»Der Leser findet hier die Mehrzahl der Interviews versammelt, die Roland Barthes in französischer Sprache gegeben hat.« So lautet der erste Satz der kurzen Vorbemerkung, die der Herausgeber diesem postum erschienenen Band beigegeben hat. Diese lapidare Bemerkung leitet eine Sammlung ein, die sich als Kommentar Roland Barthes' zum eigenen Werk lesen läßt. Barthes nimmt hier zu fast jedem seiner Werke Stellung, antwortet auf Einwände, erklärt seine Intention; und er wirft neue Fragen auf, die weiter reichen und deren Antwort erst noch zu finden bleibt.
Zugleich sind diese Interviews Erläuterung und Verlängerung dessen, was Barthes geschrieben hat: Sie sind das Komplement seines Werkes - und gleichzeitig die beste Einführung in sein Denken. Da diese Gespräche sich in der Zeit verteilen, zeigen sie, wie die Ausübung der Kritik den Theoretiker und Kritiker über alte, zuvor eingenommene Positionen hinaus weitertreibt. Sie lassen zugleich aber auch die Konstante erkennen, die die Kohärenz der Haltung Barthes' ausmacht: die dem Autor unverzichtbare Grundposition der Sprachlichkeit aller Phänomene und die dieser Rechnung tragende Analysemethode.
Zugleich sind diese Interviews Erläuterung und Verlängerung dessen, was Barthes geschrieben hat: Sie sind das Komplement seines Werkes - und gleichzeitig die beste Einführung in sein Denken. Da diese Gespräche sich in der Zeit verteilen, zeigen sie, wie die Ausübung der Kritik den Theoretiker und Kritiker über alte, zuvor eingenommene Positionen hinaus weitertreibt. Sie lassen zugleich aber auch die Konstante erkennen, die die Kohärenz der Haltung Barthes' ausmacht: die dem Autor unverzichtbare Grundposition der Sprachlichkeit aller Phänomene und die dieser Rechnung tragende Analysemethode.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Begehren geht durch die Ohren
Auf Sendung: Roland Barthes' Reportagen aus der Welt seiner Lektüren / Von Hanns Zischler
Auf seiner nächtlichen Wanderung von Dresden nach Prag entdeckte 1571 der dänische Astronom und Astrologe Tycho de Brahe einen neuen Stern am Himmel. Er kannte die Sterne und Sternbilder so gut, daß dieser eine, unbekannte ihm sofort ins Auge fiel. De Brahe war ein Leser und Zeichendeuter, wie Roland Barthes ihn sich geträumt hat.
Mit nicht nachlassender Sorgfalt und Lust durchstreift der Semiologe die Reproduktionen und Repräsentationen des Wirklichen auf der Suche nach jenen diskontinuierlichen Partikeln, welche wir Zeichen nennen. Barthes gibt Auskunft, und kraft der besonderen Begabung seiner Rede, einer durch und durch erotischen Rede, macht er uns gewissermaßen sotto voce mit den Paradoxa und den Dichotomien des Geschriebenen und des Gesprochenen vertraut. Nie hat er ungezwungener als in diesen Reportagen aus der Welt seiner Lektüren dargelegt, was ihn reizt und irritiert nicht nur an "seinen" Gegenständen der Schrift und der Sprache, sondern an der Schrift selbst. "Die Schrift, das ist die Hand, also der Körper: seine Triebe, seine Kontrollen, seine Rhythmen, seine Gewichte, sein Gleiten, seine Komplikationen, seine Ausflüchte, kurz, nicht die Seele (ungeachtet der Graphologie), sondern das mit seinem Begehren und seinem Unbewußten befrachtete Subjekt." Nicht zufällig fallen diese Äußerungen im Zusammenhang mit Proust, den er "ein vollständiges Lektüresystem der Welt" nennt. Proust (und Joubert), so stellt Barthes fest, werden nicht gelesen, sondern immer schon wiedergelesen. Tatsächlich hat Barthes zusammen mit einem befreundeten Journalisten das Experiment einer peripatetischen Verzauberung unternommen, indem er, von den Fragen des Freundes angeregt, durch das Paris von Proust spaziert und sich einer nicht enden wollenden Fülle von Assoziationen, Anekdoten und Leseerinnerungen überläßt. Leider ist dieses Gespräch, aus rechtlichen Gründen, nie gedruckt, sondern lediglich einmal im französischen Rundfunk gesendet worden. An dieser "Sendung" im mehrfachen Sinn hätte man das Beispiel jener Körnung der Stimme im Ohr, die nach Barthes eine "erotische Beziehung zwischen der Stimme und dem, der sie hört", beinhaltet.
