Die Hauptpersonen dieses stimmungsvollen Romans sind Neufundland, Joe Smallwood, der eine politische Karriere macht und Sheilagh Fielding, eine anerkannte Kolumnistin. Eine tiefe, unerfüllte Liebe verbindet alle drei miteinander. Ihre Geschichte ist eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und mit ihren unerfüllten Träumen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.1999Eingesalzen in Neufundland
Wayne Johnston bereist eine "Kolonie der unerfüllten Träume"
Was darf man von einem Neufundland-Epos erwarten? Der Klappentext sagt es: "unvergessliche Beschreibungen einer weiten, windzerrissenen Landschaft"; "raue Schönheit" erfreut den Blick, auch wenn die Menschen mit ihren "ärmlichen Lebensbedingungen" und regional bedingten Komplexen zu kämpfen haben, etwa dem, in einem zurückgebliebenen Weltwinkel zu leben.
Joe Smallwood, der Held von Wayne Johnstons Roman "Die Kolonie der unerfüllten Träume", wäre demnach so neufundländisch wie der entbehrungsreiche Titel. Joes Lebensgeschichte, die vom Jahr 1990 bis nahe an die Gegenwart reicht und von ihm selbst erzählt wird, steht im Zeichen der Kompensation. Er ist ein Junge von geradezu programmatischem Untergewicht. Sein beruflich gescheiterter Vater wandert betrunken im Haus umher und hält "flammende Reden"; die Familie muss unterdessen in immer schäbigere Gegenden umziehen. In der Schule misstraut man dem Kind aus schlechten Verhältnissen, erst recht, wenn es gute Leistungen bringt. Am meisten macht ihm die Charakter-Note zu schaffen. Sie prägt das Gefühl der Unzulänglichkeit fürs Leben ein: 45 von 500 möglichen Punkten. Am Ende eines langen Romans aber hat Joe Smallwood es zu etwas gebracht. Er ist Premierminister geworden, dank der Redebegabung, die schon der Vater erkennen ließ.
Ist diese erstaunliche Karriere vor windzerrissener Landschaft eine "mitreißende Geschichte"? Zunächst muss gesagt werden, dass die Landschaftsbeschreibungen tatsächlich bemerkenswert sind. Auch die atmosphärisch dichte Darstellung neufundländischen Lebens am Beginn des Jahrhunderts ist beeindruckend. Man erfährt, wie es riecht und tönt und aussieht in einer kleinen, abgelegenen Hafenstadt, wo auf jeder freien Fläche gesalzene Dorsche vor sich hin trocknen. Das Leben auf den Robbenfängerschiffen wird beschrieben; Smallwood fährt als junger Reporter mit, eine komisch zerbrechliche Figur zwischen raubeinigen Männern. Seine Erlebnisse - die widerlichen Verhältnisse an Bord, die elende Schlächterarbeit und eine Umweltkatastrophe, bei der durch Verschulden des Kapitäns ein Drittel der Mannschaft im Eis umkommt - bestärken ihn in der Überzeugung, dass Neufundland nur durch den Sozialismus zu retten ist.
Er geht nach New York, um dort für eine linke Zeitung zu arbeiten. Sehr metropolentüchtig ist er nicht, vieles geht schief, und er landet bei einem frömmlerischen Heimwehblättchen für emigrierte Neufundländer. Nach der Rückkehr macht er sich daran, die Bahnarbeiter zu organisieren. Gewerkschaftsarbeit mag kein leichtgängiger Gegenstand für einen Roman sein, aber hier wird doch etwas Belletristisches daraus. Smallwood wandert alle Bahnlinien Neufundlands ab, um die Streckenwärter für seine Sache zu gewinnen. Dieser Marsch durch die Einöde - den Wärtern ist kaum einsichtig zu machen, was eine Gewerkschaft ist, ihre Frauen päppeln den dürren Aktivisten mit Fischgerichten, die der größte Hunger nicht schmackhaft macht - gehört zu den gelungensten Partien des Buches.
