborene Tochter von Martin Walser und ausgebildete Malerin, hat sich vor allem durch ihre Übersetzung der Tagebücher von Sylvia Plath besondere Verdienste erworben. In einem Aufsatz zum 65. Geburtstag der Lyrikerin 1997 ging Alissa Walser ausführlich auf Plath’ Beziehung zur Gewalt ein (Frankfurter Rundschau vom 25.10.97): Zeit ihres kurzen, von eigener Hand beendeten Lebens „wünschte sie sich, ein universelles Mann-Frau-Wesen” zu sein. Für die Dichterin habe Brutalität das Ergebnis einer Schmerzerfahrung wie auch eine Art persönliche und schöpferische Antriebskraft dargestellt, resümiert Walser. Diese Kraft habe Plath als aus sich selbst stammend empfunden, aber zugleich als von außen gegen sie gerichtet.
Die Erzählungen aus „Die kleinere Hälfte der Welt” – der Titel klingt nach dem banalen Schlagertrost „Du bist nicht allein auf dieser Welt” – erscheinen vor diesem Hintergrund wie Illustrationen des Plathschen Gewaltverständnisses, eines Faszinosums, dem offenbar auch ihre deutsche Übersetzerin anheim gefallen ist. Sie möbelt das Grundthema mit salopper Schmissigkeit und gesuchten Bildsymbolen auf, bis ein Sound entsteht, der die Nachtseite von Frauenzeitschriften der höheren Preiskategorie verkörpert. Der sehnlich und ängstlich erwartete Verlust der Unschuld wird zum „Gemetzel unterm Rock”, das ausführende Organ wirkt auf die pubertierende Heldin „wie ein kleines weiches Tiermaul, das er in eine rosa Folie packte. Ich sah ihm zu und fühlte mich frei. ”
Die verbalerotisch gespickte Vater-Tochter-Geschichte „Geschenkt”, mit der Alissa Walser 1992 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, erhält im neuen Buch ihr Pendant in der titelgebenden Mutter-Tochter-Erzählung. Während die Mutter über ihre „kleinere Hälfte der Welt”, den häuslichen Garten, wacht beziehungsweise sich zur „Tatzeit” in der Redaktion aufhält, beginnt sich der sexuell unbeachtete Teenager freizuschwimmen. Die Tochter geht eine Liaison mit dem Nachbarn ein, einem schwammigen englischen Kammersänger. Derart klare und fassliche Schauplätze zeichnet Alissa Walser höchst selten. Die übrigen Geschichten versinken in einem Andeutungsnebel aus Restaurantbesuchen, Atelierwohnungen, launischer Gelegenheitsprostitution und Strandaufenthalten. Für das dritte Buch erhoffen wir uns mehr als eine weitere Variation der exquisiten kalten Fischhäppchen.
KATRIN HILLGRUBER
ALISSA WALSER: Die kleinere Hälfte der Welt. Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 112 Seiten mit Illustrationen der Autorin, 26 Mark.
Alissa Walser Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2000Fröhliche Fahrt, bodenlose Welt
Auto, Lastwagen, Schildkröte: Erzählungen von Alissa Walser
Alissa Walsers Debütroman hieß "Dies ist nicht meine ganze Geschichte". Manche Kritiker mochten ihn nicht. Die Gründe waren, wie es schien, moralischer und quantitativer Art: Das Buch sei zu dünn für einen Roman, und es sei in ihm zu viel oder auf die falsche Weise von Sex die Rede. Der Sex bei Walser hatte keinen Sinn, er spielte in der bodenlosen Welt des Konsums und der Moden, er war unverfroren und gelangweilt. Es war etwas Glamouröses in Alissa Walsers Selbststilisierung, und dazu passte, dass sie für Werbefotos der Firma "Windsor" Modell saß. Jetzt gibt es ein neues, genau so dünnes Buch von Alissa Walser. Es enthält sieben Erzählungen mitsamt ein paar Zeichnungen von der Hand der Autorin, und es demonstriert die Stärken hinter den vermeintlichen Defiziten. Knapp und kühl sind ihre Geschichten, außermoralisch ist ihre Betrachtungsweise.
Es steckt etwas Unheimliches, Unberechenbares in fast allen diesen Geschichten. Eine ausgesprochene oder unausgesprochene Drohung steht im Raum, und sie wird verstärkt durch den Umstand, dass die bedrohten Figuren die Gefahr suchen. In der Erzählung "Die kleinere Hälfte der Welt" erzählt eine Tochter ihrer Mutter, wie sie an einem Sommerabend vor einigen Jahren ihre Unschuld verlor; Mr. Waterhouse, der amerikanische Kammersänger und Nachbar, wollte mit der Vierzehnjährigen eigentlich "an der Aussprache eines Liedes arbeiten". "Das ist der Nachteil der höheren Schule", sagt die Tochter, "man weiß mit vierzehn schon zu viele Worte." Die erzählenden Ichs in diesen Geschichten sind "streetwise", überlegen, distanziert, auch ein bisschen gemein. Oft sind es Mädchen, "Girlies", die ein bisschen früher, als ihren Eltern lieb ist, "reif" geworden sind oder wenigstens neugierig. Im Verhältnis zu den Älteren sind sie die Wissenden. Die Mutter, "wie soll ich sagen, Heike, Mutti oder Erzeugerin", hat von alledem nichts geahnt; ja, sie hat nicht einmal geahnt, dass sie selbst betrogen wurde in diesem Sommer. Indem die Tochter den Bericht von ihrer Entjungferung nachträgt, verhöhnt sie die Mutter für ihre Ahnungslosigkeit.