Ideologiekritik mit leichter Hand - darin ist Barthes in diesen Interviews Meister. Vieles klingt für uns heute vertraut (weniges ist veraltet), und die apodiktische Leichtigkeit, mit welcher der Zeichen- und Spurenleser seine Beobachtungen vorträgt, überrascht noch immer: "Unter dem doppelten Eindruck der Politiker und der Intellektuellen sind es Positionen (und ihre Darlegung), die heute avantgardistisch sind, und nicht mehr unbedingt die Werke", stellt er 1974 fest. Mitunter sind es ganze Entwürfe dessen, was später Medientheorie heißen wird, die Barthes dem Kultur-, vor allem dem Literaturbetrieb ablauscht.
Mit gesteigerter Aufmerksamkeit und entsprechend hochentwickelter begrifflicher Unterscheidung begegnet Barthes jenen Phänomenen, die aus ihrer angestammten und ihm vertrauten Sphäre (Rhetorik) in eine scheinbar fremde gleiten, gewissermaßen dort auswildern (Kinematographie). Er formuliert die dem Wunsch innewohnende Enttäuschung gleich mit, wenn er, in einem Gespräch mit den "Cahiers du Cinéma" 1963 feststellt: "Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren." Bei aller theoretischen Absicherung blendet Barthes die subjektive Seite des Kinogängers, sein eigenes Kinogehen, nicht aus. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität - was für Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte -, dies findet er im Kino wieder.
Es gibt von Barthes keine Theoriegebäude, die sich architektonisch und ideologisch von andern abgrenzen würden - wie jene zahlreichen "Kapellen", deren Ruinen wir heute in Frankreich besichtigen können. Was aber nicht heißt, daß sein Einfluß auf die intellektuelle und die ästhetische Diskussion der sechziger und siebziger Jahre in Frankreich nicht maßgeblich durch seine diskreten und klug gestreuten Texte mitbestimmt wurde. Die in diesem Band versammelten Interviews - sie sind erfreulich unterschiedlich, was Tiefe und Gewichtung angeht - legen Zeugnis ab nicht nur für Barthes' euphorischen, stilsicheren Duktus und sein Vermögen, sozusagen aus dem Stegreif zu schreiben, sondern entfalten im Rückblick auf die zwei Jahrzehnte von 1960 bis 1980 das Panorama ungewöhnlich reicher ästhetischer und politischer Debatten.
So verwundert es nicht, wenn Barthes Proust und Brecht zu seinen wichtigsten Autoren rechnet: Diesen, weil er trotz der ideologischen Befrachtung seines Denkens zu einer luziden Sprache der Paradoxe und des Scheiterns fähig war; jenen, weil er wie ein inwendiger Fixstern das Leben der Sprache (und mithin der Erinnerung) zu regieren vermag wie kein anderer. Der Vergleich mit Walter Benjamin drängt sich auf, "Werther" kommt hinzu, der Barthes' "Fragmente einer Sprache der Liebe" regiert. (Besonders aufschlußreich hierzu das Interview mit dem "Playboy", 1977.) Barthes liest Brecht als den Erneuerer des Theaters, liest ihn historisch und semiologisch und im Hinblick auf das, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft an Sinnverschiebung möglich war, Benjamin liest ihn geschichtsphilosophisch.
Mehrfach spricht Barthes über die Fotografie, zu der er am Ende seines Lebens, wie er ausdrücklich feststellt, "eine Bemerkung" verfaßt hat. Die Fotografie stellte aus persönlichen und theoretischen Gründen eine enorme Herausforderung für ihn dar, drohte sie doch als zeichenloses Analogon der Wirklichkeit dem Semiotiker immer wieder zu entgleiten. Einen Gedanken von Francis Ponge aufgreifend, bemerkt er: "Wenn man in einer ernsthaften Weise von der Fotografie sprechen will, muß man sie in Beziehung zum Tod setzen. Sie ist Zeuge dessen, was nicht mehr ist." Die Arbeit des Schriftstellers opponiert unter diesem Gesichtspunkt gegen die Fotografie. Gefragt, im letzten Interview vor seinem Unfalltod, was ihn veranlasse, weiterhin zu schreiben, antwortete Roland Barthes: "Das Schreiben ist ein Verfahren der Fortpflanzung. Es stellt ganz einfach eine Art und Weise dar, das Gefühl des Todes und der allumfassenden Vernichtung zu bekämpfen und zu bezwingen. Trotz allem streut man beim Schreiben Keime aus; man mag sich vorstellen, daß man so etwas wie Samen ausstreut und folglich in den allgemeinen Kreislauf der Samen eintritt."
