Die 1960er Jahre. Bundesrepublik Deutschland. Im rheinischen Troisdorf betreiben die Eltern des Erzählers ein gutgehendes Fotoatelier. Nach außen hin demonstriert man seinen Status: Häuser. Neues Auto. Sonntäglicher Kirchgang - zumindest der Frauen und des Kindes. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade legen die Familienmitglieder verstörende Verhaltensweisen an den Tag. Was treibt die Eltern um, die während des Zweiten Weltkriegs bereits junge Erwachsene waren? Warum verabscheut die Oma, die zwei Weltkriege erlebte, ihren Enkel? In einem weiten Bogen erzählt Andreas Fischer die Geschichte seiner Familie von 1914 bis 2014, vom Einsatz des Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg bis zum Tod der Mutter. Der Autor verwebt Familienereignisse, die vor seiner Geburt lagen, mit Szenen aus seiner Kindheit und Dokumenten aus unterschiedlichen Quellen: Briefe des gefallenen Bruders der Mutter finden sich ebenso wie Unterlagen aus Militärarchiven. Ein Kriegsenkelroman. Bereits in mehreren Dokumentarfilmen beschäftigte sich Andreas Fischer mit der Frage, wie sich kriegsbedingte Verluste und Traumata generationenübergreifend auf Familien auswirken, so in Söhne ohne Väter ZDF, 2007 und Der Hamburger Feuersturm 1943 NDR, 2009.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Sebastian Schoepp hat nichts dagegen, dass immer mehr Boomer ihre Nachkriegskindheit in der BRD aufschreiben. Vor allem nicht, wenn sie es so bewegend tun wie der Dokumentarfilmer Andreas Fischer, der hier erzählt, wie er im Mief aus unverarbeiteten Kriegstraumata als Kind nur im Weg herumstand. Vernachlässigt von den Eltern, die an ihrem Schweigen zu ersticken drohten, gilt er der Großmutter, der titelgebenden "Königin von Troisdorf" als enttäuschender Ersatz für den gefallenen Sohn, der für Hitler kämpfte, resümiert der Kritiker. Statt von Gewalt und Missbrauch ist Fischers Kindheit von alltäglichen "Mikrograusamkeiten" geprägt, erläutert Schoepp: Schuld, Verlust, Kleinbürger-Träume und Enttäuschung über den verlorenen Krieg bilden die Sphäre, in der Fischer aufwächst. Wie präzise und effektiv der Autor seine Familiengeschichte aus Briefen, Erinnerungen und Dokumenten rekonstruiert, findet der Rezensent bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2022Unerwünschte Wunschkinder
Lakonische Abrechnung mit einer typischen westdeutschen Nachkriegskindheit: Andreas Fischers Roman „Die Königin von Troisdorf“
In dieser Familie gilt ein Grundsatz: „Störungen werden nicht zugelassen.“ Hier wird Leben, oder was davon übrig ist, abgelebt, abgearbeitet, ohne Schwingung, ohne Resonanz für andere oder sich selbst. Klar, dass ein Kind in diesem Umfeld ein Störfaktor ist, und so wird es auch behandelt. „Für mich ist kein Platz. Die Erschöpfung der Eltern presst mich an die Wand. Im Grunde sind sie nicht da.“ Aber war der kleine Andreas nicht eigentlich ein Wunschkind, der einzige Sohn, der einzige Enkel, die Ausgleich für erlittenes Leid und unsagbaren Verlust, der, auf den alles zulief? Sollte man meinen. Gespürt hat er nichts davon.
Andreas Fischer rechnet in seinem Roman „Die Königin von Troisdorf“ 473 Seiten lang lakonisch ab mit einer typischen westdeutschen Nachkriegskindheit im deutschen Westen. Es geht um das Verwirrspiel aus abweisender Strenge, emotionaler Vernachlässigung und erratischen Ausbrüchen von Zuneigung, die die ganze elterliche Selbstverkapselung für ihn nur noch unbegreifbarer machen. Da ist die verwehte Mutter, die ihr Lebensmotto schon 1938 ins innere Poesiealbum schrieb: „Bezwing Dein Herz damit es nicht was Dich bewegt den Menschen zeige.“ Der Vater steht tagsüber übellaunig im Laden und wochenends im Bastelkeller, abends sitzt er zusammengesunken bei Schnaps in der Küche. Um ihn herum: schwere Luft aus Nikotin, schlechter Laune und unverarbeiteten Kriegs-Traumata. Der Junge: Nur im Weg. Selbst der gute Onkel Bruno wird „richtig böse, wenn ich seiner Meinung nach frech bin oder einen Fehler mache“.
