Am 10. November 1944 wurden auf Geheiß der Gestapo dreizehn Deutsche in Köln-Ehrenfeld an einem Bahndamm erhängt. Seit Mitte der 1970er Jahre wird heftig darüber gestritten, ob die Ermordeten nur Mitglieder einer Diebesbande waren, oder sich unter ihnen auch Mitglieder der oppositionellen Edelweißpiraten befanden und die Toten als Widerstandskämpfer anzuerkennen sind. Die Kontroverse, massiv von den Medien beeinflusst, ist bis heute nicht beendet.Zum siebzigsten Jahrestag der tragischen Ereignisse trägt Winfried Seibert alle Fakten zusammen, die sich über die Ereignisse der Zeitzeugenaussagen, Gerichtsakten und wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben. Auf dieser Basis setzt sich der Autor mit der Beurteilung der Vorgänge unter den unterschiedlichen Nachkriegsperspektiven auseinander: Waren unter diesen Opfern Edelweißpiraten, wenn ja, wie viele, und welche Rolle haben sie bei den Aktivitäten der Ehrenfelder Gruppe gespielt? War es lediglich eine kriminelle Gruppe, wie die Behörden im Rahmen der Entschädigungsverhandlungen befunden hatten, oder waren es dreizehn Kölner Jungen aus Ehrenfeld, die den Krieg beenden wollten und "starben, damit wir leben sollten" - wie es zeitweilig auf der Gedenktafel hieß?Winfried Seibert gelingt es, die überkommene Geschichte um die Ehrenfelder Gruppe zu entmythologisieren. Er zeigt, dass nicht alle Fakten, die Teil der immer noch unversöhnlichen Argumentation in der Kölner Kontroverse sind, stimmen. Auch solche, die felsenfest gesichert zu sein scheinen. Vieles wurde überprüft und gerne geglaubt, obwohl manches leicht zu klären gewesen wäre, wenn man es gewollt hätte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2015Unter Kölner Trümmern
"Endzeitverbrechen" 1944
An einem Bahndamm des Kölner Stadtteils Ehrenfeld wurden am 10. November 1944 auf Geheiß der Gestapo dreizehn Deutsche erhängt. Ebenso grausam waren hier - nur Tage vor dieser als Hinrichtung getarnten Ermordung - elf ausländische Zwangsarbeiter umgebracht worden. Das wankende Hitler-Deutschland wollte demonstrieren, dass es sogenannter krimineller und hochverräterischer Elemente immer noch Herr wurde. Die im Bombenkrieg in existentiellen Nöten weiter ausharrende zivile Restbevölkerung Kölns, die nur noch über wenige Kommunikationsmöglichkeiten verfügte, registrierte durchaus "Endzeitverbrechen" des Regimes wie die in Ehrenfeld. Doch stand das blanke Überleben im Mittelpunkt alles Denkens und Tuns. Auch weit über das Kriegsende hinaus blieb das Interesse an der umgebrachten Ehrenfelder Gruppe gering. Während kein Täter belangt wurde, scheiterten in unglücklichen Verfahren Entschädigungsansprüche der heimgesuchten Familien.
Mit der Ende der siebziger Jahre einsetzenden "Kölner Kontroverse" änderten sich Rückblicke und Erinnerungskultur mit Folgen weit über die Stadt hinaus. Im Sog eines harten Kampagnenjournalismus stritten vor allem Alt-Bündische und kommunistisch unterwanderte "Antifaschisten" sowie 68er und um eine "Ehrenrettung" des Veedels Bemühte: Handelte es sich bei der Ehrenfelder Gruppe um eine bloße - Lebensmittel wie Waffen beschaffende - Diebesbande oder um verfolgte jugendliche Widerstandskämpfer mit dem 16-jährigen Schenk als Helden? Historiker wie Matthias von Hellfeld und Bernd Rusinek zeigten sich zwar gegenüber der Widerstandsthese skeptisch. Bei aufgeheizter Stimmung obsiegte aber die verklärende These, dass vor allem jugendliche Edelweißpiraten um Schenk als Widerständler gewirkt hätten und in den Tod geschickt worden seien. Als Yad Vashem diese Gruppe wegen ihres Einsatzes für untergetauchte Juden auszeichnete, schien diese Sicht besiegelt.