Wayne Johnston erzählt unbekümmert altmodisch, als habe es nach Dickens tatsächlich, wie Joe in der Schule lernt, "keinen lesenswerten Roman mehr gegeben". Mitunter beweist der Autor sogar einen verschmitzten Humor, der an Hamsun denken lässt. Spätestens ab der Mitte des Buches stößt er jedoch an seine Grenzen. Für die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts besitzt er kein darstellerisches Instrumentarium. Die wenig glückliche Idee, den Lebensweg Smallwoods vom Außenseitertum in die öffentliche Sphäre der Politik zu führen, macht diesen Mangel nur überdeutlich.
Der Erzählton des Arrivierten klingt blechern wie ein Schulaufsatz: "Ich hatte die Wahl mit überwältigender Mehrheit gewonnen und regierte die Provinz mit eiserner Faust." Premierminister Smallwood ist bei der Bevölkerung sehr beliebt, obwohl er fast alles falsch macht, Millionen verschwendet und sein Land von Betrügern, Beratern und Experten ausnehmen lässt. Das politische Leben Neufundlands hat vermutlich öfter die Züge einer Provinzposse besessen. Zu einer wirkungsvollen literarischen Posse reichen die Komik und die Pointierung der Darstellung aber nicht aus. Es ist nur gerade so viel Unsinn, dass der Leser befremdet weiterblättert.
Nichts stimmt mehr. Wenn das Buch eine fiktive Politiker-Biographie sein soll, dann passt der lange epische Vorlauf der Kindheitsgeschichte nicht zur Beiläufigkeit, mit der nun große Begegnungen behauptet werden: "Oft rühmte ich mich, dass ich mit Truman gesprochen, Churchills Hand geschüttelt und mich mit Gandhi hatte fotografieren lassen." Dieses Missverhältnis hat auch der Autor bemerkt. Er bemüht sich deshalb, die Jugenderinnerungen mit den späteren Partien durch eine Intrige zu verklammern. Ein kleiner Skandal aus der Schulzeit erhält plötzlich zentrale Bedeutung und wird von den Protagonisten mit wachsendem Abstand immer hartnäckiger wiedergekäut. Die mühsame Rekonstruktion des "schrecklichen Geheimnisses", das zum Gähnen des Lesers immer komplizierter wird, beschäftigt den Premier am Ende mehr als alle Politik: nach vierzig Jahren endlich einmal klären, was damals in der Neunten passiert ist.
Die Intrige ist mit einer lebenslang verschleppten Liebesgeschichte verquickt. Smallwood und die Journalistin Sheilagh Fielding mögen sich heimlich schon seit Kindheitstagen. Sie ist eine Frau mit messerscharfem Verstand; aus ihrer fiktiven Feder stammt ein häppchenweise in den Roman eingestreuter Abriss der Geschichte Neufundlands, dessen um Sarkasmus ringender Witz wohl nur Einheimischen Vergnügen bereitet; Nicht-Neufundländer blättern hier am besten weiter. Als repräsentative Gattin kommt Sheilagh Fielding nicht in Frage. Denn sie hat eine Körperbehinderung, ein Bein ist verkrüppelt. Und sie ist gezeichnet von jahrzehntelangem Alkoholismus. Johnston hat also übliche Klischees, mit denen Autoren die Attraktivität ihrer weiblichen Hauptfiguren beglaubigen, konsequent vermieden. Um so merkwürdiger muten dann aber die hilflos konventionellen Schilderungen von Joes Begehren an. Einmal rutscht der Betrunkenen der Rock hoch, "was mir einen genaueren Blick auf weibliche Unterwäsche gewährte, als ihn mir meine Frau je gestattet hatte. Nach einer Weile kam ich wieder zu Sinnen." Das sind so Glücksmomente. Am Ende fällt man sich in die Arme: "Vierzig Jahre Liebe fanden ihre Erfüllung in dieser einen Umarmung." Liebe lohnt eben immer. Aber den Riss, der durch diesen Roman geht, können solche Umarmungen nicht heilen.