Roland Barthes: "Die Körnung der Stimme". edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002. 300 S., br., 14,- [Euro].
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Auf Sendung: Roland Barthes' Reportagen aus der Welt seiner Lektüren / Von Hanns Zischler
Auf seiner nächtlichen Wanderung von Dresden nach Prag entdeckte 1571 der dänische Astronom und Astrologe Tycho de Brahe einen neuen Stern am Himmel. Er kannte die Sterne und Sternbilder so gut, daß dieser eine, unbekannte ihm sofort ins Auge fiel. De Brahe war ein Leser und Zeichendeuter, wie Roland Barthes ihn sich geträumt hat.
Mit nicht nachlassender Sorgfalt und Lust durchstreift der Semiologe die Reproduktionen und Repräsentationen des Wirklichen auf der Suche nach jenen diskontinuierlichen Partikeln, welche wir Zeichen nennen. Barthes gibt Auskunft, und kraft der besonderen Begabung seiner Rede, einer durch und durch erotischen Rede, macht er uns gewissermaßen sotto voce mit den Paradoxa und den Dichotomien des Geschriebenen und des Gesprochenen vertraut. Nie hat er ungezwungener als in diesen Reportagen aus der Welt seiner Lektüren dargelegt, was ihn reizt und irritiert nicht nur an "seinen" Gegenständen der Schrift und der Sprache, sondern an der Schrift selbst. "Die Schrift, das ist die Hand, also der Körper: seine Triebe, seine Kontrollen, seine Rhythmen, seine Gewichte, sein Gleiten, seine Komplikationen, seine Ausflüchte, kurz, nicht die Seele (ungeachtet der Graphologie), sondern das mit seinem Begehren und seinem Unbewußten befrachtete Subjekt." Nicht zufällig fallen diese Äußerungen im Zusammenhang mit Proust, den er "ein vollständiges Lektüresystem der Welt" nennt. Proust (und Joubert), so stellt Barthes fest, werden nicht gelesen, sondern immer schon wiedergelesen. Tatsächlich hat Barthes zusammen mit einem befreundeten Journalisten das Experiment einer peripatetischen Verzauberung unternommen, indem er, von den Fragen des Freundes angeregt, durch das Paris von Proust spaziert und sich einer nicht enden wollenden Fülle von Assoziationen, Anekdoten und Leseerinnerungen überläßt. Leider ist dieses Gespräch, aus rechtlichen Gründen, nie gedruckt, sondern lediglich einmal im französischen Rundfunk gesendet worden. An dieser "Sendung" im mehrfachen Sinn hätte man das Beispiel jener Körnung der Stimme im Ohr, die nach Barthes eine "erotische Beziehung zwischen der Stimme und dem, der sie hört", beinhaltet.
Ideologiekritik mit leichter Hand - darin ist Barthes in diesen Interviews Meister. Vieles klingt für uns heute vertraut (weniges ist veraltet), und die apodiktische Leichtigkeit, mit welcher der Zeichen- und Spurenleser seine Beobachtungen vorträgt, überrascht noch immer: "Unter dem doppelten Eindruck der Politiker und der Intellektuellen sind es Positionen (und ihre Darlegung), die heute avantgardistisch sind, und nicht mehr unbedingt die Werke", stellt er 1974 fest. Mitunter sind es ganze Entwürfe dessen, was später Medientheorie heißen wird, die Barthes dem Kultur-, vor allem dem Literaturbetrieb ablauscht.
Mit gesteigerter Aufmerksamkeit und entsprechend hochentwickelter begrifflicher Unterscheidung begegnet Barthes jenen Phänomenen, die aus ihrer angestammten und ihm vertrauten Sphäre (Rhetorik) in eine scheinbar fremde gleiten, gewissermaßen dort auswildern (Kinematographie). Er formuliert die dem Wunsch innewohnende Enttäuschung gleich mit, wenn er, in einem Gespräch mit den "Cahiers du Cinéma" 1963 feststellt: "Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren." Bei aller theoretischen Absicherung blendet Barthes die subjektive Seite des Kinogängers, sein eigenes Kinogehen, nicht aus. Der in der Schwebe gelassene Sinn, die Produktion von Ambiguität - was für Barthes Brecht im Theater geleistet hat, indem er die Sinnfrage zwischen Bühne und Zuschauerraum neu verteilte -, dies findet er im Kino wieder.