Der mit Rechtsstreitigkeiten um das Geschehen in Ehrenfeld wiederholt befasste Jurist und Historiker Winfried Seibert liefert eine zum Nachdenken zwingende Bestandsaufnahme und zudem eine spannende Lektüre. Aussage um Aussage der Kontroverse prüfend, rekonstruiert er das schrille Nebeneinander ungesicherter Tatsachen, Legenden, freier Erfindungen und Manipulationen. Hierbei zeigt sich, dass der Gegensatz Diebesbande oder Widerstandskämpfer von Beginn an verfehlt war. Er konnte den Zeitumständen 1944 nicht gerecht werden, auch nicht der Ehrenfelder Gruppe, und war einer Aufklärung abträglich. Selbst die "Nebenwirkungen" waren groß: So rückten andere relevante Vorgänge wie das Schicksal der ermordeten "Fremdarbeiter" oder der Verbleib der zahlreichen Kölner Edelweißpiraten in den Hintergrund.
Bei der Ehrenfelder Gruppe muss ihr führender Kopf Hans Steinbrück im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen. Er wurde bislang allzu leichtfertig als bloßer "Bandenchef" etikettiert und somit kaum beachtet. Der 23 Jahre alte Steinbrück, dem Aufräumkommando eines KZ-Außenlagers entkommen und "Bombenhans" genannt, war ein draufgängerischer und in der Wahl der Mittel nicht wählerischer Held während jener Phase des puren Überlebenskampfes. Er requirierte gewaltsam Lebensmittel und Waffen, gab mit großem Herzen aber auch Untergetauchten eine Chance und zog Jugendliche an. Nur er und seine Lebensgefährtin waren in jenen Novembertagen ohne Zögern bereit, drei Juden bei sich aufzunehmen - zwar nur kurzfristig, aber solange es eben ging. Ob er daran dachte, die von ihm gehorteten Waffen für eine Endabrechnung mit den Nazis zu nutzen, mithin Widerstand zu leisten, bleibt ungeklärt.
Die sechs am 10. November 1944 umgebrachten Jugendlichen seiner wenig homogenen Gruppe waren demgegenüber eher in tragischer Weise in die Katastrophe der Gruppe verwickelt, als dass sie sich als widerborstige und nonkonformistische Edelweißpiraten hervorgetan hätten. Fragt man sich, warum über die Akteure wie Steinbrück oder Schenk so bitter wenig bekannt ist, dann ist dreierlei maßgeblich. Zunächst ist unser Wissen über die Endphase Hitler-Deutschlands vielfach von Beginn an miserabel, weil deren Trümmer zu vielem schweigen. Nach 1945 versäumten mit Entschädigungsansprüchen der Opfer befasste Juristen, Fragen zu stellen und aufzuklären. Dieses Desaster einer nur bruchstückhaften Erinnerung wurde in den Stürmen der Kölner Kontroverse durch Geschichtsmanipulationen komplett. Das Buch von Seibert bietet die Möglichkeit, hier aufzuräumen, neu zu fragen und das verbliebene Wissen neu zu ordnen.
GÜNTER WOLLSTEIN
Winfried Seibert: Die Kölner Kontroverse. Legenden und Fakten um die NS-Verbrechen in Köln-Ehrenfeld. Klartext Verlag, Essen 2014. 186 S., 16,85 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Endzeitverbrechen" 1944
An einem Bahndamm des Kölner Stadtteils Ehrenfeld wurden am 10. November 1944 auf Geheiß der Gestapo dreizehn Deutsche erhängt. Ebenso grausam waren hier - nur Tage vor dieser als Hinrichtung getarnten Ermordung - elf ausländische Zwangsarbeiter umgebracht worden. Das wankende Hitler-Deutschland wollte demonstrieren, dass es sogenannter krimineller und hochverräterischer Elemente immer noch Herr wurde. Die im Bombenkrieg in existentiellen Nöten weiter ausharrende zivile Restbevölkerung Kölns, die nur noch über wenige Kommunikationsmöglichkeiten verfügte, registrierte durchaus "Endzeitverbrechen" des Regimes wie die in Ehrenfeld. Doch stand das blanke Überleben im Mittelpunkt alles Denkens und Tuns. Auch weit über das Kriegsende hinaus blieb das Interesse an der umgebrachten Ehrenfelder Gruppe gering. Während kein Täter belangt wurde, scheiterten in unglücklichen Verfahren Entschädigungsansprüche der heimgesuchten Familien.