WOLFGANG SCHNEIDER.
Wayne Johnston: "Die Kolonie der unerfüllten Träume". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Steckhan, Maria Zybak, Robert A. Weiß. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 560 S. geb., 44,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wayne Johnston bereist eine "Kolonie der unerfüllten Träume"
Was darf man von einem Neufundland-Epos erwarten? Der Klappentext sagt es: "unvergessliche Beschreibungen einer weiten, windzerrissenen Landschaft"; "raue Schönheit" erfreut den Blick, auch wenn die Menschen mit ihren "ärmlichen Lebensbedingungen" und regional bedingten Komplexen zu kämpfen haben, etwa dem, in einem zurückgebliebenen Weltwinkel zu leben.
Joe Smallwood, der Held von Wayne Johnstons Roman "Die Kolonie der unerfüllten Träume", wäre demnach so neufundländisch wie der entbehrungsreiche Titel. Joes Lebensgeschichte, die vom Jahr 1990 bis nahe an die Gegenwart reicht und von ihm selbst erzählt wird, steht im Zeichen der Kompensation. Er ist ein Junge von geradezu programmatischem Untergewicht. Sein beruflich gescheiterter Vater wandert betrunken im Haus umher und hält "flammende Reden"; die Familie muss unterdessen in immer schäbigere Gegenden umziehen. In der Schule misstraut man dem Kind aus schlechten Verhältnissen, erst recht, wenn es gute Leistungen bringt. Am meisten macht ihm die Charakter-Note zu schaffen. Sie prägt das Gefühl der Unzulänglichkeit fürs Leben ein: 45 von 500 möglichen Punkten. Am Ende eines langen Romans aber hat Joe Smallwood es zu etwas gebracht. Er ist Premierminister geworden, dank der Redebegabung, die schon der Vater erkennen ließ.
Ist diese erstaunliche Karriere vor windzerrissener Landschaft eine "mitreißende Geschichte"? Zunächst muss gesagt werden, dass die Landschaftsbeschreibungen tatsächlich bemerkenswert sind. Auch die atmosphärisch dichte Darstellung neufundländischen Lebens am Beginn des Jahrhunderts ist beeindruckend. Man erfährt, wie es riecht und tönt und aussieht in einer kleinen, abgelegenen Hafenstadt, wo auf jeder freien Fläche gesalzene Dorsche vor sich hin trocknen. Das Leben auf den Robbenfängerschiffen wird beschrieben; Smallwood fährt als junger Reporter mit, eine komisch zerbrechliche Figur zwischen raubeinigen Männern. Seine Erlebnisse - die widerlichen Verhältnisse an Bord, die elende Schlächterarbeit und eine Umweltkatastrophe, bei der durch Verschulden des Kapitäns ein Drittel der Mannschaft im Eis umkommt - bestärken ihn in der Überzeugung, dass Neufundland nur durch den Sozialismus zu retten ist.
Er geht nach New York, um dort für eine linke Zeitung zu arbeiten. Sehr metropolentüchtig ist er nicht, vieles geht schief, und er landet bei einem frömmlerischen Heimwehblättchen für emigrierte Neufundländer. Nach der Rückkehr macht er sich daran, die Bahnarbeiter zu organisieren. Gewerkschaftsarbeit mag kein leichtgängiger Gegenstand für einen Roman sein, aber hier wird doch etwas Belletristisches daraus. Smallwood wandert alle Bahnlinien Neufundlands ab, um die Streckenwärter für seine Sache zu gewinnen. Dieser Marsch durch die Einöde - den Wärtern ist kaum einsichtig zu machen, was eine Gewerkschaft ist, ihre Frauen päppeln den dürren Aktivisten mit Fischgerichten, die der größte Hunger nicht schmackhaft macht - gehört zu den gelungensten Partien des Buches.