Es gibt von Barthes keine Theoriegebäude, die sich architektonisch und ideologisch von andern abgrenzen würden - wie jene zahlreichen "Kapellen", deren Ruinen wir heute in Frankreich besichtigen können. Was aber nicht heißt, daß sein Einfluß auf die intellektuelle und die ästhetische Diskussion der sechziger und siebziger Jahre in Frankreich nicht maßgeblich durch seine diskreten und klug gestreuten Texte mitbestimmt wurde. Die in diesem Band versammelten Interviews - sie sind erfreulich unterschiedlich, was Tiefe und Gewichtung angeht - legen Zeugnis ab nicht nur für Barthes' euphorischen, stilsicheren Duktus und sein Vermögen, sozusagen aus dem Stegreif zu schreiben, sondern entfalten im Rückblick auf die zwei Jahrzehnte von 1960 bis 1980 das Panorama ungewöhnlich reicher ästhetischer und politischer Debatten.
So verwundert es nicht, wenn Barthes Proust und Brecht zu seinen wichtigsten Autoren rechnet: Diesen, weil er trotz der ideologischen Befrachtung seines Denkens zu einer luziden Sprache der Paradoxe und des Scheiterns fähig war; jenen, weil er wie ein inwendiger Fixstern das Leben der Sprache (und mithin der Erinnerung) zu regieren vermag wie kein anderer. Der Vergleich mit Walter Benjamin drängt sich auf, "Werther" kommt hinzu, der Barthes' "Fragmente einer Sprache der Liebe" regiert. (Besonders aufschlußreich hierzu das Interview mit dem "Playboy", 1977.) Barthes liest Brecht als den Erneuerer des Theaters, liest ihn historisch und semiologisch und im Hinblick auf das, was innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft an Sinnverschiebung möglich war, Benjamin liest ihn geschichtsphilosophisch.
Mehrfach spricht Barthes über die Fotografie, zu der er am Ende seines Lebens, wie er ausdrücklich feststellt, "eine Bemerkung" verfaßt hat. Die Fotografie stellte aus persönlichen und theoretischen Gründen eine enorme Herausforderung für ihn dar, drohte sie doch als zeichenloses Analogon der Wirklichkeit dem Semiotiker immer wieder zu entgleiten. Einen Gedanken von Francis Ponge aufgreifend, bemerkt er: "Wenn man in einer ernsthaften Weise von der Fotografie sprechen will, muß man sie in Beziehung zum Tod setzen. Sie ist Zeuge dessen, was nicht mehr ist." Die Arbeit des Schriftstellers opponiert unter diesem Gesichtspunkt gegen die Fotografie. Gefragt, im letzten Interview vor seinem Unfalltod, was ihn veranlasse, weiterhin zu schreiben, antwortete Roland Barthes: "Das Schreiben ist ein Verfahren der Fortpflanzung. Es stellt ganz einfach eine Art und Weise dar, das Gefühl des Todes und der allumfassenden Vernichtung zu bekämpfen und zu bezwingen. Trotz allem streut man beim Schreiben Keime aus; man mag sich vorstellen, daß man so etwas wie Samen ausstreut und folglich in den allgemeinen Kreislauf der Samen eintritt."
Roland Barthes: "Die Körnung der Stimme". edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002. 300 S., br., 14,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Interviews mit Schriftstellern unterliegen grundsätzlich der Gefahr, Verdoppelung zu betreiben, wirft Andreas Bernard in die Diskussion: etwas zu beschreiben, was schon beschrieben ist. Roland Barthes war sich dessen bewusst, sagt er und zitiert ihn mit den Worten: "Was ich habe sagen wollen, konnte ich nicht besser als schreibend sagen." Sinn macht für Bernard ein Schriftsteller-Interview nur, wenn es an die "stillschweigenden Voraussetzungen" des Schreibens, die Position des Autors rührt. Nun sei Barthes ein Autor gewesen, der extrem zwischen den Schreibweisen "oszillierte", stellt Bernard fest, weshalb die meisten Frager am Ende ihres Interviews alle mit dergleichen Frage bei Barthes scheiterten: ob er nicht von einem bestimmten Zeitpunkt an literarische statt wissenschaftlicher Texte produziert habe? Ein verbindliches Bekenntnis zur Literaturproduktion von Barthes gab es nicht, stellt Bernard klar. Immer wieder hätte Barthes auf den prekären Status des Erzählers verwiesen, dabei seine eigenen Begriffe und Definitionen einer Revision unterzogen, eine Haltung, aus der sich schließlich auch Barthes semiotische Ethik erschließen lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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