Über allem thront die gemeine – in Wahrheit innerlich selbst tief verletzte – Oma. Sie ist es, die „Königin von Troisdorf“, die sich nach ihrem im Krieg gefallenen Sohn sehnt, der für Hitler den Helden spielte. Der Enkel? Ein matter Ersatz. „Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.“ Andreas ist der mangelhafte Ersatz, wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem werden hätte können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld, schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tröpfchenfolter. Das Herz des Kindes? „Ganz dunkel und schwer“.
Jeder, der so etwas auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief angefasst. Andreas Fischer ist eigentlich Dokumentarfilmer und hat jahrzehntelang Zeitzeugen befragt – bis er endlich begann, die eigene Familiengeschichte aus Erinnerungen, Briefen und Dokumenten zu rekonstruieren; vor allem aber lässt er sein „inneres Kind“ sprechen.
Das tun derzeit sehr viele aus seiner Generation, aber nur sehr wenigen gelingt es so gut. Fast könnte man von einem Trend des autobiografischen und autofiktionalen Schreibens sprechen bei den Kriegskinder oder -enkeln, also der Ende der Fünfziger bis Mitte der Sechziger Geborenen. Irgendetwas hat sich angestaut, das raus muss, jetzt, da die „Boomer“ ins Bilanzalter kommen. Da macht sich eine stellvertretende Regierungssprecherin daran, den Fluchtweg des Vaters aus Schlesien nachzuwandern, ein bekannter Schauspieler erforscht die verlorenen Jahre der eigenen Eltern, andere durchforsten Wehrmachtsarchive, fleddern Feldpostbriefe auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: was hat Papa nur im Krieg gemacht? Und was hat das mit mir gemacht?
Warum dieser Trend gerade jetzt, da bald die letzten sterben werden, die den Krieg noch als Erwachsene erlebt haben? Eben deswegen, sagt Sven Rohde vom Verein Kriegsenkel: „Da geht ein Deckel auf.“ Die Familienloyalität habe es lange Zeit verhindert, dass Kinder Fragen nach der Vergangenheit stellten. Öffentlich sei die NS-Zeit in Deutschland aufgearbeitet, eine „Gedenkkultur entstanden, die Anerkennung verdient“. In den Familien hingegen: Schweigen. Der Sven Rohde aus Hamburg, selbst Kriegsenkel, bietet seit Jahren mit wachsendem Erfolg Seminare und Schreibwerkstätten zu dem Thema an, dort herrscht, nach „nach 40 Minuten der Raum voller Drama“, berichtet er, dann nämlich, wenn die Menschen zu spüren begännen, was da das Aufwachsen mit kriegselterntypischen Glaubenssätzen wie „Stell dich nicht so an“ oder „Freu dich nicht zu früh“ in ihnen angerichtet habe. Sie spüren, dass ihre fehlende Zuversicht, ihr problemorientiertes „Leben mit angezogener Handbremse“, kurz: die ganze innere Würstchenhaftigkeit, die das eigentliche Lebensgefühl der alten BRD war, möglicherweise nicht auf individuelles Versagen zurückzuführen ist, sondern das Schicksal ganzen Generation darstellt. Und das Ergebnis einer Traumaweitergabe, wie die Psychiaterin Luise Reddemann attestiert, Pionierin der Kriegsenkelforschung.
Andreas Fischer übrigens ist jetzt schon glücklich mit der Resonanz auf sein Buch. Das Schreiben an dem Thema hätte ihn „von Grund auf durchgequirlt“, sagt er. Aber nun „ist es gut damit“.
SEBASTIAN SCHOEPP
Andreas Fischer:
Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb. Eschen 4 Verlag,
Berlin 2022. 473 Seiten,
23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lakonische Abrechnung mit einer typischen westdeutschen Nachkriegskindheit: Andreas Fischers Roman „Die Königin von Troisdorf“
In dieser Familie gilt ein Grundsatz: „Störungen werden nicht zugelassen.“ Hier wird Leben, oder was davon übrig ist, abgelebt, abgearbeitet, ohne Schwingung, ohne Resonanz für andere oder sich selbst. Klar, dass ein Kind in diesem Umfeld ein Störfaktor ist, und so wird es auch behandelt. „Für mich ist kein Platz. Die Erschöpfung der Eltern presst mich an die Wand. Im Grunde sind sie nicht da.“ Aber war der kleine Andreas nicht eigentlich ein Wunschkind, der einzige Sohn, der einzige Enkel, die Ausgleich für erlittenes Leid und unsagbaren Verlust, der, auf den alles zulief? Sollte man meinen. Gespürt hat er nichts davon.
