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Eine Vierzehnjährige teilt den Liebhaber mit ihrer Mutter; zwei Freundinnen lieben es, beim Trampen mit den Fahrern zu flirten, bis eine eines Tages zu weit geht. Die Weltbilder der Figuren Alissa Walsers, Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, befinden sich immer im Zwischenraum von Exzess und Nüchternheit.

Produktbeschreibung
Eine Vierzehnjährige teilt den Liebhaber mit ihrer Mutter; zwei Freundinnen lieben es, beim Trampen mit den Fahrern zu flirten, bis eine eines Tages zu weit geht. Die Weltbilder der Figuren Alissa Walsers, Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, befinden sich immer im Zwischenraum von Exzess und Nüchternheit.

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Autorenporträt
Alissa Walser, 1961 in Friedrichshafen geboren, lebt als Malerin, Schriftstellerin und Übersetzerin bei Frankfurt am Main. Letzte Veröffentlichungen: "Am Anfang war die Nacht Musik", 2010, "Von den Tieren im Notieren", 2015, und "Eindeutiger Versuch einer Verführung", 2017.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2000

Fröhliche Fahrt, bodenlose Welt
Auto, Lastwagen, Schildkröte: Erzählungen von Alissa Walser

Alissa Walsers Debütroman hieß "Dies ist nicht meine ganze Geschichte". Manche Kritiker mochten ihn nicht. Die Gründe waren, wie es schien, moralischer und quantitativer Art: Das Buch sei zu dünn für einen Roman, und es sei in ihm zu viel oder auf die falsche Weise von Sex die Rede. Der Sex bei Walser hatte keinen Sinn, er spielte in der bodenlosen Welt des Konsums und der Moden, er war unverfroren und gelangweilt. Es war etwas Glamouröses in Alissa Walsers Selbststilisierung, und dazu passte, dass sie für Werbefotos der Firma "Windsor" Modell saß. Jetzt gibt es ein neues, genau so dünnes Buch von Alissa Walser. Es enthält sieben Erzählungen mitsamt ein paar Zeichnungen von der Hand der Autorin, und es demonstriert die Stärken hinter den vermeintlichen Defiziten. Knapp und kühl sind ihre Geschichten, außermoralisch ist ihre Betrachtungsweise.

Es steckt etwas Unheimliches, Unberechenbares in fast allen diesen Geschichten. Eine ausgesprochene oder unausgesprochene Drohung steht im Raum, und sie wird verstärkt durch den Umstand, dass die bedrohten Figuren die Gefahr suchen. In der Erzählung "Die kleinere Hälfte der Welt" erzählt eine Tochter ihrer Mutter, wie sie an einem Sommerabend vor einigen Jahren ihre Unschuld verlor; Mr. Waterhouse, der amerikanische Kammersänger und Nachbar, wollte mit der Vierzehnjährigen eigentlich "an der Aussprache eines Liedes arbeiten". "Das ist der Nachteil der höheren Schule", sagt die Tochter, "man weiß mit vierzehn schon zu viele Worte." Die erzählenden Ichs in diesen Geschichten sind "streetwise", überlegen, distanziert, auch ein bisschen gemein. Oft sind es Mädchen, "Girlies", die ein bisschen früher, als ihren Eltern lieb ist, "reif" geworden sind oder wenigstens neugierig. Im Verhältnis zu den Älteren sind sie die Wissenden. Die Mutter, "wie soll ich sagen, Heike, Mutti oder Erzeugerin", hat von alledem nichts geahnt; ja, sie hat nicht einmal geahnt, dass sie selbst betrogen wurde in diesem Sommer. Indem die Tochter den Bericht von ihrer Entjungferung nachträgt, verhöhnt sie die Mutter für ihre Ahnungslosigkeit.

Oft geht es bei Alissa Walser um Figuren, die für ihr Begehren bezahlen und den Preis, wie es aussieht, mit einer gewissen Nonchalance entrichten. In der Erzählung "Die Lust der Gans beim Gestopftwerden" ist die bevorstehende Liaison von Sex und Gewalt schon im Titel vorweggenommen. Zwei Mädchen sind per Anhalter unterwegs, und sie sind auf der Suche nach Abenteuern. "Nichts zurücklassen" wollen sie bei ihren Fahrten "als das stille Verlangen in den Augen der Fahrer". "Wir sind jung und hübsch", sagen sie, "und zart wie die Blümchen auf unseren Röcken."

Ein Geschäftsreisender hat sie mitgenommen, und nun reden sie ihn schwindlig mit Geschichten über Gänse und wie man sie stopft. Udo, der Autofahrer, hat Lust auf Laura, und Laura scheint nicht abgeneigt. Auf einem leeren Parkplatz, im Innern des Pkw, haben die beiden Sex miteinander, und der alles von draußen beobachtenden Erzählerin erscheinen die Bewegungen der beiden Personen wie die Rotation von Bürsten in einer Autowaschanlage. So sehend und teilnahmslos bewegt sich die Erzählerin auch durch die übrigen Geschichten. Nicht von Tätern und Opfern ist die Rede, sondern von den ambivalenten, aber durchweg verheerenden Effekten der Begierde.

Die dann folgenden Geschichten werden zunehmend verwinkelt und bizarr. "Ein Auto, ein Lastwagen, eine Schildkröte", heißt die vorletzte Erzählung. Ein Kind wünscht sich von seinem Vater, einem Künstler, bei dem es vorweihnachtlich friedlich im Atelier sitzt, während die Mutter Einkäufe tätigt, ebendiese drei Dinge. Dann ruft eine Studentin an, offenbar eine seiner vielen Geliebten, man redet über Sex auf dem Atelierteppich, und die vorweihnachtliche Stimmung ist verflogen. Die Studentin hat inzwischen einen anderen Lover, aber das verschweigt sie dem Maler-Liebhaber, den sie "Vati" nennt. Sie erwarte ein Kind von ihm, dem Maler, sagt sie, und versetzt ihm einen Schock. Dann schickt sie ihren schwarzen Lover ins Loft des Malers und lässt ihn seiner Frau "ein zugeschweißtes Plastiksäckchen mit weichem Inhalt" übergeben. Was für ein Geschenk ist das? Kein Auto, so viel steht fest, kein Lastwagen, auch keine Schildkröte. Die Rache der Frauen ist fürchterlich in Alissa Walsers Erzählungen, und ihre Überlegenheit auch.

CHRISTOPH BARTMANN.

Alissa Walser: "Die kleinere Hälfte der Welt". Erzählungen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 112 S., geb., 26,- DM.

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Alissa Walsers Texte hinterlassen Spuren auf der Seele des Lesers. Berliner Morgenpost