Mit der Ende der siebziger Jahre einsetzenden "Kölner Kontroverse" änderten sich Rückblicke und Erinnerungskultur mit Folgen weit über die Stadt hinaus. Im Sog eines harten Kampagnenjournalismus stritten vor allem Alt-Bündische und kommunistisch unterwanderte "Antifaschisten" sowie 68er und um eine "Ehrenrettung" des Veedels Bemühte: Handelte es sich bei der Ehrenfelder Gruppe um eine bloße - Lebensmittel wie Waffen beschaffende - Diebesbande oder um verfolgte jugendliche Widerstandskämpfer mit dem 16-jährigen Schenk als Helden? Historiker wie Matthias von Hellfeld und Bernd Rusinek zeigten sich zwar gegenüber der Widerstandsthese skeptisch. Bei aufgeheizter Stimmung obsiegte aber die verklärende These, dass vor allem jugendliche Edelweißpiraten um Schenk als Widerständler gewirkt hätten und in den Tod geschickt worden seien. Als Yad Vashem diese Gruppe wegen ihres Einsatzes für untergetauchte Juden auszeichnete, schien diese Sicht besiegelt.
Der mit Rechtsstreitigkeiten um das Geschehen in Ehrenfeld wiederholt befasste Jurist und Historiker Winfried Seibert liefert eine zum Nachdenken zwingende Bestandsaufnahme und zudem eine spannende Lektüre. Aussage um Aussage der Kontroverse prüfend, rekonstruiert er das schrille Nebeneinander ungesicherter Tatsachen, Legenden, freier Erfindungen und Manipulationen. Hierbei zeigt sich, dass der Gegensatz Diebesbande oder Widerstandskämpfer von Beginn an verfehlt war. Er konnte den Zeitumständen 1944 nicht gerecht werden, auch nicht der Ehrenfelder Gruppe, und war einer Aufklärung abträglich. Selbst die "Nebenwirkungen" waren groß: So rückten andere relevante Vorgänge wie das Schicksal der ermordeten "Fremdarbeiter" oder der Verbleib der zahlreichen Kölner Edelweißpiraten in den Hintergrund.
Bei der Ehrenfelder Gruppe muss ihr führender Kopf Hans Steinbrück im Mittelpunkt aller Überlegungen stehen. Er wurde bislang allzu leichtfertig als bloßer "Bandenchef" etikettiert und somit kaum beachtet. Der 23 Jahre alte Steinbrück, dem Aufräumkommando eines KZ-Außenlagers entkommen und "Bombenhans" genannt, war ein draufgängerischer und in der Wahl der Mittel nicht wählerischer Held während jener Phase des puren Überlebenskampfes. Er requirierte gewaltsam Lebensmittel und Waffen, gab mit großem Herzen aber auch Untergetauchten eine Chance und zog Jugendliche an. Nur er und seine Lebensgefährtin waren in jenen Novembertagen ohne Zögern bereit, drei Juden bei sich aufzunehmen - zwar nur kurzfristig, aber solange es eben ging. Ob er daran dachte, die von ihm gehorteten Waffen für eine Endabrechnung mit den Nazis zu nutzen, mithin Widerstand zu leisten, bleibt ungeklärt.
Die sechs am 10. November 1944 umgebrachten Jugendlichen seiner wenig homogenen Gruppe waren demgegenüber eher in tragischer Weise in die Katastrophe der Gruppe verwickelt, als dass sie sich als widerborstige und nonkonformistische Edelweißpiraten hervorgetan hätten. Fragt man sich, warum über die Akteure wie Steinbrück oder Schenk so bitter wenig bekannt ist, dann ist dreierlei maßgeblich. Zunächst ist unser Wissen über die Endphase Hitler-Deutschlands vielfach von Beginn an miserabel, weil deren Trümmer zu vielem schweigen. Nach 1945 versäumten mit Entschädigungsansprüchen der Opfer befasste Juristen, Fragen zu stellen und aufzuklären. Dieses Desaster einer nur bruchstückhaften Erinnerung wurde in den Stürmen der Kölner Kontroverse durch Geschichtsmanipulationen komplett. Das Buch von Seibert bietet die Möglichkeit, hier aufzuräumen, neu zu fragen und das verbliebene Wissen neu zu ordnen.
GÜNTER WOLLSTEIN
Winfried Seibert: Die Kölner Kontroverse. Legenden und Fakten um die NS-Verbrechen in Köln-Ehrenfeld. Klartext Verlag, Essen 2014. 186 S., 16,85 [Euro].
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