Andreas Fischer rechnet in seinem Roman „Die Königin von Troisdorf“ 473 Seiten lang lakonisch ab mit einer typischen westdeutschen Nachkriegskindheit im deutschen Westen. Es geht um das Verwirrspiel aus abweisender Strenge, emotionaler Vernachlässigung und erratischen Ausbrüchen von Zuneigung, die die ganze elterliche Selbstverkapselung für ihn nur noch unbegreifbarer machen. Da ist die verwehte Mutter, die ihr Lebensmotto schon 1938 ins innere Poesiealbum schrieb: „Bezwing Dein Herz damit es nicht was Dich bewegt den Menschen zeige.“ Der Vater steht tagsüber übellaunig im Laden und wochenends im Bastelkeller, abends sitzt er zusammengesunken bei Schnaps in der Küche. Um ihn herum: schwere Luft aus Nikotin, schlechter Laune und unverarbeiteten Kriegs-Traumata. Der Junge: Nur im Weg. Selbst der gute Onkel Bruno wird „richtig böse, wenn ich seiner Meinung nach frech bin oder einen Fehler mache“.
Über allem thront die gemeine – in Wahrheit innerlich selbst tief verletzte – Oma. Sie ist es, die „Königin von Troisdorf“, die sich nach ihrem im Krieg gefallenen Sohn sehnt, der für Hitler den Helden spielte. Der Enkel? Ein matter Ersatz. „Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.“ Andreas ist der mangelhafte Ersatz, wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem werden hätte können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld, schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tröpfchenfolter. Das Herz des Kindes? „Ganz dunkel und schwer“.
Jeder, der so etwas auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief angefasst. Andreas Fischer ist eigentlich Dokumentarfilmer und hat jahrzehntelang Zeitzeugen befragt – bis er endlich begann, die eigene Familiengeschichte aus Erinnerungen, Briefen und Dokumenten zu rekonstruieren; vor allem aber lässt er sein „inneres Kind“ sprechen.
Das tun derzeit sehr viele aus seiner Generation, aber nur sehr wenigen gelingt es so gut. Fast könnte man von einem Trend des autobiografischen und autofiktionalen Schreibens sprechen bei den Kriegskinder oder -enkeln, also der Ende der Fünfziger bis Mitte der Sechziger Geborenen. Irgendetwas hat sich angestaut, das raus muss, jetzt, da die „Boomer“ ins Bilanzalter kommen. Da macht sich eine stellvertretende Regierungssprecherin daran, den Fluchtweg des Vaters aus Schlesien nachzuwandern, ein bekannter Schauspieler erforscht die verlorenen Jahre der eigenen Eltern, andere durchforsten Wehrmachtsarchive, fleddern Feldpostbriefe auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: was hat Papa nur im Krieg gemacht? Und was hat das mit mir gemacht?
Warum dieser Trend gerade jetzt, da bald die letzten sterben werden, die den Krieg noch als Erwachsene erlebt haben? Eben deswegen, sagt Sven Rohde vom Verein Kriegsenkel: „Da geht ein Deckel auf.“ Die Familienloyalität habe es lange Zeit verhindert, dass Kinder Fragen nach der Vergangenheit stellten. Öffentlich sei die NS-Zeit in Deutschland aufgearbeitet, eine „Gedenkkultur entstanden, die Anerkennung verdient“. In den Familien hingegen: Schweigen. Der Sven Rohde aus Hamburg, selbst Kriegsenkel, bietet seit Jahren mit wachsendem Erfolg Seminare und Schreibwerkstätten zu dem Thema an, dort herrscht, nach „nach 40 Minuten der Raum voller Drama“, berichtet er, dann nämlich, wenn die Menschen zu spüren begännen, was da das Aufwachsen mit kriegselterntypischen Glaubenssätzen wie „Stell dich nicht so an“ oder „Freu dich nicht zu früh“ in ihnen angerichtet habe. Sie spüren, dass ihre fehlende Zuversicht, ihr problemorientiertes „Leben mit angezogener Handbremse“, kurz: die ganze innere Würstchenhaftigkeit, die das eigentliche Lebensgefühl der alten BRD war, möglicherweise nicht auf individuelles Versagen zurückzuführen ist, sondern das Schicksal ganzen Generation darstellt. Und das Ergebnis einer Traumaweitergabe, wie die Psychiaterin Luise Reddemann attestiert, Pionierin der Kriegsenkelforschung.
Andreas Fischer übrigens ist jetzt schon glücklich mit der Resonanz auf sein Buch. Das Schreiben an dem Thema hätte ihn „von Grund auf durchgequirlt“, sagt er. Aber nun „ist es gut damit“.
SEBASTIAN SCHOEPP
Andreas Fischer:
Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb. Eschen 4 Verlag,
Berlin 2022. 473 Seiten,
23 Euro.
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