Wayne Johnston erzählt unbekümmert altmodisch, als habe es nach Dickens tatsächlich, wie Joe in der Schule lernt, "keinen lesenswerten Roman mehr gegeben". Mitunter beweist der Autor sogar einen verschmitzten Humor, der an Hamsun denken lässt. Spätestens ab der Mitte des Buches stößt er jedoch an seine Grenzen. Für die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts besitzt er kein darstellerisches Instrumentarium. Die wenig glückliche Idee, den Lebensweg Smallwoods vom Außenseitertum in die öffentliche Sphäre der Politik zu führen, macht diesen Mangel nur überdeutlich.
Der Erzählton des Arrivierten klingt blechern wie ein Schulaufsatz: "Ich hatte die Wahl mit überwältigender Mehrheit gewonnen und regierte die Provinz mit eiserner Faust." Premierminister Smallwood ist bei der Bevölkerung sehr beliebt, obwohl er fast alles falsch macht, Millionen verschwendet und sein Land von Betrügern, Beratern und Experten ausnehmen lässt. Das politische Leben Neufundlands hat vermutlich öfter die Züge einer Provinzposse besessen. Zu einer wirkungsvollen literarischen Posse reichen die Komik und die Pointierung der Darstellung aber nicht aus. Es ist nur gerade so viel Unsinn, dass der Leser befremdet weiterblättert.
Nichts stimmt mehr. Wenn das Buch eine fiktive Politiker-Biographie sein soll, dann passt der lange epische Vorlauf der Kindheitsgeschichte nicht zur Beiläufigkeit, mit der nun große Begegnungen behauptet werden: "Oft rühmte ich mich, dass ich mit Truman gesprochen, Churchills Hand geschüttelt und mich mit Gandhi hatte fotografieren lassen." Dieses Missverhältnis hat auch der Autor bemerkt. Er bemüht sich deshalb, die Jugenderinnerungen mit den späteren Partien durch eine Intrige zu verklammern. Ein kleiner Skandal aus der Schulzeit erhält plötzlich zentrale Bedeutung und wird von den Protagonisten mit wachsendem Abstand immer hartnäckiger wiedergekäut. Die mühsame Rekonstruktion des "schrecklichen Geheimnisses", das zum Gähnen des Lesers immer komplizierter wird, beschäftigt den Premier am Ende mehr als alle Politik: nach vierzig Jahren endlich einmal klären, was damals in der Neunten passiert ist.
Die Intrige ist mit einer lebenslang verschleppten Liebesgeschichte verquickt. Smallwood und die Journalistin Sheilagh Fielding mögen sich heimlich schon seit Kindheitstagen. Sie ist eine Frau mit messerscharfem Verstand; aus ihrer fiktiven Feder stammt ein häppchenweise in den Roman eingestreuter Abriss der Geschichte Neufundlands, dessen um Sarkasmus ringender Witz wohl nur Einheimischen Vergnügen bereitet; Nicht-Neufundländer blättern hier am besten weiter. Als repräsentative Gattin kommt Sheilagh Fielding nicht in Frage. Denn sie hat eine Körperbehinderung, ein Bein ist verkrüppelt. Und sie ist gezeichnet von jahrzehntelangem Alkoholismus. Johnston hat also übliche Klischees, mit denen Autoren die Attraktivität ihrer weiblichen Hauptfiguren beglaubigen, konsequent vermieden. Um so merkwürdiger muten dann aber die hilflos konventionellen Schilderungen von Joes Begehren an. Einmal rutscht der Betrunkenen der Rock hoch, "was mir einen genaueren Blick auf weibliche Unterwäsche gewährte, als ihn mir meine Frau je gestattet hatte. Nach einer Weile kam ich wieder zu Sinnen." Das sind so Glücksmomente. Am Ende fällt man sich in die Arme: "Vierzig Jahre Liebe fanden ihre Erfüllung in dieser einen Umarmung." Liebe lohnt eben immer. Aber den Riss, der durch diesen Roman geht, können solche Umarmungen nicht heilen.
WOLFGANG SCHNEIDER.
Wayne Johnston: "Die Kolonie der unerfüllten Träume". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Steckhan, Maria Zybak, Robert A. Weiß. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 560 S. geb., 44,90 DM.
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