Oft geht es bei Alissa Walser um Figuren, die für ihr Begehren bezahlen und den Preis, wie es aussieht, mit einer gewissen Nonchalance entrichten. In der Erzählung "Die Lust der Gans beim Gestopftwerden" ist die bevorstehende Liaison von Sex und Gewalt schon im Titel vorweggenommen. Zwei Mädchen sind per Anhalter unterwegs, und sie sind auf der Suche nach Abenteuern. "Nichts zurücklassen" wollen sie bei ihren Fahrten "als das stille Verlangen in den Augen der Fahrer". "Wir sind jung und hübsch", sagen sie, "und zart wie die Blümchen auf unseren Röcken."
Ein Geschäftsreisender hat sie mitgenommen, und nun reden sie ihn schwindlig mit Geschichten über Gänse und wie man sie stopft. Udo, der Autofahrer, hat Lust auf Laura, und Laura scheint nicht abgeneigt. Auf einem leeren Parkplatz, im Innern des Pkw, haben die beiden Sex miteinander, und der alles von draußen beobachtenden Erzählerin erscheinen die Bewegungen der beiden Personen wie die Rotation von Bürsten in einer Autowaschanlage. So sehend und teilnahmslos bewegt sich die Erzählerin auch durch die übrigen Geschichten. Nicht von Tätern und Opfern ist die Rede, sondern von den ambivalenten, aber durchweg verheerenden Effekten der Begierde.
Die dann folgenden Geschichten werden zunehmend verwinkelt und bizarr. "Ein Auto, ein Lastwagen, eine Schildkröte", heißt die vorletzte Erzählung. Ein Kind wünscht sich von seinem Vater, einem Künstler, bei dem es vorweihnachtlich friedlich im Atelier sitzt, während die Mutter Einkäufe tätigt, ebendiese drei Dinge. Dann ruft eine Studentin an, offenbar eine seiner vielen Geliebten, man redet über Sex auf dem Atelierteppich, und die vorweihnachtliche Stimmung ist verflogen. Die Studentin hat inzwischen einen anderen Lover, aber das verschweigt sie dem Maler-Liebhaber, den sie "Vati" nennt. Sie erwarte ein Kind von ihm, dem Maler, sagt sie, und versetzt ihm einen Schock. Dann schickt sie ihren schwarzen Lover ins Loft des Malers und lässt ihn seiner Frau "ein zugeschweißtes Plastiksäckchen mit weichem Inhalt" übergeben. Was für ein Geschenk ist das? Kein Auto, so viel steht fest, kein Lastwagen, auch keine Schildkröte. Die Rache der Frauen ist fürchterlich in Alissa Walsers Erzählungen, und ihre Überlegenheit auch.
CHRISTOPH BARTMANN.
Alissa Walser: "Die kleinere Hälfte der Welt". Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 112 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auto, Lastwagen, Schildkröte: Erzählungen von Alissa Walser
Alissa Walsers Debütroman hieß "Dies ist nicht meine ganze Geschichte". Manche Kritiker mochten ihn nicht. Die Gründe waren, wie es schien, moralischer und quantitativer Art: Das Buch sei zu dünn für einen Roman, und es sei in ihm zu viel oder auf die falsche Weise von Sex die Rede. Der Sex bei Walser hatte keinen Sinn, er spielte in der bodenlosen Welt des Konsums und der Moden, er war unverfroren und gelangweilt. Es war etwas Glamouröses in Alissa Walsers Selbststilisierung, und dazu passte, dass sie für Werbefotos der Firma "Windsor" Modell saß. Jetzt gibt es ein neues, genau so dünnes Buch von Alissa Walser. Es enthält sieben Erzählungen mitsamt ein paar Zeichnungen von der Hand der Autorin, und es demonstriert die Stärken hinter den vermeintlichen Defiziten. Knapp und kühl sind ihre Geschichten, außermoralisch ist ihre Betrachtungsweise.
Es steckt etwas Unheimliches, Unberechenbares in fast allen diesen Geschichten. Eine ausgesprochene oder unausgesprochene Drohung steht im Raum, und sie wird verstärkt durch den Umstand, dass die bedrohten Figuren die Gefahr suchen. In der Erzählung "Die kleinere Hälfte der Welt" erzählt eine Tochter ihrer Mutter, wie sie an einem Sommerabend vor einigen Jahren ihre Unschuld verlor; Mr. Waterhouse, der amerikanische Kammersänger und Nachbar, wollte mit der Vierzehnjährigen eigentlich "an der Aussprache eines Liedes arbeiten". "Das ist der Nachteil der höheren Schule", sagt die Tochter, "man weiß mit vierzehn schon zu viele Worte." Die erzählenden Ichs in diesen Geschichten sind "streetwise", überlegen, distanziert, auch ein bisschen gemein. Oft sind es Mädchen, "Girlies", die ein bisschen früher, als ihren Eltern lieb ist, "reif" geworden sind oder wenigstens neugierig. Im Verhältnis zu den Älteren sind sie die Wissenden. Die Mutter, "wie soll ich sagen, Heike, Mutti oder Erzeugerin", hat von alledem nichts geahnt; ja, sie hat nicht einmal geahnt, dass sie selbst betrogen wurde in diesem Sommer. Indem die Tochter den Bericht von ihrer Entjungferung nachträgt, verhöhnt sie die Mutter für ihre Ahnungslosigkeit.
Oft geht es bei Alissa Walser um Figuren, die für ihr Begehren bezahlen und den Preis, wie es aussieht, mit einer gewissen Nonchalance entrichten. In der Erzählung "Die Lust der Gans beim Gestopftwerden" ist die bevorstehende Liaison von Sex und Gewalt schon im Titel vorweggenommen. Zwei Mädchen sind per Anhalter unterwegs, und sie sind auf der Suche nach Abenteuern. "Nichts zurücklassen" wollen sie bei ihren Fahrten "als das stille Verlangen in den Augen der Fahrer". "Wir sind jung und hübsch", sagen sie, "und zart wie die Blümchen auf unseren Röcken."
Ein Geschäftsreisender hat sie mitgenommen, und nun reden sie ihn schwindlig mit Geschichten über Gänse und wie man sie stopft. Udo, der Autofahrer, hat Lust auf Laura, und Laura scheint nicht abgeneigt. Auf einem leeren Parkplatz, im Innern des Pkw, haben die beiden Sex miteinander, und der alles von draußen beobachtenden Erzählerin erscheinen die Bewegungen der beiden Personen wie die Rotation von Bürsten in einer Autowaschanlage. So sehend und teilnahmslos bewegt sich die Erzählerin auch durch die übrigen Geschichten. Nicht von Tätern und Opfern ist die Rede, sondern von den ambivalenten, aber durchweg verheerenden Effekten der Begierde.
Die dann folgenden Geschichten werden zunehmend verwinkelt und bizarr. "Ein Auto, ein Lastwagen, eine Schildkröte", heißt die vorletzte Erzählung. Ein Kind wünscht sich von seinem Vater, einem Künstler, bei dem es vorweihnachtlich friedlich im Atelier sitzt, während die Mutter Einkäufe tätigt, ebendiese drei Dinge. Dann ruft eine Studentin an, offenbar eine seiner vielen Geliebten, man redet über Sex auf dem Atelierteppich, und die vorweihnachtliche Stimmung ist verflogen. Die Studentin hat inzwischen einen anderen Lover, aber das verschweigt sie dem Maler-Liebhaber, den sie "Vati" nennt. Sie erwarte ein Kind von ihm, dem Maler, sagt sie, und versetzt ihm einen Schock. Dann schickt sie ihren schwarzen Lover ins Loft des Malers und lässt ihn seiner Frau "ein zugeschweißtes Plastiksäckchen mit weichem Inhalt" übergeben. Was für ein Geschenk ist das? Kein Auto, so viel steht fest, kein Lastwagen, auch keine Schildkröte. Die Rache der Frauen ist fürchterlich in Alissa Walsers Erzählungen, und ihre Überlegenheit auch.
CHRISTOPH BARTMANN.
Alissa Walser: "Die kleinere Hälfte der Welt". Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 112 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hedwig Appelt hat durchaus noch Mitleid, wenn sie Alissa Walsers Erzählungen verreißt. Den Texten sei anzumerken, dass ihre Autorin viel Arbeit hineingesteckt habe, aber hier liegt schon ein gewaltiges Manko, wie die Rezensentin findet. Denn den Erzählungen sei der Drang anzumerken, "zu metaphorisieren, zu symbolisieren und assoziieren", was den dargestellten Figuren jede Lebendigkeit nehme. Die erzählten Geschichten - "so bekannt und lästig wie die Erinnerungen an die eigene Spätpubertät" - schreckten auch vor Klischees nicht zurück. Sie hätten unfreiwilliges Pathos und bemühten Bilder und Vergleiche, die nur allzuhäufig "schief" seien. Und so fällt die Rezensentin am Schluß das harte Urteil, dass die Erzählungen der "kleineren Hälfte der Welt", die Literatur heiße, nicht zuzurechnen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH